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Plakatmotiv: Tokyo-Ga (1985)

Faszinierende Bilder aus einer fremden
Welt, in der plötzlich ein Mensch auftritt

Titel Tokyo-Ga
Drehbuch Wim Wenders
Regie Wim Wenders, USA, BRD 1985
Genre Dokumentation
Filmlänge 92 Minuten
Deutschlandstart
24. April 1985
Website wimwendersstiftung.de
Inhalt

Im Frühjahr 1983 reist Wim Wenders zusammen mit seinem Kameramann Ed Lachman nach Tokio, um den Spuren des 1963 verstorbenen Filmregisseurs und Chronisten der sich rasch verändernden japanischen Gesellschaft, Yasujiro Ozu, zu folgen.

In Gesprächen mit dem Schauspieler Chishu Ryu und dem Kameramann Yuharu Atsuta erkundet er Ozus Inszenierungsmethode und Kamerastil. Vor allem aber zeigt Wenders’ Film das Tokio der Gegenwart. In der Hoffnung, im Neuen Vertrautes zu finden, beobachtet er Menschen in Parks und in Spielhallen, im Golfstadion und bei der Herstellung von Lebensmittelattrappen aus Wachs …

Was zu sagen wäre

Nach etwas über einer Stunde strömt Emotionalität in diesen Film. Das ist kein Qualitätsmerkmal, eher eine nüchterne Erkenntnis. Wim Wenders reist nach Tokio, um Spuren eines japanischen Regisseurs zu finden und zu verfolgen, den im Westen nur Menschen kennen, die sich den ganzen Tag, also beruflich, mit dem Medium beschäftigen, der – oder dessen Filme – für Wim Wenders selbst aber eine große Bedeutung hatten, als wäre Yasujirō Ozu, der 1963 an seinem 60. Geburtstag starb, für Wenders eine Art Mentor, oder vielleicht der japanische Sensei, als dessen Schüler Wenders sich betrachtet.

Ozu persönlich kennengelernt hat Wenders nicht, offenbar aber seine Filme studiert, in denen er Meisterwerke der menschlichen Beobachtungsgabe erkennt: "Wenn es in unserem Jahrhundert noch Heiligtümer gäbe, wenn es so etwas gäbe wie das Heiligtum des Kinos, müsste das für mich das Werk des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu sein." In Ozus ab den 1920er-Jahren bis zu seinem Tod entstandenen Filmen wird kontinuierlich der zunehmende Wandel der japanischen Gesellschaft durch den zunehmenden Einfluss des Westens und die Technisierung der Gesellschaft beschrieben. Betrauert wird in Ozus Filmen zugleich der Zerfall der traditionellen und speziell japanischen Werte, insbesondere innerhalb des Familiengefüges. Das schreibe ich, weil es Wenders im Film so sagt. Ich kenne Ozus Werk nicht, verstehe jetzt aber besser, warum Wenders filmt wie Wenders filmt; warum in Wim-Wenders-Filmen die Eisenbahn eine so bildbestimmende Rolle spielt – wenn Wenders nicht gleich im Zug dreht (Falsche Bewegung – 1975; Die Angst des Tormanns beim Elfmeter – 1972), lässt er Züge durchs Bild rauschen (Der Stand der Dinge – 1982; Im Lauf der Zeit – 1976)

Ozus bekanntester Film sei "Die Reise nach Tokio" von 1953, heißt es im Film und Wenders sieht seinen Film als eine Art eigener Reise nach Tokio, die er als Tagebuch inszeniert. Er zeigt Tokyo-Ga, zu Deutsch "Bilder aus Tokio". Da passiert Bemerkenswertes. Wenders preist Ozus Filme dafür, dass sie zwar in Japan spielten, aber er, Wenders, die Figuren darin überall auf der Welt wiederkenne – in seiner Familie, seinem Freundes- oder Kollegenkreis, im Supermarkt; Ozus Figuren seien also allgemeingültig Menschen, keine Kunstfiguren aus dem Elfenbeinturm eines japanischen Filmemachers. Plakatmotiv: Tokyo-Ga (1985)Wenders selbst aber bleibt mit der Kamera seines Kameramannes Ed Lachmann den Menschen in Tokio fern. Die Kamera rückt ihnen zwar auf die Pelle, sie bleiben aber stumme Statisten in den Augen eines Bildermenschen, der zum ersten Mal nach Tokio kommt, das er vor allem aus Filmen zu kennen scheint, die mindestens 20 Jahre alt, meistens älter sind. Die in Ozus Kino offenbar so lebendigen Menschen werden bei Wenders zur Staffage einer Hochhauskulisse zwischen Neon, seltsamen Glücksspielautomaten und aus Wachs gegossenen Lebensmittelimitationen. Immerzu imitieren Mensch und Maschine in diesem Film das Leben, aber sie leben es nicht.

Da sitzen einsame, rauchende Männer in lärmenden Pachinko-Hallen, wo sie kleine Stahlkugeln durch Glücksspielautomaten jagen, um diese über Stunden zu mehren, damit sie sich später Nippesfigürchen als Trophäen abholen können. Wenders zeigt hier nahezu hypnotisierte Männer wie im Drogendelirium, Männer die Vergessen aus ihrem Alltag suchen, und sagt, dieses Pachinko sei nach dem verlorenen Krieg erfunden worden – der Krieg als apokalyptisches Trauma einer Gesellschaft. Da stehen Golf-Fans auf Hochhäuserdächern, die an der Verbesserung ihres Handicaps arbeiten und stundenlang Bälle abschlagen, ohne je in ihrem Leben einmal einen Golfball ins eigentliche Ziel des Spiels, ein Loch zu bugsieren, geschweige denn, je auf einem Golfplatz zu stehen. Es ist alles künstlich. Und als Wenders das erste Mal Gelegenheit bekommt, Künstlich und Lebendig gegenüberzustellen, da darf er nicht filmen. Er besucht eine Fabrik, in der Arbeiter Lebensmittelimitationen aus Wachs herstellen, Wenders filmt ausgiebig. Aber als die Männer in der Mittagspause zwischen all dem Kunstessen ihre echte Brotzeit essen, muss die Kamera ausgeschaltet bleiben.

Je länger der Film dauert, desto mehr verfestigt Wim Wenders, der davon träumt, wieder Bilder machen zu können, ohne sie erklären zu müssen, das Bild eines seelenlosen Tokio. Heranwachsende imitieren amerikanischen Rock'n'Roll, indem sie sich Petticoat, spitze Schuhe und Schmiere in die Haare reiben, Kinder erleben Abenteuer am Donkey-Kong-Computer und der Rennautosimulation. Was für ein Kontrast offenbar zu den Menschen im Kino von Yasujirō Ozu. Aber Wenders lässt ihn zu.

Denn auch das ist ja seit einigen Jahren Wenders' Thema: der Niedergang der Filmkultur. Einst, etwa zu Ozus Zeiten, war Film das Medium, dessen zentrale Aufgabe es war, über Menschen zu erzählen. Heute ist es für Wenders verkommen zu einer unentwegten Berieselungsmaschinerie. Überall tönt dauernd knallbuntes, krachlautes Fernsehen mit Bildern von Irgendwas. Einmal sitzt Wenders im Taxi, in dem es gegen Aufpreis TV-Sender zu sehen gibt. Überall ist das bewegte Bild, es ist nur noch Ablenkung von der Wirklichkeit, statt Abbild der Wirklichkeit. „Nieder mit dem Fernsehen!“, stöhnt er aus dem Off. Schon in seinem Kurzfilm "Reverse Angle" (1982), als "Filmtagebuch" eine Art Vorfilm zum 90-Minuten-Tagebuch "Tokyo-Ga", träumt Wenders davon, endlich mal wieder Bilder zu drehen, losgelöst von jeder Geschichte – einfach Bilder. „Ein jeder sieht seine Wirklichkeit mit seinen eigenen Augen. Man sieht die Menschen, die Dinge um sich, die Landschaften … ein jeder sieht, für sich selbst, das Leben", sagt er aus dem Off, und da würde jede Form des inszenierten Bildes die Wahrhaftigkeit nur zerstören. Der langjährige Assistent und später Kameramann Yasujirō Ozus, Yuharu Atsuta, erzählt später, Ozu sei im Laufe seiner Karriere immer minimalistischer geworden, habe Kamerafahrten und -Schwenks zunehmend aus seinen Filmen verbannt und endlich nur noch mit starren Bildeinstellungen gedreht, für Leben und Drama waren ausschließlich die Schauspieler in ihren Rollen zuständig.

An dieser Stelle wird Wenders' Film unerwartet doch noch emotional. Denn Yuharu Atsuta erzählt lebendig, mit Witz und Hingabe über die Arbeit von und mit Yasujirō Ozu. Wir erfahren viel über das Filmemachen – ganz nebenbei zeigt sich: Willst du etwas über einen Film wissen, sprich mit dem Kameramann, nicht dem Regisseur. Plötzlich, ausgerechnet in einem Moment, in dem es um die professionelle, künstlerische Reproduktion der Wirklichkeit geht – also das, dessen kalte Auswirkungen wir nun über eine Stunde lang verfolgt haben – sehen wir einen echten Menschen mit echten Gefühlen und echtem Schalk im Nacken, der mit seinem asiatischen Aussehen, der deutlich asiatischen Kassengestellbrille (gibt es in im japanischen Kino eigentlich neben dieser Brille noch ein zweites Modell?) und der kuschligen japanischen Sprache gar nicht mehr fremd wirkt, sondern einfach als Mensch.

Als hätte Wim Wenders am Ende seiner Tokyo-Ga doch noch erreicht, was er von seinem Sensei gelernt hat: das Bild eines international gültigen Menschen.

Wertung: 8 von 9 D-Mark
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