Hollywood im Februar 1969: Die Karriere Rick Daltons hat ihren Zenit überschritten. Jahrelang war er die Heldenfigur in der TV-Serie "Bounty Law", da spielte er einen coolen Kopfgeldjäger im Wilden Westen – treffsicher, spruchsicher, und immer eine selbstgedrehte im Mundwinkel. Aber in Hollywood ist eine neue Zeit angebrochen, die der gebrochenen Helden.
Das Musikfestival in Woodstock wirft erste Schatten voraus, die NASA will in ein paar Wochen Menschen auf den Mond schießen, und diese Mondfahrer sehen ganz anders aus als die schnell schießenden Cowboys. Die coolen Kerle, wie sie Steve McQueen auf der großen Leinwand verkörpert, weichen dort dem wortkargen Antihelden, dem sympathischen Kerl von nebenan. Rick Dalton wird mittlerweile dauernd für "Piloten" gecastet, Filme, mit denen die Studios ein neues Serienkonzept testen wollen. Und Rick wird als Schurke geholt, nicht als der strahlende Held; ein sicheres Zeichen, sagt sein Agent, dass Ricks Zeit bald zu Ende ist. Warum er nicht nach Europa gehe und ein paar Italowestern drehe, fragt der Agent, was Dalton empört zurückweist, so einen Quatsch wolle er nicht machen.
Ricks Best Buddy ist Cliff, sein Stuntdouble damals am Set von "Bounty Law" mit bewegter Vergangenheit. Die war so bewegt, dass sein Stuntmanjob nicht so recht voran kommt und er in der Zwischenzeit als Ricks Fahrer, Hausmeister, Mädchen für alles und Zeitvertreiber fungiert.
In Ricks direkter Nachbarschaft oben am Cielo Drive ist vor kurzen Roman Polanski eingezogen mit seiner Frau Sharon Tate. Polanski gilt seit seinem Film Rosemaries Baby als der ganz heiße Scheiß in Hollywood und ein bisschen erhofft sich Rick einen Vorteil aus dieser Nachbarschaft.
Diesen Vorteil wird er bekommen. Nur anders, als er sich das wohl gedacht hat …
Achtung: Spoiler unvermeidlich
Ziemlich genau zur Hälfte des Films rastet Rick Dalton in seinem Trailer aus. Er hatte in den Szenen, die er gerade gedreht hat, ein paar Texthänger und das ist ihm peinlich, dem großen Star von vor ein paar Jahren, der verzweifelt gegen sein Verblassen anspielt, sich dann aber doch jeden Abend acht Whiskey Sour einkippt. In dem Moment fällt mir der Untertitel des Films, den ich gerade sehe, ein: „Der 9. Film von Quentin Tarantino“.
Das ist es: Der 9. ist vielleicht schon der eine zu viel. Das kennen wir von anderen großen Regisseuren. Auch Spielberg, Scorsese oder Coppola haben nach ihren atemberaubenden ersten Filmen routinierte Respektfilme gedreht, schwerblütige "Meisterwerke" mit hohem Moralanspruch, denen der Unterhaltungsfaktor peinlich geworden war. Das macht Tarantino nun nicht. Aber er ist nicht mehr hungrig. Sein achter Film, The Hateful 8, hatte ja wenigstens noch die gewohnt scharfen Dialoge. Die gibt's hier auch nicht mehr. Und schwieriger: Eine Geschichte, eine Story, wird auch nicht erzählt. Bestenfalls kann man (vielleicht) behaupten, der Film erzähle, eingerahmt von Beobachtungen über den Niedergang der Karriere eines ehemaligen TV-Stars, vom unverbrüchlichen Band tief empfundener Buddyliebe. Der sich stets verkannt fühlende Großschauspieler Leonardo DiCaprio als gebrochener Held mit Anspruchshaltung (The Wolf of Wall Street – 2013; Der große Gatsby – 2013; Django Unchained – 2012; J.Edgar – 2011; Inception – 2010; Shutter Island – 2010; "Zeiten des Aufruhrs" – 2008; "Der Mann, der niemals lebte" – 2008; "Blood Diamond" – 2006; Departed – Unter Feinden – 2006; Aviator – 2004; Catch Me If You Can – 2002; Gangs of New York – 2002; The Beach – 2000; Celebrity – Schön, reich, berühmt – 1998; Titanic – 1997; William Shakespeares Romeo & Julia – 1996; Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa – 1993) und Brad Pitt, der seinen Sunny-Charme in der goldenen Sonne Kaliforniens spazieren führen darf, sind für diese Liebesgeschichte perfekt besetzt. Der ehemalige Stuntman, der im Hintergrund Erfolge feiert, reicht seinem weinenden Star, der im Vordergrund Erfolge gefeiert hat, die Sonnenbrille zum Imageschutz: „Weine niemals vor Mexikanern!“ Mehr als Situationen dieser Art passiert eigentlich nicht.
Brad Pitt spielt seinen Stuntman Cliff als einen schlagkräftigen Sonnyboy (Ad Astra – Zu den Sternen – 2019; Deadpool 2 – 2018; The Big Short – 2015; Herz aus Stahl – 2014; The Counselor – 2013; World War Z – 2013; Die Kunst zu gewinnen – Moneyball – 2011; Inglourious Basterds – 2009; Der seltsame Fall des Benjamin Button – 2008; Mr. & Mrs. Smith – 2005; Troja – 2004; Geständnisse – Confessions of a Dangerous Mind – 2002; Ocean's Eleven – 2001; Mexican – 2001; Snatch – Schweine und Diamanten – 2000; Fight Club – 1999; Rendezvous mit Joe Black – 1998; Vertrauter Feind – 1997; Sleepers – 1996; 12 Monkeys – 1995; Sieben – 1995; Legenden der Leidenschaft – 1994; "Interview mit einem Vampir" – 1994; True Romance – 1993; Kalifornia –1993; Aus der Mitte entspringt ein Fluss – 1992; Thelma & Louise – 1991), der das Leben leicht nimmt. Der durch Los Angeles cruist, Jobs für seinen Kumpel erledigt. Dieser Cliff hätte allen Grund, mit dem Leben zu hadern. Ihm hängt der Vorwurf nach, seine Frau ermordet zu haben; konnte nicht bewiesen werden, aber im Job hat's nicht geholfen. Einmal verprügelt er am Set die Martial-Arts Ikone Bruce Lee. Prompt wird er gefeuert und quasi mit einem Studio-Bann belegt. Aber er bleibt der lockere Sonnyboy ohne Existenzangst, solange er seinen Hund an seiner Seite weiß oder ein Hitchhiker-Hippiemädchen nach Hause bringen kann.
Die Hippies ziehen sich wie ein roter Faden durch den Film. Es sind die Mitglieder der "Charles Manson Family", von der der Zuschauer vorher wissen sollte, dass Mitglieder dieser Family in der Nacht vom 8. auf den 9. August 1969 in das Haus von Roman Polanski eingedrungen sind und dort neben anderen Gästen auch Polanskis hochschwangere Ehefrau Sharon Tate ermordet haben (ein für die weitere Filmgeschichte in Real World einschneidender Moment, der alles verändert). Wenn man das nicht weiß, baut sich über 161 Minuten keine Spannung auf und ergibt der Film nach 161 Minuten auch keinen Sinn.
Über Cliff also bekommen wir einen ersten Kontakt zu den Hippies, die im realen 1969 im Straßenbild so viel vertreten waren, wie heute Leute, die Sneakers tragen. Der Summer of Love mit Woodstock kündigte sich an. Während wir Rick Dalton an verschiedenen Filmsets und in verschiedenen TV-Rollen seinem vergangenen Ruhm nachjagen sehen, wo er in einer der schönsten Szenen des Films auf eine achtjährige Method-Actrice trifft – die entfernt an die junge Jodie Foster erinnert –, die auch in den Drehpausen bitte mit ihrem Rollennamen angesprochen werden möchte, „um in der Rolle bleiben zu können“, erleben wir mit Cliff ein wenig Zeitgeist of 69. Wobei dieser Zeitgeist sich scharf an der Gesetzeslage orientiert: Stuntman Cliff chauffiert da ein aufreizendes Hippiemädchen nach Hause, die 25-jährige Margaret Qualley (The Nice Guys – 2016; Palo Alto – 2013) hat hier einen nachhaltigen Auftritt, fasst sie aber – trotz eindeutiger Angebote – nicht an, weil sie sich nicht als volljährig ausweisen kann. Das ist, in jener Zeit, in jener Branche so gut wie nicht zu glauben. Aber erstens spielt Brad Pitt diesen Cliff, dem man plötzlich ansieht, dass zwischen seinem Kinodurchbruch in Thelma & Louise (1991) und heute auch schon eine Generation Mensch herangewachsen ist, und zum anderen hat Quentin Tarantino das Drehbuch geschrieben und seine Intention ist eindeutig nicht, Hollywood schlecht aussehen zu lassen. Er schreibt, wie schon in Inglorious Basterds oder Django Unchained die Geschichte so um, wie er sie gerne gehabt hätte.
Tarantino macht diesen Film aber nicht, um das Leben und Arbeiten im Filmstudio zu verklären. Er macht ihn, um der mörderischen Manson-Family in den Arsch zu treten. Er erfindet nicht die Buddys Rick & Cliff, die in direkter Nachbarschaft zu Roman Polanski und Sharon Tate wohnen, um dann dokumentarisch – mit eingeblendeten Urzeiten und Off-Sprecher wie in Mörder-Dokus – die Blutnacht vom 9. August 1969 nachzuerzählen. Tarantino war damals sechs Jahre alt und die Blutnacht, mehr noch das Echo darauf in den folgenden Jahren, haben ihn geprägt. Das hat er im Vorfeld des Filmstarts in mehreren Interviews betont. Und so hat er nun also einerseits ein historisch verbürgtes Drama, das er nicht erzählen will, andererseits Figuren in einem Drama, das keines ist. Ist das verwerflich? Ja. Aber nicht bei Tarantino.
Tarantino ist im Zeitalter der austauschbaren Marvel-Erfolgsregisseure (die die wenigsten mit Namen kennen) der letzte Autorenfilmer von Rang in Hollywood. Er allein bekommt 100 Millionen Dollar, um (irgend)einen Film zu drehen. Der Autor/Künstler nutzt dieses Privileg weidlich. Und 30 Minuten vor Schluss wissen wir auch, wofür. Da schwadronieren die Manson-Killer sich zu Opfern der Krimiserien im Fernsehen. „Jetzt killen wir die, die uns in zig TV-Folgen gelehrt haben, dass nur Gewalt die richtige Antwort ist!“ Das ist eine Ausrede, die diverse Killer für sich in Anspruch genommen haben – der Typ, der in den USA Besucher eines Batman-Films umbrachte; ein anderer nahm Oliver Stones Natural Born Killers als Ausrede, Menschen zu töten – und die Tarantino, diesen Bewunderer des Kinos, buchstäblich rasend machen. Die Mitglieder der Manson Family in seinem Film werden bitter büßen für ihre Behauptung, das Fernsehen/Kino sei schuld an ihrer Gewalt.
Eine halbe Stunde vor Schluss also enthüllt sich, warum es diesen Film gibt. Das macht ihn nicht besser, lässt mich aber die kunstvoll gefilmten, stark gespielten, wunderbar inszenierten Nichtigkeiten davor in anderem Licht betrachten. Künstler gehen auf dem Regiestuhl halt manchmal Umwege – anders als die namenlosen Marvel-Regisseure, die sofort gefeuert werden, wenn sie nicht hart auf Studio-Linie inszenieren. Tarantino, dieser die Genres durchrüttelnde Movie-Nerd, hat hier zum ersten mal kein Genre zerlegt, indem er einen neuen Genrefilm kreiert. Statt dessen hat er einer Empörung Lauf gelassen und daraus ein eigenständiges Drama entwickelt.
Aber dieser Film hallt nach. Wegen seiner künstlerisch hoch entwickelten Erzähltechnik. Er ist eine Art Erinnerungsalbum aus Tarantinos Kindheit – und für einen Sechsjährigen war es damals unvorstellbar, dass man Sharon Tate (Tanz der Vampire – 1967) tötet, die am Anfang einer vielversprechenden Kinokarriere stand. Das will sich einer wie Quentin Tarantino nicht entgehen lassen.
Bei der Oscarverleihung im Februar 2020 war "Once upon a time in Hollywood" in zehn Kategorien nominiert und wurde zwei Mal ausgezeichnet:
- Bester Film (David Heyman, Shannon McIntosh, Quentin Tarantino)
- Regie (Quentin Tarantino)
- Original-Drehbuch (Quentin Tarantino)
- Hauptdarsteller (Leonardo DiCaprio)
- Supporting Actor (Brad Pitt)
- Kamera (Robert Richardson)
- Kostüm (Ariane Philips)
- Ausstattung (Barbara Ling, Nancy Haigh)
- Ton (Wylie Stateman)
- Tonschnitt (Michael Minkler, Christian P. Minkler, Mark Ulano)
Tarantino hat enorm viel Material für "Once Upon a Time in Hollywood" gedreht. Deshalb sind in der 161 Minuten langen Kinofassung viele Szenen und ganze Gastauftritte dem Schnitt zum Opfer gefallen. Daher soll es laut Nicholas Hammond, der im Film den Regisseur Sam Wanamaker spielt, Gespräche darüber geben, eine vier Stunden lange Schnittfassung von "Once Upon a Time in Hollywood" als Miniserie bei Netflix zu veröffentlichen. So ist bereits mit Tarantinos The Hateful 8 verfahren worden.
Quentin Tarantino, Filmregisseur
Der 1. Film von Quentin Tarantino: Reservoir Dogs – Wilde Hunde (1992)
Der 2. Film von Quentin Tarantino: Pulp Fiction (1994)
Der 3. Film von Quentin Tarantino: Jackie Brown (1997)
Der 4. Film von Quentin Tarantino: Kill Bill, Vol. I & Vol. II (2003/2004)
Der 5. Film von Quentin Tarantino: Death Proof – Grindhouse, Part 2 (2007)
Der 6. Film von Quentin Tarantino: Inglourious Basterds (2009)
Der 7. Film von Quentin Tarantino: Django Unchained (2012)
Der 8. Film von Quentin Tarantino: The Hateful 8 (2015)
Der 9. Film von Quentin Tarantino: Once upon a Time in Hollywood (2019)