IMDB

Plakatmotiv: Kalifornia (1993)

Ein Psycho-Roadtrip in die
Abgründe des Menschen

Titel Kalifornia
(Kalifornia)
Drehbuch Stephen Levy & Tim Metcalfe
Regie Dominic Sena, USA 1993
Darsteller

Brad Pitt, Juliette Lewis, David Duchovny, Michelle Forbes, Kathy Larson, David Milford, John Zarchen, David Rose, Tommy Chappelle, Judson Vaughn, James Michael McDougal, Patricia Sill, Brett Rice, Marisa Raper, Bill Crabb u.a.

Genre Crime, Drama
Filmlänge 117 Minuten
Deutschlandstart
25. November 1993
Inhalt

Serienmörder üben eine starke Faszination auf den Journalisten Brian Kessler aus. Er und seine Freundin, die Fotografin Carrie, unternehmen eine Reise durch die USA, klappern dabei die berüchtigsten Tatorte ab und sammeln so Material für ihr Buch. Eine Frage treibt sie im Speziellen an: „Was unterscheidet den Killer vom Normalo?“ 
Um die Fahrtkosten zu teilen, annoncieren Brian und Carrie ihren Trip. Nur ein Pärchen meldet sich auf die Anzeige: Early Grayce und Adele Corners, White Trash, wie er im Buche steht, und somit das vollendete Gegenbild zu den yuppiesken Brian und Carrie.

Am ersten Tag der Reise macht Early einen ungehobelten Eindruck und Adele fällt durch ihre kindliche Naivität auf, sodass Carrie die Mitnahme der beiden bereits kritisch sieht. Beim nächsten Tankstop ist Early an der Reihe zu bezahlen. Dieser beschafft sich das Geld, indem er einen Kunden der Tankstelle auf der Toilette überfällt und brutal tötet …

Was zu sagen wäre

Hätte ich die beiden einsteigen lassen? Das ist die Gretchenfrage, die über diesem Film schwebt. Die beiden, das sind Early und Adele, die sich auf die Anzeige zum Mitfahren gemeldet haben und nun wenig Vertrauen erweckend am Straßenrand auf Brian und Carrie warten. Geschickt führt der Film seine Zuschauer am selbstgewissen Habitus durch den Kinosaal: Hättest Du sie einsteigen lassen? Early und Adele, offensichtliche Unterschicht, ungewaschen, sagt man nicht White Trash? Carrie hat gleich abgewunken, drängte Brian zum Durchstarten. Aber Brian ist nicht so. Er urteilt Menschen nicht gleich ab, nur weil sie billig gekleidet sind. Auf einer Party hat er gerade erst heftig Partei ergriffen für Serienmörder, hinter deren Taten er immer eine Motivation sieht, die man ihnen nicht abstreiten dürfe. Todesstrafe für einen Serienkiller? No way! Sagt Brian. Da ahnen wir im Kinosessel schon, dass er diese Haltung bis zum Abspann nicht wird durchhalten können. Bist Du Brian? Oder bist Du Carrie?

Carrie liebt ihren Brian, auch wenn der ein Träumer ist. Es ist lustig mit ihm. Carrie versucht gerade, sich als Fotografin einen Namen zu machen. Aber das klappt noch nicht so recht. Jetzt hat Brian diesen Auftrag, ein Buch über Serienmorde zu schreiben und er will, dass sie die Fotos dazu macht. Auf einer Tour im Cabrio nach Kalifornien. Schön! Wenn nur diese beiden Typen nicht wären. Das Böse an diesem Film ist, dass die Zuschauer, als Early und Adele zusteigen, schon wissen, dass Early zwei Menschen ermordet hat. Und also, selbst, wenn sie eher Brians humanistischer Haltung anhängen, wissen, dass Carrie mit ihren (noch) Vorurteilen Recht hatte und sie die beiden besser nicht hätten zusteigen lassen. So liegt über den ersten 45 Minuten des Films vor allem diese Vorsicht-Kasper-da-kommt-das-Krokokodil-Spannung, die wir seit dem ersten Besuch im Kasperl-Theater nie mehr ganz abgelegt haben – sowohl der Kasper als auch das Krokodil sind unter Dominic Senas Regie allerdings erwachsener verpackt, als damals im Theater. Sena feiert die amerikanische Landschaft, lässt sein Quartett durch grandiose Panoramen gleiten und filmt das in spektakulär schönen Farben. Plakatmotiv: Kalifornia (1993) Irgendwann schallt vom Soundtrack „I get my Kicks on Route Six Six“. Großes Americana nahe am Stilbewusstsein eines Edward Hopper.

Wahre Amerikaner sitzen auch im Auto. Zwei Arrivierte und zwei aus der Unterschicht; im Auto sind alle gleich, jeder fährt mal, jeder zahlt mal. Nur, dass Brian seine Ausgaben vorher kalkuliert hat. Wenn Early Geld braucht, bringt er halt rasch jemanden um. Das ahnt Brian zwar nicht, findet Early aber doch irgendwie ganz okay, vor allem, als er mit ihm in dieser Trucker-Absteige Pool spielt, ihn dieser Typ anmacht und Early den gleich zu Boden schlägt. In dieser Welt kennt sich Early eindeutig besser aus als Brian. Und als Early ihm später seine Waffe zeigt und er damit auch mal schießen darf, ist da doch nichts weiter dran und natürlich auch cool. Brian würde zu gerne wissen, warum so viel Wut in Early steckt und vermutet, das habe seine Ursache in einem gestörten Verhältnis zu seinem Vater. Während Early sich wundert, wie Brian ein Buch über etwas schreiben kann, wovon er keine Ahnung hat, wenn er doch noch nie jemanden getötet hat. Zur selben Zeit haben sich auch Carrie und Adele angefreundet. Carrie macht Adele die Haare, dafür lackiert die Carrie die Fußnägel. Adele ist knappe 20 Jahre alt und erschreckend naiv, hält ihren Early für einen guten Menschen, der sie halt nur hin und wieder mal schlägt, „wenn ich es verdient habe“. Hätte man die beiden ins Auto einsteigen lassen sollen? Carrie sieht sich in ihren Befürchtungen bestätigt. Und als etwas später zwei Polizisten in ihrem Blut liegen, Early den noch zuckenden erschießen will, ruft Brian „Das ist nicht Dein Vater, Early!“ und der antwortet „Das weiß ich, Mann!“ als dann der tödliche Schuss fällt, wird auch dem Bildungsbürger langsam klar, dass nicht jeder Mörder immer einen psychisch codierten Grund braucht. Brian forscht Serienmördern nach, deren Motiv lautet „Ich wollte berühmt sein.“ Manche, wie Early, leben und töten aus dem Moment heraus, willkürlich, wollen nicht berühmt sein, nur die paar Dollar aus der Tasche von dem Toten haben.

Mit unserer Ahnung, dass Brian seine humanistische Haltung gegenüber Serienmördern nicht durchhalten wird, liegen wir gar nicht so falsch. Das Roadmovie ist ein Subgenre, das seine Protagonisten auf einen Trip in die eigene Befindlichkeit schickt. Am Ende sind sie erwachsen, erlöst, am Ziel, reich, ausgestiegen, was auch immer. Für junge Schauspieler ist das Roadmovie die große Chance, zu zeigen, was sie drauf haben. Besonders hervor tut sich hier das White-Trash-Pärchen, bei dem Juliette Lewis als naive Adele noch besser ist als Brad Pitt, der seinem Image als Knackarsch-Schönling (Aus der Mitte entspringt ein Fluss – 1992; "Cool World" – 1992; Thelma & Louise – 1991) mit fettigen Haaren, löchrigen Strümpfen und schlechten Manieren mal gehörig auf die Füße tritt. Juliette Lewis aber (Ehemänner und Ehefrauen – 1992; Kap der Angst – 1991; Meine Stiefmutter ist ein Alien – 1988) spielt das naive Dummchen, das wie ein kleines Kind nicht sieht was es nicht sehen will und jeden gleich als dicken Freund ins Herz schließt; sie spielt das Opfer einer von Gewalt geprägten Kindheit so überzeugend, dass ich mich für das dümmliche Lachen der Anschluss suchenden jungen Adele tatsächlich schäme. Juliette Lewis bietet eine grandiose Performance.

Wenn der Abspann läuft, verdaue ich ein sehr ärgerliches Happy End, das wie vom Studio aufgezwungen wirkt, um dem Zuschauer nach diesem düsteren Psycho-Roadtrip einen freundlichen Nachhause-Weg zu gönnen. aber auf diesem Nachhause-Weg weiß ich dann auch: Es ist besser, auf die Freundin mit den altmodischen, spießigen Ansichten zu hören und Early und Adele lieber nicht einsteigen zu lassen.

Wertung: 8 von 10 D-Mark
IMDB