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Plakatmotiv: Oppenheimer (2023)

Christopher Nolan kann inszenieren,
aber in diesem Film verzettelt er sich

Titel Oppenheimer
(Oppenheimer)
Drehbuch Christopher Nolan
nach der Biografie "American Prometheus: The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppenheimer" von Kai Bird und Martin J. Sherwin
Regie Christopher Nolan, UK, USA 2023
Darsteller
Cillian Murphy, Emily Blunt, Matt Damon, Robert Downey Jr., Alden Ehrenreich, Scott Grimes, Jason Clarke, Kurt Koehler, Tony Goldwyn, John Gowans, Macon Blair, James D'Arcy, Kenneth Branagh, Harry Groener, Gregory Jbara, Ted King, Tim DeKay, Steven Houska u.a.
Genre Biografie, Drama
Filmlänge 180 Minuten
Deutschlandstart
20. Juli 2023
Inhalt

In einer Anhörung über seinen Widerspruch gegen die Entziehung seiner Sicherheitsfreigabe blickt der Physiker Julius Robert Oppenheimer zurück: Auf seine Anfänge, sein Privatleben und vor allem auf die Zeit, als ihm während des Zweiten Weltkriegs die wissenschaftliche Leitung des Manhattan-Projekts übertragen wird.

Im Los Alamos National Laboratory in New Mexico sollen er und sein Team unter der Aufsicht von Lt. Leslie Groves eine Nuklearwaffe entwickeln. Oppenheimer wird zum "Vater der Atombombe" ausgerufen, doch nachdem seine tödliche Erfindung folgenschwer in Hiroshima und Nagasaki eingesetzt wird, stürzt seine Erfindung den gerade noch so jubelnden Oppenheimer in ernste Zweifel. In einer weiteren Anhörung soll Lewis Strauss als Handelsminister im Kabinett von Präsident Dwight D. Eisenhower bestätigt werden. Doch bald geht es um seine Beziehung zu Oppenheimer nach dem Krieg. Denn Strauss stand der amerikanischen Atomenergiebehörde vor, die von dem Physiker beraten wurde.

Als sich Oppenheimer immer stärker gegen Strauss und ein Wettrüsten mit Russland stellt und für eine internationale Kontrolle der Kernenergie plädiert, kommen die alten Verbindungen des Physikers zum Kommunismus wieder zur Sprache …

Was zu sagen wäre

Christopher Nolan ist Filmregisseur. Er erzählt Geschichten mit den Mitteln des Films. Da gehört es bisweilen dazu, dramatische Momente mit passend dramatischer Musik zu unterstreichen. Er ist ein versierter Filmemacher (Tenet – 2020; Dunkirk – 2017; Interstellar – 2014; The Dark Knight Rises – 2012; Inception – 2010; The Dark Knight – 2008; Prestige – Die Meister der Magie – 2006; Batman Begins – 2005; "Insomnia" – 2002; Memento – 2000). Jetzt erzählt er die Geschichte der Erfindung der Massenvernichtungswaffe schlechthin.

In seinem neuen Film, einer mehr oder weniger exakten Biografie des "Vaters der Atombombe", J. Robert Oppenheimer, verfilmt er einen der historischen Momente der jüngeren Menschheitsgeschichte. Und Nolan traut der Spannung dieser historischen Geschichte nicht. Glaubt nicht, dass der Zuschauer von sich aus gebannt davor sitzt, vielleicht sogar den Mund offen, die Hände um die Kinosessellehne gekrallt. Nein, Nolan braucht, und zwar sehr laut, Musik, die selbst den kargen Dialog dieser Szene übersoßt. Nolan donnert den Moment zu mit einem stumpf anschwellenden Score. Während der Countdown läuft bis zu dem Moment, an dem der Prototyp fällt und dann – hoffentlich (horrible dictu) – explodiert, schwillt die Musik an, wird immer lauter, wir sehen die verschiedenen an dem Test Beteiligten, sehen die Röhrenziffern, die den Countdown bilden, sehen allerlei Situationen, die den real runterlaufenden Countdown mit Szenen füllen, und die Musik wird immer noch lauter. Plakatmotiv: Oppenheimer (2023) Und dann macht es schließlich, nein, eben nicht BOOUUUMM, weil erstmal sehen wir nur einen sich entwickelnden Feuerball, der größer und größer wird und irgendwann die charakteristische Form des Pilzes annimmt, den wir seit unserer Kindheit als "Atompilz" erkennen. Die Musik ist mit dem Feuerball verstummt; abrupt. Es bleibt still im Kino bis zum natürlich folgenden BADABOOOUUMMM. Verschenkt. Nolan traut seinem Medium nicht, untermalt die aus sich heraus spannende, historisch einzigartige Situation – wir haben gerade jene Bombe, jene Möglichkeit atomarer Vernichtung der Welt, erfunden, die in das Gleichgewicht des Schreckens führt, das den Kalten Krieg erst erzeugte, der, zumindest in Europa, für 70 Jahre Frieden gesorgt hat – mit spannungsgeladener Musik vom derzeit allgegenwärtigen Komponisten Ludwig Göransson (Black Panther: Wakanda Forever – 2022; Rot – 2022; Tenet – 2020; Creed II: Rocky's Legacy – 2018; Venom – 2018; Death Wish – 2018; Black Panther – 2018; Central Intelligence – 2016; Creed: Rocky's Legacy – 2015) und verstummt erst in Ehrfurcht, wenn der Feuerball entbrennt. Dass die Countdown-Situation nach zwei Filmstunden gar keine spannungsgeladene Musik braucht, ja, dass die die Spannung verkünstelt, fällt dem Star unter den zeitgenössischen Filmemachern nicht ein. Christopher Nolan hat sich mit diesem Projekt verhoben.

Er will J. Robert Oppenheimer ein Denkmal setzen, eine Wiedergutmachung gewähren, die er nach Nolens Ansicht braucht. Auf drei Zeitebenen, deren logische Zusammenhänge sich der Zuschauer über die erste Filmstunde erarbeiten muss, entwickelt er das Porträt eines manischen Wissenschaftlers und mäßig begabten Handwerkers; ein Mann mit Schlag bei den Frauen. Cilian Murphy, ein ständiges Gesicht in Nolens Filmen (Anna: Die Agentin – 2019; Dunkirk – 2017; The Dark Knight Rises – 2012; In Time – Deine Zeit läuft ab – 2011; Tron: Legacy – 2010; Inception – 2010; The Dark Knight – 2008; "Sunshine" – 2007; Red Eye – 2005; Batman Begins – 2005; Unterwegs nach Cold Mountain – 2003; Das Mädchen mit dem Perlenohrring – 2003; 28 Tage später – 2002), spielt die Titelfigur als hageren Schlaks mit großen Augen, markanten Wangenknochen, der gerne hinter die Dinge schaut, brillante Theorien über die quantenmechanische Behandlung komplexer Fragen der Atomstruktur verfasst und in der wissenschaftlichen Welt als einer der großen Denker der Quantenmechanik gilt. Und wenn eine seiner Theorien bei praktischen Versuchen widerlegt werden, rechnet er solange, bis seine Berechnungen die Ergebnisse des praktischen Tests widerspiegeln. In seinem Kopf – also in Nolens Version des Oppenheimerschen Kopfes – detonieren immer wieder schwere Bomben; lange, bevor er die berühmte Atombombe erfindet, steht sie ihm in der Theorie zur Verfügung. In seinem Kopf. In der Praxis ist er nicht bewandert. Er hat sich in die junge Kommunistin Jean Tatlock verliebt, die ihn abwechselnd anzieht und wegstößt; bis er schließlich die zweifach geschiedene, zu viel Gin trinkende Kitty heiratet und mit ihr zwei Kinder zeugt. Als seine theoretisch erdachte Bombe Hunderttausende echte Menschen in Hiroshima und Nagasaki tötet, ist er zutiefst verzweifelt und warnt bei jeder Gelegenheit vor dem Bau weiterer Bomben oder gar der Entwicklung der noch größeren Wasserstoffbombe. Damit stellt er sich in Widerspruch zu einer US-Regierung, die geradezu darauf brennt, in ein Wettrüsten einzusteigen, es den Kommunisten in Russland aber mal richtig zu zeigen – also stellen ihn Hinterzimmerintrigen mächtiger Männer ins Abseits. Jahrelang wird Oppenheimer als vermeintlicher Kommunist aus der wissenschaftlichen Elite verbannt. Im Vorspann zum Film wird die Legende des Prometheus genannt, der den Göttern das Feuer stahl und dafür „in alle Ewigkeit gefoltert“ wurde. Nolan, der sich mit seinem Drehbuch auf das Sachbuch "American Prometheus: The Triumph and Tragedy of J. Robert Oppenheimer" von Kai Bird und Martin J. Sherwin bezieht, malt Oppenheimer als einen zeitgenössischen Prometheus.

Fantastisch, wie Nolan zwei Stunden lang, in denen dröge biografische Details, eine zunächst rätselhafte Anhörung sowie politische Ränkespiele erzählt werden, als Filmemacher die Spannung hochhält, die die Story selbst gar nicht in dieser Qualität widerspiegelt. Die Arbeit an der Kamera, die Montage und die Schauspieler halten uns gebannt bei der Sache, die uns nicht wirklich nahe kommt. Oppenheimer trifft auf Heisenberg, Oppenheimer vögelt Jean, Oppenheimer trifft Einstein, Oppenheimer schwängert Kitty, Oppenheimer trifft Nils Bohr und zwischendurch steht er immer wieder vor grünen Schiefertafeln, auf die er mit weißer Kreide sehr lange Formeln schreibt. Daraus entsteht bis zur entscheidenden Detonation der Testbombe "Trinity" keine Story, nichts, was uns wirklich mitnimmt, außer, dass wir, weil der Film seinen Namen trägt, Oppenheimer interessiert bei seinen Gedanken zuschauen, während Göranssons Score donnert. Warum Nolan die auf dem Kinoplakat aufdringlich beworbene IMAX-Kamera eingesetzt hat, bleibt bei einem Film, der zu 95 Prozent in Laboren, Besprechungsräumen, abendlichen Partys und Hörsälen spielt, ein Rätsel. Manchmal aber geht die Kamera raus ins Freie und erfasst die Weite der Hochebene Los Alamos in New Mexiko. Da möchte man dann im Kino einen tiefen Zug nehmen – Ah, endlich frische Luft. Diese Bilder sind großartig.

Nolan hat seine Geschichte wie ein Atom gespalten und die drei Zeitebenen dann zu einem komplexen Porträt eines Wissenschaftlers verdichtet, der an der Realität draußen vor seinen Laboren scheitert. Dem Unrecht getan wurde und der, hätte man auf seine Warnungen gehört, den Lauf der Geschichte nach dem Krieg ein zweites Mal verändert hätte. Plakatmotiv: Oppenheimer (2023) Aber, und auch das erzählt der Film mit Blick auf das Heute, Washington wollte die Bombe werfen, wollte die Machtdemonstration nach dem Motto: Wenn man die entscheidende Waffe hat, setzt man sie auch ein. War das gut oder schlecht? Die Antwort darauf überlässt der Film dem Zuschauer für den Wein nach dem Film. Aktuell hält draußen in der Realität Wladimir Putin nach eineinhalb Jahren Krieg in der Ukraine sein Atomwaffenarsenal verschlossen, wissend, was passieren würde, würde er es öffnen.

Der Film hat seine Momente – jeder Auftritt von Matt Damon als knurriger General Leslie Groves etwa (The last Duel – 2021; Le Mans 66 – Gegen jede Chance – 2019; Downsizing – 2017; The Great Wall – 2016; Jason Bourne – 2016; Der Marsianer – 2015; Interstellar – 2014; Monuments Men – 2014; The Zero Theorem – 2013; Elysium – 2013; Liberace – Zuviel des Guten ist wundervoll – 2013; Wir kaufen einen Zoo – 2011; Contagion – 2011; Der Plan – 2011; True Grit – 2010; Hereafter – Das Leben danach – 2010; "Green Zone" – 2010; Invictus – 2009; Ocean's Thirteen – 2007; Departed – Unter Feinden – 2006; Ocean's Twelve – 2004; Geständnisse – Confessions of a Dangerous Mind – 2002; Die Bourne Identität – 2002; Ocean's Eleven – 2001; All die schönen Pferde – 2000; Forrester – Gefunden! – 2000; Die Legende von Bagger Vance – 2000; Der talentierte Mr. Ripley – 1999; Dogma – 1999; Der Soldat James Ryan – 1998; Good Will Hunting – 1997; Der Regenmacher – 1997; Chasing Amy – 1997; Geronimo – Eine Legende – 1993). Oppenheimer trifft den General, der ihn als Leiter des "Manhattan"-Projekts anheuert und gleich knistert es: „Warum haben Sie keinen Nobelpreis?“ „Warum sind Sie nicht General?“ „Die werden mich nach diesem Projekt dazu machen!“ „Alfred Nobel der Stifter des Preises, hat das Dynamit erfunden.“ Endlich geraten die Dinge in Bewegung, endlich geht mal was los, denkt man. Aber Nolan verzettelt sich mit seinen steifen Bürokraten, dem schillernden Wechsel von Farb- und Schwarz-Weiß-Szenen – einem visuellen Stil, den er sich ohne tiefere Erkenntnisse als dramaturgisches Gefüllsel bei Oliver Stones Natural Born Killers (1994) abgeguckt hat – drei Zeitebenen mit unterschiedlichen Hearings und Meetings, aber was will er uns denn nun eigentlich erzählen? "Der arme Oppenheimer-Prometheus"? ”Oppenheimer, der vermeintliche Kommunist"? "Theorie und Praxis in der Wissenschaft"? Nicht erzählen will er von Oppenheimer und seinen Frauen. Florence Pugh (Black Widow – 2021; Little Women – 2019; "Midsommar" – 2019; The Commuter – 2018; Lady Macbeth – 2016) als Kommunistin Jean ist mehr oder weniger im Film, damit die Kamera eine nackte Frau zeigen kann. Emily Blunt als Ehefrau Kitty (Jungle Cruise – 2021; Mary Poppins' Rückkehr – 2018; A Quiet Place – 2018; Girl on the Train – 2016; The Huntsman & the Ice Queen – 2016; Sicario – 2015; Edge of Tomorrow – Live. Die. Repeat – 2014; Looper – 2012; Die Muppets – 2011; Der Plan – 2012; Der Krieg des Charlie Wilson – 2007; Der Teufel trägt Prada – 2006) bekommt ihren großen Moment im Film, führt bis dahin aber eher die Künste der Maskenbildner spazieren, die ihr Gesicht den erzählten Jahren und den Mengen an Alkohol, die sie in sich kippt, anpassen. Es ist schon wichtig in so einem dichten Film anhand einer Ehefrau und Kindern zu sehen, dass die Titelfigur auch ein Privatleben hatte – nur, dass wir daraus dann gar nichts sehen.

Dass sich dazu in jeder noch so kleinen Rolle auch mal ein veritabler Oscarpreisträger verbirgt – Gary Oldman als Präsident Truman, Rami Malek als David Hill, Kenneth Branagh als Nils Bohr und und und – unterstreicht Nolens Potenzgeschwengel, das er mit diesem Film projiziert: Guckt! Was ich kann!! Ich kriege sie alle!

Er kann sogar das komplexe Porträt eines interessanten Mannes gefällig inszenieren, ohne dabei spannend zu erzählen. In Hollywood hat er zurzeit Carte Blanche. Die bekommt keinem Künstler dort gut.

Wertung: 4 von 8 €uro
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