Ein halb verdursteter Mann irrt orientierungslos durch die texanische Wüste. Er hat scheinbar die Sprache verloren und wird von einem Provinz-Doc in Devil’s Graveyard notdürftig und eher widerwillig betreut.
Der Arzt alarmiert Travis’, so heißt der Fremde, Bruder Walt, der aus dem fernen Los Angeles anreist, um seinen tot geglaubten Verwandten abzuholen. Auf dem Weg zurück findet Travis seine Sprache wieder. Walt und seine Frau Anne haben Travis’ mittlerweile siebenjährigen Sohn Hunter aufgenommen und sind als Ersatzeltern eingesprungen.
In Los Angeles angekommen, will sich Travis seinem Sohn emotional nähern. Und es gelingt ihm tatsächlich, eine Verbindung herzustellen. Beide begeben sich auf die Suche nach Jane, Travis’ Ex-Frau und Hunters Mutter …
Der Albtraum lässt Wim Wenders nicht los. Der Albtraum, dass sein Traum von Amerika in der Wirklichkeit nicht zu finden ist. Wie einst der Easy Rider sucht Wenders „Amerika, kann es aber nirgends mehr finden“. Während aber Dennis Hopper und Peter Fonda ein Amerika suchten, das sie selbst als Kinder (wahrscheinlich) erlebt hatten, sucht Wenders eines, das er in John Fords Western, in Howard Hawks Gangsterfilmen und Don Siegels Polizeifilmen erlebt hat.
Mit "Paris, Texas" demontiert er seinen Traum in einer stilistisch strengen Regiearbeit, die den Traum konserviert und dann im Dunkel zurücklässt. Der Filmtitel ist selbst der Titel dieses Traumes. In diesem staubigen Ort im texanischen Nirgendwo hatte Travis ein Stück Land gekauft. Hier, glaubt er, könne er mit seinem blonden Mädchen und dem gemeinsamen Kind eine Zukunft aufbauen. Aber das war schon damals nur ein Traum, der durch keinerlei Fakten gedeckt war, wie wir im Laufe des Films in einem langen Gespräch in einer grotesken Peepshowkabine erfahren; das junge Paar – in dem sie sehr jung und er schon nicht mehr ganz frisch, dafür aber Trinker war – ist über ein Leben im Trailerpark mit gelegentlichen Jobs nie hinausgekommen; schon damals versperrte die Realität des kapitalistischen Alltags jeden Traum.
Als wir Travis kennenlernen, marschiert er strammen Schrittes durch die Wüste – den Big-Bend-Nationalpark an der Grenze zu Mexiko. Die Gegend erinnert ans Monument Valley, in dem John Ford viele seiner Western gedreht hat. Wenders entwirft großartige Panoramen seines amerikanischen Traums und füllt sie mit satten Farben. Travis trägt eine knallrote Basecap. Sein Bruder eine senfgelbe Windjacke, das Gras schwingt knallgrün im Wind unter einem knickblauen Himmel. Es ist eine unendlich weite Landschaft, in der sich weiß-rote Windräder drehen und schmucke Motels mit frisch lackierten weißen Holzwänden und hübschen blauen und grünen Einrahmungen stehen. Dazu zupft Ry Cooder für den Score unendliche Melancholie aus seiner Gitarre, deren traurige Klänge aus den Boxen tropfen.
Aber die Menschen leben nicht in diesem Traum. Selbst in den genannten Motels scheint es keine Mitarbeiter am Empfang zu geben. Die Menschen leben in den Städten, die Wenders als seelenlose, bis an den Horizont reichende graue Flächen inszeniert, in denen der Lärm von nach Woanders hin startenden Flugzeugen alles übertönt. Travis' Bruder wohnt auf einer Anhöhe über Los Angeles, dieser grauen Fläche bei Tag und diesem Schachbrett aus Neonlichtern bei Nacht, mit freiem Blick auf diesen Flughafen. Aber im Haus ist alles eng, klein. Robby Müllers Kamera findet kaum Platz in dieser US-amerikanischen Realität abseits der "Dallas"- und "Denver Clan"-Paläste, die uns das Fernsehen heutzutage als Amerika präsentiert.
In dieser Enge bekommen wir einen ersten Eindruck von dem, was gewesen ist, bevor es Travis, Jane und beider Sohn Hunter, der heute bei Travis' Bruder lebt, auseinander gerissen hat. Denn dieser spezielle Albtraum ist für den Zuschauer bisher verborgen. In einem sonnigen, ordentlich verkratzen Super-8-Film können wir erahnen, dass es da doch mal eine Familie mit Zukunft gegeben hat. Immer noch hat Travis diesen Traum von einem eigenen Haus im texanischen Paris. Als Walt seinen Bruder Travis in der texanischen Wüste aufgabelt, spricht der tagelang kein Wort. Und das erste Wort, das er dann sagt, ist „Paris“. Er erwacht da langsam aus so etwas wie einem lebendigen, aber wortlosen Wachkoma, dessen Auslöser vorerst verborgen bleibt. Harry Dean Stanton spielt diesen Schlafwandler kaum ("Repo Man" – 1984; Christine – 1983; "Einer mit Herz" – 1981; Die Klapperschlange – 1981; "Schütze Benjamin" – 1980; The rose – 1979; Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt – 1979; "Viel Rauch um Nichts" – 1978; Duell am Missouri – 1976; Fahr zur Hölle, Liebling – 1975; Der Pate 2 – 1974; Pat Garrett jagt Billy the Kid – 1973; Stoßtrupp Gold – 1970; Der Unbeugsame – 1967). Er leiht ihm seine kantige, anämische Physiognomie; dafür hat Wenders, der Schauspieler eher als Bildfüller als als Spieler einsetzt, ihn wohl auch geholt.
Weiter geht die Reise durch den amerikanischen Traum, in dem man einfach so einen Jungen von der Schule nimmt und mit ihm durch das halbe Land fährt, um die Mutter zu suchen. In dem alle gezeigten Menschen passiv in ihren Rollen bleiben, ohne aktiv am Leben um sie herum teilzunehmen, in dem 7-jährige Jungen ihren Pflegevater mit besorgtem Blick auf den wiedergefunden Vater altklug fragen: „Glaubst Du, er liebt sie immer noch?“
Und dann, endlich, kommt Travis' Traum seinem Höhepunkt nahe: Travis findet Jane wieder; Nastassja Kinski, das zweite Mal unter der Regie ihres Entdeckers Wenders, spielt sie gewohnt ätherisch mit mehr Hauch als Stimme ("Das Hotel New Hampshire" – 1984; Katzenmenschen – 1982; "Einer mit Herz" – 1981; "Tess" – 1979; "Bleib wie Du bist" – 1978; "Leidenschaftliche Blümchen" – 1978; Falsche Bewegung – 1975). Es folgt ein ganz intimer, stiller Dialog zweier Menschen, die sich lieben, oder geliebt haben, und die endlich bereit sind, zu reden. Diese Intimität, diesen Moment realer Gefühle inszeniert Wenders in der engen Kabine einer Peepshow. Es ist so eng, es ist so dunkel, dass die beiden Protagonisten, die sich durch eine halbdurchsichtige Scheibe mehr erahnen als wirklich sehen können, nicht einmal Gesicht zu Gesicht sich gegenüber sitzend inszeniert werden können. Die Realität intimer Liebe ist eine Peepshow-Kabine mit einer billigen Coffeeshop-Kulisse. Und dann bleibt vom Traum nichts übrig, als ein schmieriges 50er-Jahre-Hollywood in dem A Man has got to do what a Man has got to do. Travis bringt Mutter und Sohn zusammen. Aber anstatt mit beiden gemeinsam eine Zukunft in Paris, Texas zu bauen, setzt er sich in seinen – auch sehr amerikanischen – Pickup und fährt hinaus in die dunkle Nacht. „Ich kann Dich nicht sehen, Jane. Ich bin noch nicht so weit!“ Kein Traum mehr übrig.
Mal abgesehen davon, was für eine fragwürdige Botschaft das ist, dass ein Kind nur bei der leiblichen Mutter glücklich werden kann – egal, wie mittel- und chancenlos die ist – keinesfalls aber bei einer gut situierten Pflegemutter mit Familienanschluss: „Warum hast Du ihn nicht bei Dir behalten, Jane?“ „Ich konnte nicht, Travis. Ich habe gewusst, ich habe nicht das, was er brauchte. Ich wollte ihn nicht dazu benutzen, die Leere in meinem Leben auszufüllen.“ Auch da winken Hollywoods 50er-Jahre Moralisten.
"Paris, Texas" erinnert ein wenig an eine Neuübersetzung von Alice in den Städten, in dem Wenders vor zehn Jahren schon einmal seine Enttäuschung über das Amerika, das er nicht mehr finden konnte, als Roadmovie aufgearbeitet hat. Das Erzähltempo und die formale Strenge seiner Inszenierung machen den heutigen Film allerdings zugänglicher, nicht zuletzt wegen der großartigen Panoramen, die Robby Müller an der Kamera ins Bild setzt, die aussehen wie verfilmte Edward-Hopper-Panoramen. Die Menschen aber bleiben Funktionsfiguren, die Liebe verkörpern oder Suche, Fürsorglichkeit oder Naivität.
So, wie auch im Traum Menschen für Funktionen stehen, nicht für Menschen.
Die Kinofilme von Wim Wenders
Wilhelm Ernst "Wim" Wenders ist ein deutscher Regisseur und Fotograf. Zusammen mit anderen Autorenfilmern des Neuen Deutschen Films gründete er 1971 den Filmverlag der Autoren. Mit Filmen wie Paris, Texas oder Himmel über Berlin erreichte er ab den 1980er Jahren weltweite Bekanntheit.
Wenders sieht sich als „der Reisende und dann erst Regisseur oder Fotograf“. Von 1991 bis 1996 war Wenders Vorsitzender der Europäischen Filmakademie und ist seither deren Präsident. Außerdem war er von 2002 bis 2017 Professor für Film an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Zu seinem 75. Geburtstag im Jahr 2020 erschien die Dokumentation Wim Wenders, Desperado von Eric Friedler und Andreas "Campino" Frege, in der die Filmemacher die Ambivalenz zwischen europäischem und amerikanischem Kino (Wenders' Traumland) am Beispiel von Wim Wenders und Francis Ford Coppola analysieren.
- Summer in the City (1970)
- Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1972)
- Der scharlachrote Buchstabe (1973)
- Alice in den Städten (1974)
- Falsche Bewegung (1975)
- Im Lauf der Zeit (1976)
- Der amerikanische Freund (1977)
- Nick's Film – Lightning Over Water (1980)
- Hammett (1982)
- Der Stand der Dinge (1982)
- Paris, Texas (1984)
- Tokyo-Ga (1985)
- Himmel über Berlin (1987)
- Yamamoto – Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten (1989)
- Bis ans Ende der Welt (1991)
- In weiter Ferne, so nah! (1993)
- Lisbon Story (1994)
- Die Gebrüder Skladanowsky (1995)
- Am Ende der Gewalt (1997)
- Buena Vista Social Club (1999)
- The Million Dollar Hotel (2000)
- Viel passiert – Der BAP-Film (2002)
- Land of Plenty (2004)
- Don't come knocking (2005)
- Palermo Shooting (2008)
- Pina – tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren (2011)
- Das Salz der Erde (2015)
- Every Thing will be fine (2015)
- Die schönen Tage von Aranjuez (2016)
- Grenzenlos (2017)
- Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes (2018)
- Anselm – Das Rauschen der Zeit (2023)
- Perfect Days (2023)