IMDB

Plakatmotiv: Tenet (2020)

Ein faszinierendes Spektakel
in einer Jagd rund um die Welt

Titel Tenet
(Tenet)
Drehbuch Christopher Nolan
Regie Christopher Nolan, UK, USA 2020
Darsteller
John David Washington, Robert Pattinson, Kenneth Branagh, Elizabeth Debicki, Dimple Kapadia, Aaron Taylor-Johnson, Clémence Poésy, Fiona Dourif, Andrew Howard, Wes Chatham, Himesh Patel, Martin Donovan, Anthony Molinari, Juri Kolokolnikow, Michael Caine, Jack Cutmore-Scott u.a.
Genre Action, Science Fiction
Filmlänge 150 Minuten
Deutschlandstart
26. August 2020
Inhalt

Ein CIA-Agent wird nach einem Einsatz bei einem Terroranschlag auf die Kiewer Oper enttarnt und überwältigt. Selbst unter Folter weigert er sich jedoch, seine Kollegen zu verraten und nimmt sich selbst das Leben – oder glaubt das zumindest.

In Wahrheit hat er so einen ultimativen Test bestanden und dadurch Zugang zu einer supergeheimen Organisation gewonnen, die versucht den Dritten Weltkrieg zu verhindern. Die Mitarbeiter stoßen immer wieder auf Gegenstände aus der Zukunft, die sich rückwärts in der Zeit bewegen – die sogenannte Inversion. Offenbar handelt es sich dabei um eine Kriegserklärung aus der Zukunft, deren Mittelsmann der russische Waffenhändler Andrei Sator ist.

Gemeinsam mit seinem neuen Partner Neil versucht der Protagonist, Zugang zu Sator zu erhalten und den Krieg der Zeiten zu verhindern. Eine Möglichkeit scheint Sators Ehefrau Kat zu sein …

Was zu sagen wäre

Versuchen Sie erst gar nicht, es zu verstehen“, mahnt eine Wissenschaftlerin gleich zu Beginn des Films. Und zum Glück für den Zuschauer im Kinosessel ist der namenlose Protagonist, dem diese Worte gelten, zwar ein cleverer Einzelkämpfer, aber kein Astrophysiker. Er versteht's auch nicht: rückwärts fliegende Kugeln? Ich schieße mit einer ungeladenen Waffe auf eine Wand, in der sich prompt ein Kugelloch schließt und dafür plötzlich eine Patrone im Magazin meiner Waffe steckt?

Nun, es handelt sich um invertierte Patronen, und … aber das ist in der Tat nur ein MacGuffin, der nur dazu da ist, die handelnden Figuren in Bewegung zu bringen. Der Film dauert zweieinhalb Stunden, in denen viel über die „Umkehrung der Entropie“ und „invertierte Materie“ geredet wird, und wir das mit dieser Inversion tatsächlich noch ein bisschen besser verstehen lernen – bis dann im großen Finale normale Soldaten auf invertierte Soldaten mit normalen und mit invertierten Waffen treffen, die einen laufen vorwärts, die anderen rückwärts, Hubschrauber starten, die eigentlich rückwärts landen, Wände explodieren und bauen sich wieder zusammen. Da hat es mit dem Verständnis in diesem Hin- und Herspringen zwischen Normal und Invertiert bald ein Ende, aber dafür ist die Action grandios inszeniert, sind die Bilder prachtvoll und komplex, und wenn wir uns einfach an den Protagonisten halten, kommen wir schon mit, denn die Mission, der MacGuffin ist das Ziel, die vorwärts und rückwärts laufenden Männer sind die großartig visualisierte Umsetzung einer Storyline, die in gefühlt jedem zweiten Agentenfilm erzählt und in jeder TV-Serie mit FBI- oder CIA-Agenten: Spezialkommando jagt einen superreichen Kriminellen, der die Welt zerstören will und dafür nur noch ein Puzzleteil braucht – dieses Puzzleteil ist der erwähnte MacGuffin, der hier "Algorithmus" genannt wird. Kino ist ein Medium des Bildes. Hier werden die Geschichten über die Bilder, die in ihnen stecken, erzählt. Christopher Nolan schafft mit wenig Wort, aber klug komponierten Einstellungen große Klarheit im temporalen Dickicht.

Nolan ist neben Quentin Tarantino der letzte Autorenfilmer im Multimillionen Dollar Segment in Hollywood (Dunkirk – 2017; Interstellar – 2014; The Dark Knight Rises – 2012; Inception – 2010; The Dark Knight – 2008; Prestige – Die Meister der Magie – 2006; Batman Begins – 2005; "Insomnia" – 2002; Memento – 2000). Die Studios trauen ihm die großen Budgets an, auch wenn Nolan verspricht, es ordentlich kompliziert zu machen, die Zuschauer also möglicherweise zu überfordern; vor sowas haben Studiobosse große Angst: Überforderte Zuschauer machen schlechte Mundpropaganda, sorgen für schlechte Kasse. Bei Christopher Nolan drücken die Bosse ein Auge zu und bezahlen ihm auch noch eine echte Boeing 747, die er in ein Gebäude krachen lässt. Nolan enttäuscht sie nicht. Es geht vorwärts und rückwärts in der Zeit, gleichzeitig im selben Frame? Warum nicht? Als Warner-Bros.-Boss muss man ja nur die Streaming-Dienste abonnieren. Da feiert bei Netflix gerade die deutsche Serien-Trilogie "Dark" weltweit Erfolge, in der eine Geschichte auf fünf Zeitebenen und zwei Parallelwelten erzählt wird, in der eine Mutter die eigene Tochter, ein Junge sein eigener Onkel und gleichzeitig sein Enkel ist – das Publikum versteht offenbar mehr, als die Produzenten zeitgenössischer Marvel-Spektakel etwa ihnen zutrauen.

Und dann erzählt Nolan auch erst einmal was ganz anderes. Denn bei dem potenziellen Weltenzerstörer kann man nicht einfach so an der Haustür klingeln, man muss sich an ihn heran arbeiten. Und so jagt er seinen Protagonisten um die Welt von einem Schauplatz zum anderen, lässt ihn eine Boeing 747 in ein Zollgebäude krachen, die Frau des Schurken umgarnen, prügelnd und schießend aus Gefahrensituationen entkommen, lässt ihn kaum zur Ruhe kommen. Das ist eine kurzweilige Jagd nach dem Dings; die schließlich nach einer Spektakelraserei auf einer Autobahn mit vorwärts und rückwärts fahrenden Autos schief geht. Die Mission scheitert!

Während wir uns im Kinosessel noch fragen, ob nicht die anderen, normalen Menschen, die im Film unterwegs sind, sich über rückwärts laufende Männer und rückwärts fahrende Autos wundern und womöglich ihre Handykamera zücken könnten, was dem supergeheimen Geheimprojekt der Zeitkrieger nicht dienlich wäre, schaltet Nolan einen Gang höher. Neben dem russischen Oberschurken ist da ja noch die Zukunft, die eigentliche Gegnerin, „die uns den Krieg erklärt hat“. Plakatmotiv: Tenet (2020) Der Protagonist wird in der Folge invertieren und wieder exvertieren, sich vorwärts und rückwärts durch die Zeit bewegen, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Jetzt wird aus dem Agentenfilm der gehobenen Klasse ein Überraschungs-Ei, dessen grellen Wendungen wir folgen können, weil wir zuvor gut darauf vorbereitet worden sind.

Kurz: Ein großes Spektakel. Aber letztlich ohne Drama. Was dem Film fehlt, sind Charaktere, um die wir uns im Kinosessel sorgen. Das sind wir im Zeitalter der gefühlig ausgewalzten, psychologisierenden TV–Serien nicht mehr gewöhnt: Bilderwelten, die sich nicht über die Emotionalisierung ihrer Hauptfiguren verkaufen. So gesehen ist "Tenet" jetzt das Nolan–pur–Projekt. Er hat in seinen Filmen immer wieder Spaß daran gehabt, die Statik der Zeit aufzuweichen (Memento – 2000), die Schwerkraft aus den Angeln zu heben (Interstellar – 2014), hat dabei immer auf stimmige Figuren geachtet. Erst die kleinen Menschen machten seine interdimensionalen Abenteuer für zeitgenössische Sehgewohnheiten begreifbar. Der Mann mit ausgeschaltetem Kurzzeitgedächtnis in Memento vor 20 Jahren, dessen eigene Geschichte als Erzählung nicht innovativ ist, aber durch dieses einfach gestrickte Narrativ Spannung aufbaut, weil der Filmregisseur Nolan diese Geschichte vorwärts rückwärts erzählt. Für Interstellar hob er 2014 Zeit, Statik und Schwerkraft aus den Angeln, was er uns über ein letztlich naives Vater-Tochter-Dilemma begreifbar machte. Was Nolan von Psychologisierung von Kinofiguren hält, zeigt er exemplarisch an der Figur des Joker in Batman — The Dark Knight. Der erzählt seinen künftigen Opfern gerne, warum er ist, wie er ist, schlimme Kindheit, prügelnder Vater, trinkende Mutter und so was. Allerdings erzählt der Joker jedes Mal eine andere Geschichte. Und macht sich damit über die zwanghafte Erklärungswut im Kino, warum Menschen tun was sie tun, lustig. Reduziert man Nolans Filmstorys auf das Wesentliche, dann hat man sie schon hundertmal gesehen. Fächert man sie auf mit den Bildern, die er findet, taucht man in ein ganz neues Universum ein.

Bei "Tenet" setzt er dieses Prinzip radikal um. Hier sind seine Figuren reine Funktionsfiguren – augenscheinlich will niemand aus eigenem Antrieb irgendwas, ist bei genauem Hinsehen Spielball seines schon stattgefunden Schicksals. Der Schurke, der mit Mächten aus der fernen Zukunft über tote Briefkästen in Kontakt steht, will die Erde durch Inversion von allem vernichten, die endgültige Schubumkehr in der Raumzeit des Universums. Dieser Schurke wird als Arschloch aus Russland gezeichnet, eines, das seine Frau schlägt und, wenn sie am Boden liegt, noch einmal nach tritt. Dazu rollt er einen russischen Akzent über die Zunge, wie wir ihn zuletzt in den James Bond-Filmen aus den 1960er Jahren gehört haben.

Kenneth Branagh spielt diesen Typen mit rauer Stimme und ohne jeden Charme (Mord im Orient-Express – 2017; Jack Ryan – Shadow Recruit – 2014; Thor – 2011; 1 Mord für 2 – 2007; Harry Potter und die Kammer des Schreckens – 2002; The Gingerbread Man – 1998; Mary Shelleys Frankenstein – 1994; Viel Lärm um nichts – 1993; Peter's Friends – 1992; Schatten der Vergangenheit – 1991). Aus seiner Grausamkeit bekommt seine Ehefrau, die man auch seine Gefangene nennen könnte, ein bisschen eigenes Flair. Elizabeth Debicki (Widows – Tödliche Witwen – 2018; Guardians of the Galaxy Vol. 2 – 2017; Codename U.N.C.L.E. – 2015; Der große Gatsby – 2013) hat die Funktion der eleganten Damsel in Distress. Am klarsten pointiert Nolan die Funktionsfigur in der Hauptfigur, der nicht mal mehr einen Namen hat; im Abspann heißt er schlicht The Protagonist. Ein Spezialagent mit unbekannter Geschichte, der Flugmeilen und Infohäppchen sammelt, die ihn ans Ziel bringen sollen. Wir wissen nichts von ihm, wir erfahren nichts über ihn. Er ist so eine Art Alleskönner. Entsprechend stoisch spielt das John David Washington (Ein Gauner und Gentleman – 2018; BlacKkKlansman – 2018) – routiniert, ohne dass man anschließend sein Gesicht besser kennen würde. Robert Pattinson, ehemals der bleiche Vampir aus den "Twighlight"-Filmen, der hier den Partner des Namenlosen spielt, zeigt, dass er zuschlagen und sogar lachen kann.

In Interstellar hat Christopher Nolan 2014 die Zeit als etwas inszeniert, das nicht fließt, sondern gleichzeitig ist – alles passiert Jetzt. Diesen Gedanken treibt er in "Tenet" einen großen Schritt weiter. Über so Dinge wie das Großvater-Paradoxon – wenn ich in der Vergangenheit meinen Opa ermorde, wie kann ich dann geboren werden, um in die Vergangenheit zu reisen, um meinen Opa zu töten? – dessen Erwähnung in jeder modernen Zeitreisegeschichte erwähnt wird, auch in "Tenet", sollte man nicht nachdenken. Nicht nur, weil es zuverlässig das Gehirn verquirlt, sondern man auch sofort den Faden verliert – Nolan versteckt Erklärungen manchmal in nur wenigen Frames. Nach-denken geht ohnehin kaum. Da sorgt Nolan für, indem er nicht vom Gaspedal geht und wir im letzten Drittel dann nicht mehr wissen, ob wir gerade vorwärts oder rückwärts unterwegs sind, und wir zur Orientierung auf rückwärts fliegende Vögel und Rauch, der im Schornstein verschwindet, achten müssen – in Bildern, in denen einzelne Akteure während der Dreharbeiten tatsächlich rückwärts gelaufen sind, auch wenn sie im fertigen Film dann vorwärts laufen. Nolan sucht das reale Bild, wo immer es sich fotografieren lässt, die CGI-Meister mit den Green-Screens, die wir aus den Marvel- und Star Wars-Filmen kennen, kommen in "Tenet" kaum zum Einsatz. "Tenet" ist ein Film von fantastischer Visualität, der den Kopf noch lange beschäftigt.

Nolan hat bis jetzt nie Fortsetzungen seiner Filme gedreht. Aber ich ahne schon die TV-Serie, die aus den Zeitkriegern gemacht werden wird.

Wertung: 8 von 8 €uro
IMDB