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Plakatmotiv: Mord im Orient-Express (2017)

Elegante Verfilmung eines
bekannten Christie-Mordfalls

Titel Mord im Orient-Express
(Murder on the Orient Express)
Drehbuch Michael Green
nach dem gleichnamigen Roman von Agatha Christie
Regie Kenneth Branagh, USA, UK, Malta, Frankreich, Kanada, Neuseeland 2017
Darsteller

Kenneth Branagh, Penélope Cruz, Willem Dafoe, Judi Dench, Michelle Pfeiffer, Daisy Ridley, Johnny Depp, Josh Gad, Derek Jacobi, Leslie Odom Jr., Lucy Boynton, Sergei Polunin, Olivia Colman, Tom Bateman, Marwan Kenzari, Manuel Garcia-Rulfo u.a.

Genre Crime
Filmlänge 114 Minuten
Deutschlandstart
9. November 2017
Inhalt

Hercule Poirot reist im Orient-Express heim nach Belgien. Der Zug bleibt auf einem Viadukt stehen, weil die Lokomotive wegen einer Schneelawine entgleist ist. Da wird in der Nacht der Kunsthändler Ratchett ermordet. Poirot ermittelt gegen die übrigen Reisenden – einer von ihnen muss der Täter sein. Da wären die spanische Missionarin Pilar Estravados, die Gouvernante Mary Debenham, Professor Gerhard Hardman, die Witwe Mrs. Hubbard und der Doktor Arbuthnot, doch bald wird Poirot klar, dass die Spur zum Mörder über das Opfer führt. Er muss sich beeilen, denn es ist nicht klar, ob der Täter eventuell noch einmal zuschlägt.

Poirot kann herausfinden, dass die genannten Mitreisenden alle in Verbindung mit dem Armstrong-Fall stehen: Daisy, die Tochter des Ehepaars Armstrong war entführt und getötet worden, obwohl Lösegeld gezahlt wurde. Ratchett war in Wahrheit der flüchtige Daisy-Mörder Cassetti.

Die spanische Missionarin Estravados war das Kindermädchen der Armstrongs, Debenham war dort Gouvernante, Hardman war ermittelnder Polizist und mit der unschuldig Verurteilten liiert, Mrs. Hubbard ist Daisys Großmutter und der Doktor Regimentskamerad sowie Protegé Armstrongs. Außerdem sind der Sohn des damaligen Staatsanwalts und der Butler der Armstrongs involviert …

Was zu sagen wäre

Am Ende kennen nur zwei die ganze Wahrheit“, raunt der belgische Detektiv: „Gott der Allmächtige. Und Hercule Poirot.“ Diese Ausprägung des belgische Detektivs, den wir schon mit so vielen Gesichtern auf Leinwand und Bildschirm gesehen haben, ist in vollem Ernst von sich überzeugt.

Wir Älteren können diesen Film nicht sehen, ohne das große Kinostück von Sidney Lumet aus dem Jahre 1974 vor Augen zu haben, in welchem Albert Finney den Belgier als – durchaus von sich überzeugten – verschmitzten kleinen Mann spielte; nach ihm kam Peter Ustinov, der jenen Tod auf dem Nil klärte, zu welchem in der neuen Verfilmung Kenneth Branagh als Poirot nun erst gerufen wird. Auch Ustinov gab dem genialen Detektiv ein Augenzwinkern, gepaart aber mit unnachgiebiger Strenge, wenn jemand seine Genialität anzweifelte.

Ein Augenzwinkern bietet die neue Verfilmung nicht. Der neue Hercule Poirot ist ein strenger Moralist mit manischem Tick. Ungleichgewichte erträgt er nicht. In Jerusalem tritt er zu Beginn des Films mit dem rechten Fuß in die Hinterlassenschaft eines Pferdes. Zum Ausgleich tritt er auch mit dem linken Schuh hinein; er kann nicht anders, kann sich sonst nicht mehr konzentrieren. Dies sei seine Gabe, erzählt er einem Sergeanten. Er spüre, wenn Recht und Unrecht aus der Balance gerieten und könne den Grund dafür sehen „so deutlich, wie die Nase in Ihrem Gesicht".

Dass er sich bereit erklärt, den Mord im Zug aufzuklären, hat aber dann nichts mit Ungleichgewichten zu tun – eigentlich will Poirot endlich mal Ruhe haben, eine Pause. Die Ermittlungen nimmt er erst auf, als der Eisenbahnchef ihm erklärt, wenn er den Fall nicht löse, würden die jugoslawischen Behörden (in deren Land der Zug feststeckt) „Mr. Marquez hängen, nur weil er Marquez heißt. Oder Dr. Arbuthnot wegen seiner Hautfarbe“. Rassismus und die hieraus erwachsene Motivation, einen Schwarzen zu beschützen, ist neu in Agatha Christies Orient Express und er spielt im weiteren Verlauf noch eine Rolle. Der Hercule Poirot des 21. Jahrhunderts muss, zumindest im Kino, aufgeklärter und gesellschaftlich neutraler agieren, als sein literarisches Vorbild aus dem Jahr 1934. Der Regisseur Kenneth Branagh neigt zur psychologischen Dramatisierung seiner Stoffe (Jack Ryan – Shadow Recruit – 2014; Thor – 2011; 1 Mord für 2 – 2007; Mary Shelleys Frankenstein – 1994; Viel Lärm um nichts – 1993; Peter's Friends – 1992; Schatten der Vergangenheit – 1991). Er ist im Umfeld großer Shakespeare-Mimen in seinen Beruf hinein gewachsen. Seine Frankenstein-Version aus dem Jahr 1994 ist beredtes Zeugnis seines psychologisierenden Furors. Jetzt widmet er sich dem Mord im Orient-Express.

Eine Gruppe Reisender aus verschiedenen Ländern, unterschiedliche Gewichte – die schwatzhafte Witwe, der vernarbte Gangster, ein serviler Butler, ein verschüchtertes Dienstmädchen, ein Professor, ein streng religiöses Mädchen, der Schaffner – und ein Mord. Dessen Hergang weltbekannt ist. Oder auch nicht?

Wer in den 1980er Jahren und später geboren worden ist, mag, wenn das Fernsehen eine der alten Verfilmungen zeigte, eher einen anderen Kanal gewählt haben, gehört heute aber zur Kernzielgruppe des Films, der sich nicht an das junge Popcornkino-Publikum wendet – auch wenn Branagh ein paar Actionszenen einbaut, die seinen Film aber nur aus seiner Balance kippen. In Branaghs Zielgruppe wird also die ein oder der andere sein, den er noch mit der Mördersuche fesseln kann. Wer dann aber Agatha Christies Roman gelesen hat, kennt den/die Mörder/in und muss auf Schauwerte vertrauen.

Der "Mord im Orient-Express" von 2017 ist visuell berauschendes Kino. Es ist, wie im Theater, das regelmäßig neue Inszenierungen alter Stücke zeigt – und der Vergleich zwischen städtischer Bühne und großer Hollywood-Opulenz hinkt nicht mal: Hier wie dort haben wir begrenzten Schauraum, worin viele Schauspieler ein Drama aufführen; und damit ist der alte Shakespeare-Recke Branagh ganz in seinem Element.

Plakatmotiv: Mord im Orient-Express (2017)Er widersteht der Versuchung, jedem Hochkaräter in seinem Team tiefenpsychologische Szenen ins Script schreiben zu lassen – als Rampensau agieren bei ihm er selbst als Poirot, Michelle Pfeiffer als heißblütige Witwe Caroline Hubbard (Mother! – 2017; Malavita – The Family – 2013; Dark Shadows – 2012; Happy New Year – 2011; Gemeinsam stärker – Personal Effects – 2009; Schatten der Wahrheit – 2000; An deiner Seite – 1999; Tage wie dieser … – 1996; Aus nächster Nähe – 1996; Dangerous Minds – 1995; Batmans Rückkehr – 1992; Frankie und Johnny – 1991; Das Russland-Haus – 1990; „Die fabelhaften Baker Boys“ – 1989; Gefährliche Liebschaften – 1988; Tequila Sunrise – 1988; Die Mafiosi-Braut – 1988; Die Hexen von Eastwick – 1987; Der Tag des Falken – 1985; Kopfüber in die Nacht – 1985; Scarface – 1983), die ihren großen, dramatischen Auftritt zum Höhepunkt des Films bekommt, und Johny Depp, der zwar das Mordopfer spielt und damit zeitig verschwindet, dafür im Vorfeld aber einen Wortwechsel mit Hercule Poirot mit großer Geste spielt, sehr amüsant, wunderbar anzuschauen (Pirates of the Caribbean: Salazars Rache – 2017; Lone Ranger – 2013; Dark Shadows – 2012; The Tourist – 2010; Alice im Wunderland – 2010; From Hell – 2001; Blow – 2001; Chocolat – 2001; Sleepy Hollow – 1999; Die neun Pforten – 1999; Fear and Loathing in Las Vegas – 1998; Don Juan DeMarco – 1994; Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa – 1993; Edward mit den Scherenhänden – 1990; Platoon – 1986).

Der Rest des großen Cast – mit durchaus großen Namen darin – spielt souverän als Ensemble, ohne Große-Filmstars-Momente. Das trägt zur Ruhe bei, die der Film über weite Strecken ausstrahlt.

Das gilt auch für die Kameraarbeit. Branagh arbeitet an der Kamera seit vielen Filmen mit Haris Zambarloukos zusammen, der Poirots Mordermittlung in ruhigen, fast schwebenden Einstellungen erzählt. Nachdem das Vorgeplänkel des Films erledigt ist, Poiroit löst in Jerusalem einen Fall an der Klagemauer, etablieren Branagh und Zambarloukos eine lange Plansequenz, die damit beginnt, dass am Bahnhof in Istanbul der zuständige Schaffner die Passagiere zum Zug ruft. Dann findet die Kamera Poirot und seine Entourage, die, während alle den Bahnsteig entlang hasten, versucht, ihm noch ein Erste-Klasse-Abteil im schon voll besetzten Zug zu besorgen. Als sich noch eine Passage findet, steigt Poirot in den Zug, murmelt „Abteil Nr. 3. Das bedeutet Schwierigkeiten!“ und läuft Caroline Hubbard in die Arme, die ihn sofort zutextet. Die Kamera ist die ganze Zeit bei Poirot, aber außerhalb des Zuges geblieben, von wo aus sie ihn verfolgt, während er innen von Waggon zu Waggon geht, zwischenzeitlich die schwatzhafte Witwe wieder verliert, an allen Personen vorbeikommt, die im Folgenden eine Rolle spielen werden, bis er sein Abteil findet – eine Einstellung, die alle Figuren inklusive des sehr eleganten, mit aller Pracht versehenen Zugs zusammenbringt. Lange Einstellungen begleiten uns durch den Film. Das Auffinden der Leiche wird aus einer langen Einstellung aus der Vogelperspektive gezeigt – ohne die Leiche selbst zu zeigen.

Es ist mehr Inszenierung als Erzählung. Irgendwann verlassen die Figuren auch mal den Zug, manche bekämpfen sich auf eisiger Brücke, Mary Debenham – gespielt von Daisy Ridley, Heldin der aktuellen Star Wars-Trilogie – befragt der Detektiv an in der Eiseskälte gedecktem Tisch mit Silberkanne. Das tut der Konzentration des Dramas nicht gut, die komplexen Zusammenhänge des Wer-ist-Wer-und-hat-mit-Wem-Warum-Wann geraten aus dem Fokus, verschwimmen. Und wenn dann alles gesagt ist, erhebt sich der große Moralist, der umständlich noch zeigen muss, dass auch er, Poirot, noch etwas zu lernen in der Lage ist. Das ist offenbar dem Umstand geschuldet, dass eine Dramatis Persona im zeitgenössischen Kino eine psychologische Entwicklung durchmachen muss.

Agatha Christies Lösung in ihrem Roman, der im Januar 1934 erschien, ließ aufhorchen, weil sie Mörder mit Selbstjustiz davonkommen ließ. Im Buch überlässt Poirot es Eisenbahndirektor Bouc, welche seiner beiden Lösungsvorschläge Bouc an die Behörden geben will. Das ist einfach, ohne Schnörkel. Branaghs Poirot braucht an dieser Stelle nochmal fünf Minuten des Regisseurs Branagh, um mit sich und dem Zuschauer ins Reine zu kommen. Heutzutage reichen „Gott der Allmächtige und Hercule Poirot“ allein offenbar nicht mehr aus, um gesellschaftliches Ungleichgewicht wieder in Balance zu bringen.

Wertung: 5 von 8 €uro
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