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Plakatmotiv: Land of Plenty (2004)

Digitale Videokameras erzählen
vom Amerikanischen Albraum

Titel Land of Plenty
Drehbuch Wim Wenders + Scott Derrickson + Michael Meredith
Regie Wim Wenders, USA, Deutschland, Kanada 2004
Darsteller
Michelle Williams, John Diehl, Shaun Toub, Wendell Pierce, Richard Edson, Burt Young, Yuri Elvin, Jeris Poindexter, Rhonda Stubbins White, Victoria Thomas, Matthew Kimbrough, Paul West, Jeffrey Vincent Parise, Christa Lang, Warren Stearns u.a.
Genre Drama
Filmlänge 123 Minuten
Deutschlandstart
7. Oktober 2004
Inhalt

Paul, ehemals Soldat der US Special Forces, wurde als 18-Jähriger in einem Gefecht in der Nähe von Long Thanh verletzt und leidet heute noch unter den Nachwirkungen des Giftes Dioxin (Agent Orange), dem er vor mehr als 30 Jahren ausgesetzt war.

Die Ereignisse des 11. September haben sein Kriegstrauma und damit die Geister seiner Vergangenheit zum Leben erweckt. Er ist von der Idee besessen, sein Land gegen mögliche Inlandsangriffe zu beschützen und engagiert sich im „Krieg gegen den Terror“ als selbsternannter Vaterlandsverteidiger. Seine Nichte Lana ist eine Idealistin, auf der Suche nach ihrer Aufgabe in dieser Welt. Dabei erkennt und versteht sie ihren christlichen Glauben mehr und mehr in frappierendem Gegensatz zu den Prinzipien der amtierenden amerikanischen Regierung.

Die beiden werden zufällig Zeugen eines Mordes. Ein Obdachloser wird im Vorbeifahren erschossen, ein scheinbar willkürlicher Akt. Für Paul eine heiße Spur in einer Verschwörungstheorie, für Lana nur eine weitere traurige Episode in einer aus den Fugen geratenen Welt.

Gemeinsam machen sie sich auf den Weg quer durch Amerika, um mehr über die Hintergründe der Tat herauszufinden …

Was zu sagen wäre

Das Schlaraffenland ("Land of Plenty"), in das uns Wim Wenders führt, ist ein zerstörtes Land. Dessen Gesellschaft zerfallen ist. Wir sind in Los Angeles, der Stadt der Engel, der Stadt der Träume, „Hauptstadt des Hungers“, sagt Henry, als er Lana vom Flughafen abholt und mit hochgefahrenen Fensterscheiben durch die Straßen der Stadt rollt, in der die Schaufenster verbarrikadiert sind und links und rechts auf den Bürgersteigen die Obdachlosen zelten – eine Industriellenwitwe hatte jüngst 100 Zelte gespendet.

Der amerikanische Traum ist anderswo. Vielleicht. Durch diese Straßen cruist auch Paul, von dem lange unklar ist, wer der Mann ist und was der da ausspioniert mit seinem Van und der ausfahrbaren Videokamera und dem Mikrofon, und wem die Notizen nützen sollen, die er ins Tonband spricht. John Diehl spielt Paul. Wir kennen ihn aus 80er-Jahre-Miami-Vice-Zeiten. Da war er Larry Zito, der schlaksigere Zuarbeiter für Crockett und Tubbs, seither taucht er in kleineren Rollen in großen Filmen auf (Falling Down – 1993; Stargate – 1994; Die Jury – 1996; Jurassic Park III) Zuletzt hatte Wim Wenders ihn vor der Kamera in Am Ende der Gewalt. Diehl ist kein Typ für Hauptrollen, aber ausgebrannte Männer, für die das Leben nicht mehr viel bietet, für die das Bild von Frau, Familie, Häuschen mit Garten und Apfelbaum nicht mehr in Erfüllung gehen wird, spielt er glaubwürdig und sympathisch. Das ist Paul, Vietnamveteran mit Trauma, seit 9/11 auf der Jagd nach dem Terror, den er überall sieht, in jedem Mann mit Bart, sowieso unter dem Turban. Tatsächlich gehört Paul weder einem Polizeidienst an, noch einer Bürgerwehr, noch der Army. Er ist ein Einzelgänger. Als er Familie bekommt, kann er damit nichts anfangen.

Diese Familie kommt in Person seiner Nichte Lana, die frisch aus einem langen Aufenthalt in Israel – und dort in den Palästinensergebieten – heimkehrt. Sie kennt den Terror von der anderen Seite. Sie, ebenso wie Paul, ist eine Suchende, steht an der Schwelle in ein neues Leben und weiß noch nicht, wohin sie das führt. Für solche einsam Suchenden hat Wim Wenders in seinen Filmen große Sympathie. Lana sucht einen Sinn im Leben, Paul auch, versteckt das hinter der Jagd auf eingebildete Terroristen. Der Film bringt die beiden Gegensätze einander näher. Eine Art Familienzusammenführung. Paul driftet in seinen Verschwörungswahn ab, in dem, als ein obdachloser Araber aus einem vorbeifahrenden Auto heraus erschossen wird, es sich dabei nur um einen Teil einer weltweiten Terroristenverschwörung handeln kann. Dann stellt sich heraus, dass es keine Verschwörung gibt. Es sind „verwöhnte reiche Kids auf Droge“ für diesen Todesschuss verantwortlich. Ist ein just another Drive by Shooting. Wer interessiert sich schon für Turbanträger? Die Welt ist einfach Scheiße.

Die Annäherung von Nichte und Onkel geht einher mit der Entfremdung von der Welt da draußen vor dem hochgekurbelten Fenster. Durch das wir auf ein verhärmtes Land blicken. Hass nach 9/11. Menschen entdecken hinter jedem Fremden einen potenziellen Terroristen. Videocover: Land of Plenty (2004) In den Palästinensergebieten damals hat Lana keinen Araber, keinen Palästinenser, der sich hier der israelischen Landname erwehren muss, gesehen, der schockiert gewesen wäre. Dort haben die alle gejubelt, als die Twin Towers einstürzten, fanden toll, was dieser Osama Bin Laden da geschaffen hat. Es sind diese beiden Pole, die den Film in Spannung halten. Zum Finale stehen Onkel und Nichte vor Ground Zero, dem aufgekehrten Trümmerhaufen, den die einstürzenden Twin Towers hinterlassen haben. Und da, im Angesicht der realen, kalten Trümmer, platzen die eingebildeten Ideale. 9/11 ist vor Ort nur ein Trümmerhaufen, nichts anderes: „Ich hatte mehr erwartet. Irgendwie mehr, als nur eine Baustelle“, sagt Paul. „Irgendwie“ … Er hatte irgendsowas wie eine Erleuchtung erwartet, ein klares Urteil, eine deutliche Positionierung mit Posaunenschall. Beziehungsweise Irgendwas. Paul ist der Vertreter für all jene, die "ihr Land" mit diffusen Idealen überfrachten. Und hier in Manhattan South sieht er die kalte Wahrheit: Keine Fanfaren, kein Streichorchester, einfach nur eine Baustelle. Das Leben geht weiter, egal aus welcher Ideologiebrille man schaut.

Wenders schart, da unterscheidet er sich nicht von anderen Filmautoren, gerne Freunde und Bekannte und Filmleute, die er schon kennt um sich. Hier offenbar nicht, hier springt nur John Diehl als Wiederholungsspieler ins Auge. Robby Müller, Wenders' langjähriger Kameramann seit Hochschulzeiten, hat sich mittlerweile emanzipiert, bekommt Aufträge von Autorenfilmern aus ganz Europa und aus den USA ("Coffee and Cigarettes" – 2003; Dancer in the Dark – 2000; Ghost Dog – Der Weg des Samurai – 1999; "Breaking the Waves" – 1996; Dead Man – 1995; "Sein Name ist Mad Dog" – 1993). Sein Schnittmeister Peter Przygodda, der nach Am Ende der Gewalt die Regisseure Volker Schlöndorff (Palmetto – 1998) und Romuald Karmakar (Manila – 2000) unterstützte, war momentan verhindert. Geblieben von beiden sind die Bildmotive. Kaum ein Wim-Wenders-Film, in dem nicht aus dem Fenster der Flügel eines fliegenden Flugzeugs gezeigt wird. Wie oft hat Wenders das Bild? Schon in seinem Abschlussfilm Summer in the City gab es das. Von Bildern fahrender Eisenbahnzüge hat er sich verabschiedet, der Flügel bleibt.
Dafür springt Burt Young ins Auge, altgedienter Hollywood-Sidekick. Er spielt hier die umprominente Nebenrolle eines Helfers in der Mission, in der Lana zu Beginn unterkommt. Eine sympathische Figur mit dem traurigen Blick eines Mannes, der der kaputten Realität ins Auge geblickt hat. Jeder ältere Schauspieler könnte das spielen. Wenders aber besetzt diese Rolle mit Burt Young. Dass Wenders, der die Bildsprache des US-Kinos dechiffrieren kann, sich für Burt Young entschied, sagt was. Mit dem Schauspieler hat er dessen herausragende Rolle Paulie besetzt. Paulie war 1976 der Schwager des späteren Schwergewichtsweltmeisters Rocky Balboa in dem den American Dream laut in die Welt posaunenden Film Rocky. Damals war dieser Paulie ein etwas zwielichtiger, seinen eigenen Vorteil suchender Charakter mit Herz, eine klassische Figur im US-Kino. Jetzt, in "Land of Plenty" ist er ein übrig Gebliebener, der als Mädchen für Alles in der Brot-des-Lebens-Mission die Reste der Politik zusammenkehrt. Anders gesagt: Werdende Helden, denen er bei deren American Dream helfen könnte, findet auch ein Paulie keine mehr.

Der Film ist ein politischer Essay, auch eine sehr emotionale, schwarzhumorige Familiengeschichte. Ein patriotischer Film. Wir haben gewitzelt über Roland Emmerich und Wolfgang Petersen, die deutschen Regisseure, die mit Independence Day und Air Force One Flaggen wehende US-Superheldenfilme gedreht haben, niemand könne die USA patriotischer inszenieren, als die Deutschen. Nun hat auch Wim Wenders einen patriotischen US-Film gedreht, mit zärtlichem Blick auf sein Traumland, dessen Einwohner sich seit dem Einsturz des World Trade Centers nicht mehr zurecht finden, den Glauben an die eigene Stärke verloren haben, das Kriege führt in fernen Ländern und den Bürgern das Streben nach Glück in der Verfassung garantiert, ihnen aber gleichzeitig kein Dach über dem Kopf mehr bieten kann. Dass das keine verfilmte Hochschulvorlesung wird, sondern packender Film bleibt, kommt vor allem daher, dass Wim Wenders komplett mit digitalen Videokameras gedreht, auf 35mm-Film ganz verzichtet hat.

Mittlerweile ist die Technik so ausgereift, dass sie nicht mehr, wie noch vor fünf Jahren in Buena Vista Social Club nach besserem Homevideo aussieht. Die Technik stößt bei Gegenlicht an ihre Grenzen, ermöglich aber auch Bilder mit hoher Tiefenschärfe, die komplexe inhaltliche Zusammenhänge deutlich macht. Manchmal baut Wenders die Kamera aufs Armaturenbrett und beobachtet Fahrer und Beifahrer und das Geschehen draußen, an dem beide vorbei rollen. Es gibt viel zu gucken. Das Unsaubere der Bilder verstärkt die Authentizität der Bilder – das Perfekte der in Hollywood produzierten Bilder macht dessen Thriller unwahrscheinlich, unrealistisch. Das Unperfekte ist das neue Perfekt. Die Bilder von Wenders' Kameramann Franz Lustig sind erstaunlich, vielschichtig, tiefenscharf. Große Klasse.

Wertung: 5 von 6 €uro
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