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Plakatmotiv: Elf Uhr Nachts – Pierrot le Fou (1965)

Die Dekonstruktion des Kinos
mit den Mitteln der Kinokunst

Titel Elf Uhr Nachts – Pierrot le Fou
(Pierrot le Fou)
Drehbuch Rémo Forlani & Jean-Luc Godard
nach dem Roman "Obsession" von Lionel White
Regie Jean-Luc Godard, Frankreich, Italien 1965
Darsteller
Jean-Paul Belmondo, Anna Karina, Graziella Galvani, Aicha Abadir, Henri Attal, Pascal Aubier, Maurice Auzel, Raymond Devos, Roger Dutoit, Samuel Fuller, Pierre Hanin, Jimmy Karoubi, Jean-Pierre Léaud, Hans Meyer, Krista Nell, Dirk Sanders, Georges Staquet, László Szabó u.a.
Genre Crime, Drama, Romantik
Filmlänge 110 Minuten
Deutschlandstart
17. Dezember 1965
Inhalt

Ferdinand Griffon, ein romantischer Bücherwurm und unverbesserlicher Tagträumer, ist genervt von seiner reichen Frau Maria, seinen falschen Freunden, allesamt Teil der Pariser Oberschicht, und überhaupt von seinem reizlosen, oberflächlichen Leben. Da taucht plötzlich seine frühere Geliebte Marianne auf und lockt Ferdinand mit der Aussicht auf Liebe, Leidenschaft und uneingeschränkte Freiheit in ein wildes Abenteuer.

In einen mysteriösen Mordfall verwickelt flieht das Paar überstürzt aus Paris und landet auf einer einsamen Insel in Südfrankreich, wo Ferdinand und Marianne für eine Weile friedlich inmitten paradiesischer Natur leben. Plakatmotiv (F.): Pierrot le Fou (1965) Doch es dauert nicht lange, bis Marianne vom Aussteigerleben genug hat. Angetrieben von der Sehnsucht nach Nervenkitzel verschwindet Marianne von der Insel und gerät noch tiefer in das kriminelle Milieu ihres vermeintlichen Bruders Fred.

Schon bald bittet sie Ferdinand um Hilfe, der erneut sein Leben für sie riskiert …

Was zu sagen wäre

Jean-Paul Belmondo auf abenteuerlichem Trip durch Frankreich. An der Hand eine schöne Frau. Um sich herum lauter Möglichkeiten. Und ein paar mordlustige Killer. Das klingt auf den ersten Blick, wie eine filmische Spielart seines letztjährigen Kinoerfolges Abenteuer in Rio. Und ist aber doch ganz etwas anderes. Ganz so, als habe Jean-Luc Godard (Außer Atem – 1960) eine grelle Parodie auf L'Homme de Rio vorgeschwebt, deren erster Schachzug ist, dass sein Film nicht im fernen Südamerika spielt, sondern im heimischen Frankreich zwischen einem regennassen Paris, in dem Menschen leben, die sich in Werbebotschaften miteinander unterhalten – die Herren besingen die bestechende Form ihrer Automobile, die Damen die durchdringende Strahlkraft von Haarspray und Gesichtscreme – und sich dabei schrecklich langweilen, und der sonnigen Côte d'Azur, an der sich Touristen, Tankstellenbetreiber und Gangster tummeln.

Godard hat alle Fesseln, die der Dreh eines Filmes mit sich bringt, abgeworfen und wild drauf los gedreht, nicht mal ein Drehbuch soll existiert haben, Jean-Paul Belmondo (Abenteuer in Rio – 1964; "Die Millionen eines Gehetzten" – 1963; "Der Teufel mit der weißen Weste" – 1963; "Ein Affe im Winter" – 1962; "Cartouche, der Bandit" – 1962; Der Panther wird gehetzt – 1960; Außer Atem – 1960) und seine Partnerin Anna Karina hatten viel Raum zu improvisieren. „Ich habe das Gefühl, ich bin Mehrere“, stöhnt Ferdinand auf einer Party mit lauter Werbebotschaft-Austauschern und stößt mit seinem Lied der Einsamkeit sofort auf Widerspruch: „Du redest zu viel. Das ermüdet ungeheuer!“ Die einzige, die ihn offenbar versteht, ist seine Ex-Freundin Marianne, die ihn beharrlich nicht Ferdinand nennt, sondern mit "Pierrot" anspricht. Was Ferdinand zu der wiederholten Replik verleitet „Ich heiße Ferdinand“. Und doch ist er beides. Einerseits ein in sich gekehrter Intellektueller, der mit der reichen Blase, in der seine Pariser Gattin lebt, nichts anfangen kann und der erst 50 Bücher haben will, bevor er eine Schallplatte kauft – „Literatur kommt vor Musik!“ Andererseits ein charmanter Filou, der Autos klaut und diese später übermütig ins Meer steuert. Marianne will nur diese Seite von Ferdinand. Die Ferdinand-Seite interessiert sie nicht: „Ich bin traurig, weil Du nur Worte für mich hast“, sagt sie, „und wenn ich Dich ansehe, dann empfinde ich.“ „Schade, dass Du Dich mit mir nicht unterhalten kannst.“ Marianne sagt, was sie denkt, Ferdinand denkt über das nach, was Marianne sagt. Die sieht aus, wie das sonnige Klischee der liebreizenden Französin, zartgliedrig, dünne rote Sommerkleidchen und scheinbar immer für eine erotische Unterbrechung des Alltags zu haben. Was ein bisschen zu Pierrot passt, aber so gar nicht zu Ferdinand.

Dass Ferdinand und Marianne früher mal ein Paar waren, wird nicht explizit erklärt, das muss man sich aus den teils improvisierten Dialogen erschließen, ist aber auch nur halb so wichtig. Als sie sich in Paris wiedersehen, sitzen sie bald auch schon im Auto nach Südfrankreich, nachdem sie in Mariannes Wohnung eine Leiche zurückgelassen haben, die irgendwie mit Waffenhandel und der französischen Untergrundbewegung OAS (Organisation de l’armée secrète), die im Algerienkrieg operierte, der 1963 endete, zusammenhängt; aber das spielt auch keine Rolle. Plakatmotiv: Elf Uhr nachts – Pierrot le Fou (1965) Eigentlich sind die Waffenschieber nur im Film, damit es am Ende ein feuriges Finale geben kann. „Ein Film ist wie ein Schlachtfeld“, sagt der amerikanische Regisseur Sam Fuller bei einem Gastauftritt: „Liebe, Hass, Action, Gewalt und Tod. In einem Wort: Emotion.“ Das will Godard im Folgenden dann mal ausprobieren. Sein Film hat all das; und da ist eine Handlung eher im Weg. Godard setzt lieber auf Bilder, über die Ferdinand aus dem Off philosophische Erkenntnisse und französische Literatur zitiert.

"Elf Uhr nachts" ist ein Film kolossaler Künstlichkeit, die er der pompösen Künstlichkeit der französischen Kinoindustrie gegenüberstellt. Erkennbar zieht Godard sich mehrfach ins Studio zurück, um Szenen von solcher Irrealität zu inszenieren, dass einem fortan jeder funkelnde Thronsaal im französischen Kino als stumpfe, billige Kulisse erscheinen wird. Godard zeigt keine Abfolge logischer Aktionen, es sind Bilder und Szenen, filmischer Impressionismus, die Dekonstruktion des zeitgenössischen Kinos. Godard trennt Bild von Dialog in zwei eigenständige, artifizielle Gebilde. Zwischendurch durchbricht er die Vierte Wand, spricht Belmondo die Zuschauer direkt an. „Mit wem sprichst Du da?“ „Mit dem Publikum.“ „Ach …“ Als ihnen das Geld ausgeht, versuchen sie sich als Straßenmaler, was die amerikanischen Touristen aber auch nicht zu Geldspenden animiert. „Wir könnten ihnen ein kleines Stück vorspielen.“ „Aber was?“ „Irgendwas. Was ihnen Spaß macht!“ „Dann weiß ich was: Vom Krieg in Vietnam.“ Sie führen also ein Stück über den Vietnamkrieg auf: Es fallen brennende Streichhölzer ins Wasser, die abstürzenden Flugzeuge darstellen sollen, Belmondo mit Kapitänsmütze trinkt Whisky aus der Flasche und sagt in einem fort Yeah! Oh yeah!! Und Marianne quatscht pseudoasiatischen Unsinn. Was ihnen gefällt, den Amerikanern. Das lässt sich über Godards Film sagen: Was den Zuschauern gefällt – Belmondo, Südfrankreich, Strand, Meer, ein bisschen Liebe, ein bisschen Abenteuer plus einem Spritzer Außer Atem-Frechheit. Hauptsache nicht mehr dieses Palast-, Pomp- und Puderspektakel mit Musketieren und Degen-Virtuosen, mit dem Frankreichs etablierte Kinoindustrie am laufenden Band die Kinos verstopft. Godard reduziert sein romantisches Abenteuer auf die Bilder und das irre machende Herzklopfen, das so eine verrückte Liebe hervorruft. Wenn der Film im Finale zunehmend in Gewalt eskaliert, sehen wir kaum mal einen Schuss, hören ihn höchstens und dann liegt jemand mit blutbesudeltem Oberteil am Boden. Explosionen werden über die Tonspur des Films verkauft oder als gefilmte Detonation, die aber nicht im gefühlten Zusammenhang mit der vorherigen Szene steht. Godard, der Filmkritiker, der zum Filmemacher wurde, hat einen verkopften Zugang zum Medium Kino – Explosionen braucht er, aber nicht unbedingt im Bild, negiert also, dass Kino allein ein Medium des Bildes ist. Dafür entwirft er zusammen mit seinem Kameramann Raoul Coutard Bilder, die so schön sind, dass sie uns in dieser abenteuerlichen Liebesgeschichte halten, auch wenn mal literarisch aus dem Off geraunt wird, oder Zusammenhänge im Improvisationstheater unterzugehen drohen.

Im Grunde ist das einzig Interessante im Leben der Weg, den die Seelen gehen“, grübelt Ferdinand aus dem Off. „Die Tragik liegt darin, dass wir wissen, wohin sie gehen, wer sie sind und dass doch alles geheimnisvoll bleibt. Und dass das Leben, das ewige Rätsel nie gelöst werden wird.“ So ist auch Godards Film: Ein Rätsel, das nie ganz gelöst werden kann. Pure Emotion.

Wertung: 3 von 7 D-Mark
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