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Plakatmotiv: In weiter Ferne so nah! (1993)

Wim Wenders holt die Engel zurück
für eine Philosophie über die Zeit

Titel In weiter Ferne so nah!
Drehbuch Wim Wenders & Ulrich Zieger & Richard Reitinger
Regie Wim Wenders, Deutschland 1993
Darsteller

Otto Sander, Peter Falk, Horst Buchholz, Mikhail Gorbachev, Nastassja Kinski, Heinz Rühmann, Bruno Ganz, Solveig Dommartin, Rüdiger Vogler, Lou Reed, Willem Dafoe, Monika Hansen, Günter Meisner, Ronald Nitschke, Hanns Zischler u.a.

Genre Drama, Fantasy
Filmlänge 144 Minuten
Deutschlandstart
9. September 1993
Website wimwendersstiftung.de
Inhalt

Der Engel Cassiel hadert mit seinem Dasein, weil er die Menschen zwar trösten, aber nie ihr Schicksal beeinflussen kann. Als er sieht, wie ein kleines Mädchen vom Hochhaus stürzt, fängt er das Kind auf und wird dadurch selbst zum Menschen.

Als "Karl Engel" wandert er durch die Straßen des wiedervereinigten Berlins, wo er neue und alte Freunde trifft. Bald jedoch bekommt er die Kälte und Lieblosigkeit der Menschen zu spüren …

Was zu sagen wäre

Allein die Tatsache, dass Wim Wenders so etwas wie eine Fortsetzung eines seiner Erfolgsfilme dreht, lässt aufhorchen. Es muss ihn gereizt haben, nachdem er im geteilten Berlin, gezeichnet von Mauer und Stacheldraht, seinen ersten Engel-Film gedreht hat, nicht ahnend, dass die Mauer bald Geschichte sein wird und sein Film Der Himmel über Berlin wertvolle Ansichten der Stadt konserviert, die bald verloren sind, einen weiteren Film in der nun zusammenwachsenden Stadt zu drehen. Deswegen wachsen in seinem jüngsten Film, der Fortsetzung von Der Himmel über Berlin, nicht nur die Stadt zusammen, sondern auch Nazi-Vergangenheit und Gorbatschow-Perestroika-Gegenwart, eine im Krieg auseinander gerissene Familie, die Freunde Damiel und Cassiel. Und der Engel Cassiel mit seiner eigentlichen Bestimmung.

Wenders bettet diese Handlungsstränge in das aus dem Vorgänger bekannte Konstrukt der im Schwarz-Weißen lebenden Engel, die allen Menschen dauernd beim Denken zuhören und dabei huldvoll schauen und der im Farbfilm lebenden Menschen. Damiel, der gefallene Engel aus dem ersten Film, eröffnet demnächst seine eigene Pizzeria, und hat eine reizende Tochter mit der Trapezkünstlerin Marion. Cassiel streift beim Gedanken lauschen meist mit Raphaela durch die Stadt, eine neue Engelin im schwarz-weißen Universum, gespielt von Nastassja Kinski, die nach Falsche Bewegung und Paris, Texas zum dritten Mal vor Wenders' Kamera steht und eine beeindruckende Performance hinlegt (Hotel New Hampshire – 1984; Katzenmenschen – 1983); das Mädchen aus den 70er Jahren, das in Wolfgang Petersens "Tatort" eine Schülerin spielte, die mit dünnem Stimmchen und dünnem Körper ihren Lehrer verführte, ist erwachsen geworden (keine Überraschung), ihre zauberhafte Stimme aber hat sie erhalten. Ihre Raphaela ist ein sehr glaubhafter Engel, die „Bote, nie Botschaft“ ist.

Und dann gibt es Emit Flesti, den Willem Dafoe spielt. Der ist mal schwarz-weiß, mal farbig und der Beweis, dass sich Wim Wenders mit dem Wesen der Fortsetzung eines Erfolgsfilms auseinandergesetzt haben muss: Jetzt gibt es Zwitterwesen. Sieht man den Namen dieses, nunja, Engels aufgeschrieben – Emit Flesti – und schaut gleichzeitig in einen Spiegel, erkennt man, dass die Figur rückwärts Time itself heißt. Und tatsächlich ist Dafoes Figur die zentrale Figur, denn Wim Wenders philosophiert in seinem neuen Film über das Wesen der Zeit, die im Film in all ihren bekannten Sprichwortvariationen „… ist Geld“, : „… ist Kunst“, „… ist die Abwesenheit von Geld“ auftaucht und schließlich in Emit Flestis Monolog gipfelt: „Erstens: Die Zeit vergeht schnell. Für das Wiesel ist die Zeit ein Wiesel. Für den Helden ist die Zeit heldenhaft. Für die Hure ist die Zeit nur ein anderer Freier. Bist Du freundlich, ist die Zeit freundlich. Hast Du es eilig, fliegt die Zeit dahin. Die Zeit dient Dir, wenn Du sie beherrschst. Die Zeit ist Deine Herrin, wenn Du ihr Hund bist. Wir erschaffen die Zeit, fallen ihr zum Opfer und vernichten sie. Zweitens: Die Zeit ist zeitlos. Du bist die Uhr!

Cassiel, Wenders' zweiter gefallener Engel, fällt der Zeit zum Opfer, er verliert die Kontrolle, wird ein richtig Gefallener – ein Trinker, Obdachloser, Pöbler. Da hat er einem kleinen Mädchen das Leben gerettet und ist deshalb Mensch geworden. Klar wollte er mal wissen, wie das Leben so ist als riechender, schmeckender, die eigene Körperfülle spürender Mensch. Denn, und hier schweift Wenders zwischenzeitlich immer Mal zu seinem Universalthema, die Menschen bleiben den Engeln verschlossen. Sie glauben und sehen nichts mehr, seit sie sich von allem und jedem Bilder gemacht haben. Jetzt glauben sie nur noch, was sie sehen. Wim Wenders und die Macht der Bilder. Seit er mit Hollywood in Kontakt gekommen ist, wo man ihm seine Bilder nahm und sie umbaute in eine verkaufsfördernde Kriminalgeschichte mit angesagten Schauspielern, taucht der Zweifel am Bild, die Macht der Bilder in seinen Filmen immer wieder auf; auch sein vorheriger Film Bis ans Ende der Welt befasste sich mit dem Thema.

Aber Cassiel wollte doch trotz aller Neugier Engel bleiben und auch in Zukunft mit Raphaela durch die Stadt schweben. Aber nun ist er Mensch. Damit das Ziel, ihn ins Reich der Engel zurückzubringen, gelingt, entwickeln sich nun parallel eine komplizierte Familiengeschichte zwischen Nazi-Deutschland und heute sowie eine Gangsterstory mit Horst Buchholz, die mehr Ablenkung bergen als einen roten Faden. Wenders inszeniert die Entwicklung dieser beiden Handlungsstränge, als müsse da nichts erklärt werden – eben noch wussten BRD-Schwester und US-Bruder nichts voneinander und jetzt handeln sie gemeinsam gegen die Mafia auf einem Boot (das "Alekahn" heißt und an den Kameramann Henri Alekan erinnert, der in Der Himmel über Berlin diese grandiosen Bilder schuf, die für den sonst zähflüssigen Film entschädigten). Auch das Machtverhältnis zwischen den Schergen einer Gruppierung, die eine Art Mafia sein könnte, und der Horst-Buchholz-Figur, bei der nie so ganz klar wird, was dieser Tony Baker eigentlich für Geschäfte treibt, die denen der Mafia so quer stehen, wechseln stetig, ohne durch einen in der Filmhandlung ersichtlichen Grund – als interessiere sich Wenders, der in der Tat Bilder machen interessanter findet, als mit-Bildern-Geschichten-erzählen, nicht für die Story; Hauptsache, der Inhalt kommt vor dem Abspann ins Ziel.

Ja, das tut dieser Inhalt. Erzählerisch schön ist das aber nicht. Man sieht auch diesem Zweieinhalb-Stunden-Film an, dass Wenders kein Charakter-Regisseur ist. Seine Figuren sagen Phrasen auf – weniger, als früher, aber immer noch – sprechen auswendig gelernte Sätze und wissen nicht in jedem Einzelfall, wer sie in welcher Situation gerade sind. Ausnahmen bestätigen die Regel: Otto Sanders geht als Cassiel ganz in seiner Figur auf.

Und Herz Rühmann spielt mit (Der brave Soldat Schwejk – 1960; Der Hauptmann von Köpenick – 1956)! Nach zehn Jahren Pause tritt die deutsche Filmlegende in diesem Film mit 91 Jahren zum letzten Mal in einem Film vor die Kamera. Das ist rührend, weil er sich als Chauffeur eines Nazi-Bonzen auch ein bisschen mit seiner eigenen Geschichte im Dritten Reich beschäftigen kann. Es ist ein letzter Auftritt, der Gänsehaut bereitet.

Als das Universum im Finale nach einem für Wenders-Verhältnisse grotesken Showdown wieder im Lot ist, bleibt die Erkenntnis der Engel über die Menschen: „Sie nehmen nur auf. Ihre Blicke geben nicht mehr.

Wertung: 5 von 10 D-Mark
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