IMDB

Plakatmotiv: Bis ans Ende der Welt (1991)

Ein Mammutfilm mit
wuchtiger Erzähllust

Titel Bis ans Ende der Welt
Drehbuch Peter Carey + Wim Wenders
Regie Wim Wenders, Deutschland, Frankreich, Australien 1991
Darsteller

Solveig Dommartin, Eddy Mitchell, William Hurt, Sam Neill, Adelle Lutz, Ernie Dingo, David Gulpilil, Jimmy Little, Max von Sydow, Jeanne Moreau, Lois Chiles, Rüdiger Vogler, Chick Ortega, Elena Smirnova, Chishū Ryū, Kuniko Miyake, Allen Garfield u.a.

Genre Drama, Science Fiction
Filmlänge 279 Minuten
Deutschlandstart
12. September 1991
Website wimwendersstiftung.de
Inhalt

1999 – Die Welt steht unter der latenten Bedrohung einer atomaren Verseuchung. Ein indischer Satellit mit nuklearem Material an Bord verlässt unkontrolliert den Orbit und nähert sich der Erde. Claire Tourneur befindet sich nach ihrer endlosen Suche nach Bedeutung und Lebenssinn in Venedig.

Sie lässt ihren dortigen Liebhaber zurück und reist weiter, ohne tatsächliches Ziel. Bei einem Überholvorgang kollidiert ihr Auto mit dem Wagen zweier Männer. Diese erweisen sich als Kriminelle, die eine Bank auf dem Flughafen Nizza ausgeraubt haben. Claire soll einen Teil der Beute abbekommen, wenn sie sie nach Paris bringt. Dorthin unterwegs trifft sie in Südfrankreich einen mysteriösen Mann namens Trevor McPhee, der offenbar verfolgt wird. Plakatmotiv: Bis ans Ende der Welt (1991) Sie nimmt ihn mit dem Auto bis nach Paris mit, wo sie sich verabschieden, aber Claires Gedanken bleiben bei Trevor – liegt es an den merkwürdigen Pygmäengesängen, die er ihr während der Fahrt vorgespielt hat? Ist es die reine Neugierde, vor wem oder was McPhee sich auf der Flucht befindet? Oder liegt es doch nur an der Tatsache, daß er ihr ein wenig Geld gestohlen hat?

Claire kehrt vorerst nach Hause zurück – in die Wohnung ihres ehemaligen Lebensgefährten Eugene Fitzpatrick, doch sie hat nur ein Ziel: Trevor wieder zu finden …

Was zu sagen wäre

Als der Film ins Kino kommt, ist er zweieinhalb Stunden lang und ein elender Kompromiss. Ein bisschen Abenteuer, ein bisschen menschliche Verlorenheit, ein bisschen Science Fiction mit atomarer Bedrohung und ein Dreiecksverhältnis zwischen Paris und dem australischen Outback. Vor allem aber ist er für einen Wim-Wenders-Film überraschend handlungsaffin. Es gibt eine Heldin, die einen Platz in einem neuen Leben sucht. Es gibt einen Off-Erzähler, der ihr langjähriger, ehemaliger Liebhaber ist. Es gibt einen mysteriösen Fremden, der die Heldin in Bewegung versetzt. Es gibt eine äußere Bedrohung durch einen Atomsatelliten sowie durch allerlei Agenten, die aus irgendeinem Grund hinter dem mysteriösen Fremden her sind. Dazu kommt ein Mad Scientist, der Bilder misshandelt.

Das ist eine ganze Menge Holz, selbst für zweieinhalb Stunden Film. Und für Wim Wenders, der sich einen Ruf inszeniert hat als Mann, der Geschichten – Stories – im Kino eher als Teufelszeug empfindet, und also Filme dreht, weil er da Bilder inszenieren kann, die hoffentlich alle anderen genauso spannend finden wie er selbst und die irgendwie am Ende auch eine irgendwie nachvollziehbare Handlung ergeben, muss ein Stoff, wie der oben kurz angerissene, sowas wie "Krieg und Frieden" sein. Jedenfalls ist Wenders mit der zweieinhalbstündigen Version, dem „Reader’s Digest“ seines Films, den ihm die Verleiher aufzwangen, nicht zufrieden. Kann man verstehen. Gerade hat man sich als Kinofan damit arrangiert, dass des deutschen Feuilletons liebster deutsche Regisseur halt einer ist, der niemals Filme drehen wird, wie man sie selber lustvoll sieht, da kommt er mit so geballter Erzähllust zurück, dass es Leinwand und Zeit sprengt.

Zwei Jahre später stellte Wenders einen "Director’s Cut" her – mit einer Länge von 4 Stunden, 40 Minuten. Und plötzlich bekommt all das, was Wenders abarbeiten will – und das ist immer noch und hoffentlich dann zum letzten Mal auch sein Hammett-Trauma – Platz und Muße, sich zu entfalten. Allerdings stellt sich bei dieser Länge die Frage, ob die Sinnsucherei, die Wenders hier betreibt, eine betont arrogante Missachtung des alltäglichen Geschäfts seiner Branche ist, in der es sich ein Kino nicht leisten kann, mit einem Film dieser Länge, der pro Tag maximal zweimal, eigentlich aber nur einmal gezeigt werden kann, eines seiner Vorführsäle dann doch nicht auslasten zu können – welcher Kinobesucher hat so viel Zeit? Plakatmotiv: Bis ans Ende der Welt (1991) Welcher Kinobetreiber so viel Platz, um den Film nur einmal pro Tag zu zeigen? Oder ist diese Frage eben schon der falsche Ansatz? Mein Gott, der Teppich von Bayeux mit seinen über 60 Metern Länge passt auch in kein Wohnzimmer, gilt aber als historische, erzählerische Kunst!

Alles, was in den Jahren zwischen der Zweieinhalb-Stunden-Fassung und dieser 4:40-Version gesagt und geschrieben wurde, ist uninteressant. Wenders akzeptiert nur diese 4:40-Version als seinen Film – ursprünglich soll sogar eine Acht-Stunden-Version geplant gewesen sein – und ob "man" die gucken kann, "man" die Zeit dafür hat, ist eher zweitrangig. Wenders will, dass wir uns mit seinem Blick, seiner Haltung auseinandersetzen, oder gar nicht.

Der Film ist eine große Entgrenzung. Er sprengt mit knapp fünf Stunden Lauflänge und Schauplätzen überall auf der Welt alle erzählerischen Dimensionen. Es ist, als wolle Wenders, nachdem seine Was-will-uns-der-Regisseur-mit-seinen-Bildern-sagen-Filme auf Unverständnis beim deutschen Büroarbeiter und bei amerikanischen Produzenten stießen, jetzt mit einem Füllhorn an Bildern, Verweisen auf Klassiker seiner persönlichen Kunstgeschichte und Stories erschlagen. Er bemüht gleich mehrere MacGuffins, um sein Ziel einzubetten, also jene Hitchcock'sche Erfindung eines Etwas, hinter dem alle her sind, das letztlich selbst aber gar keine Rolle spielt – es musste nur die Bewegung auslösen. Wie können sich Claire, Trevor (der eigentlich Sam heißt) und Eugene die teuren Reisen rund um die Welt eigentlich leisten? Okay, es gab da einen Bankraub, bei dem für die Heldin durch den lustigen Zufall eines Autounfalls 30 Prozent rausspringen. Wieso können sich die Hauptfiguren ungestört in ihrem australischen Paradies entfalten? Naja, es gibt da diesen atomar bestückten Satelliten, den die USA abschießen, was einen elektromagnetischen Impuls auslöst, der alle Elektronik verstummen lässt. Warum reist Claire um die ganze Welt, immer diesem Trevor/Sam hinterher, den sie doch kaum kennt? Naja, sie sei halt verliebt „wie ein Teenager, sagt ihr Ex aus dem Off. Sehen, spüren gar, tut man das nicht. Aber auch das gehört zu Wenders' Filmkunst. Seine Schauspieler sind keine Spieler, sie sind Darsteller auf seinem erzählten Spielbrett, erfüllen Funktionen. Der Bankraub in Nizza, der immer wieder mal erwähnt wird, sowie der Atomsatellit haben im Film sonst keine Rolle – weder sehen wir Ermittlungen der Polizei auf der Suche nach den Bankräubern, noch schwitzende Staatenlenker, die den Satelliten möglichst ohne Schaden entsorgen wollen.

So wie Trevor/Sam im Grunde nur ein MacGuffin ist, der Claire und Eugene in Bewegung versetzen soll, ist die gewesene Beziehung zwischen Eugene und Claire nur schmückendes Beiwerk; vielleicht arbeitet der Auteur Wenders da eigene Beziehungsgeschichte auf, lebendig, emotional spürbar aber ist zwischen Sam Neill (Jagd auf Roter Oktober – 1990; "Todesstille" – 1989) und Solveig Dommartin nichts. Im Gegenteil, Dommartin erweist sich als Wenders' Achillesferse: Seit Der Himmel über Berlin ist sie seine Lebensgefährtin, er widmet ihr seinen Yamamoto-Film, gibt ihr hier die Hauptrolle, obwohl sie kaum in der Lage ist, den Film als eine Säule mit zu tragen.

Und endlich, nachdem diese lästigen Fragen des Wie und Warum und Wohin geklärt sind, kann Wenders seine Idee von der multikulturellen Gesellschaft inszenieren – Aborigines, Weiße, Zuwanderer, Frauen, Männer. Es geht um Väter und Söhne, Mütter und Töchter. Aber vor allem geht es darum, Sehen zu lernen – hier mit den Mitteln futuristischer Technik, mittels derer der Mensch wieder lernen soll, zu sehen statt nur zu schauen. Plakatmotiv: Bis ans Ende der Welt (1991) Da führt er uns ausschweifend durch eine Art Paradise Island, auf der die unterschiedlichen Ethnien miteinander musizieren – Klavier, Digeridoo, Mundharmonika, Schlagzeug, Gitarre, Gesang – wenn der Atomsprengkopf mal detoniert, das "Ende der Welt" eingeläutet ist, gibt es keinen Grund mehr für Streit, lebt es sich am "Ende der Welt" friedlich miteinander. Der Film wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die Regeln des kommerziellen Films, indem er seine Geschichte einfach fünf Stunden lang ausbreitet — Ihr wollt eine Geschichte? Okay, aber die zu erzählen dauert halt! Gleichzeitig konzentriert Wenders sich in seinen Szenen klar auf einen Spannungsaufbau. Kein Vergleich etwa zu Falsche Bewegung, wo minutenlang gar nichts passierte. Hier passiert immer was. Aber das eben auch fünf Stunden lang.

Trotzdem sehen wir all dem Treiben rund um die Welt gerne zu, weil Wenders' Kameramann Robby Müller das in so wunderschön fotografierte Bilder packt, und weil Wenders auch hier wieder mit der Ästhetik seiner Bilder experimentiert. Was bei Nick's Film oder Tokyo-Ga und Yamamoto mit einem Mix aus 35mm-Bildern und solchen aus einer VHS-Videokamera begann, erweitert er in "Bis ans Ende der Welt" mit farblich verzerrten und monochromen Bildern, um Träume sichtbar zu machen.

Die Bilder bleiben Wenders' zentrales Thema. Hinter all den MacGuffins erzählt er eine Geschichte über die Gefahr der falschen Bilder: Bilder lügen! "Bis ans Ende der Welt" hat wenig gemein mit dem Frühwerk, dem Tormann, der Falschen Bewegung, mit Alice in den Städten; er reflektiert aber, was diese Filme wollten, aber nicht konnten, nämlich nur in Bildern zu erzählen. Bilder sind manipulierbar, weit über die heute schon übliche Retouche hinaus. Selbst die eigenen Träume sind in diesem Wenders-Film nicht mehr sakrosankt. Hier gelingt es dem Mad Scientist, den Max von Sydow als abweisenden Vater und sturen Wissenserforscher spielt, die Träume von Menschen aufzuzeichnen und dadurch zu reproduzieren, er baut tatsächlich eine Traumfabrik. Und diejenigen, die sich ihre Träume, in denen geliebte Menschen auftreten, dann wieder und wieder ansehen, erliegen einem, wie Eugene aus dem Off erläutert, „entsetzlichen Realitätsverlust“. Heißt: Die Traumfabrik macht Euer Leben, Euer Sehen, Eure Träume kaputt. Ein Schelm, wer bei Traumfabrik nicht an Hollywood, das Hollywoodsystem und Wenders' dortiges Trauma denkt. Hollywood, das Bilder kontrolliert und vermarktet. Prompt sind es amerikanische Geheimdienste, also die Amerikaner, die die Traumaufzeichnungsmaschine an sich reißen, deren Erfinder entführen, der einsam an unbekanntem Ort verstirbt.

20 Millionen Dollar hat Wim Wenders für die Produktion seines Mammutfilms ausgegeben, Europas teuerster Autorenfilm und nach Im Lauf der Zeit ein zweiter Schlüsselfilm in Wenders Karriere.

Wertung: 8 von 10 D-Mark
IMDB