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Plakatmotiv: Babylon – Rausch der Ekstase (2022)

Visuell berauschend
ohne Überraschung

Titel Babylon – Rausch der Ekstase
(Babylon)
Drehbuch Damien Chazelle
Regie Damien Chazelle, USA 2022
Darsteller

Brad Pitt, Margot Robbie, Diego Calva, Jean Smart, Jovan Adepo, Li Jun Li, Olivia Hamilton, Tobey Maguire, Lukas Haas, Max Minghella, Rory Scovel, Katherine Waterston, Flea, Jeff Garlin, Eric Roberts, Samara Weaving, Olivia Wilde, Spike Jonze, Jennifer Grant, Phoebe Tonkin u.a.

Genre Drama, Geschichte
Filmlänge 189 Minuten
Deutschlandstart
19. Januar 2023
Inhalt

Die Geschichte des Kinos ist ein ständiger Wandel und die Technik entwickelt sich immer weiter. Manny Torres, ein ehrgeiziger Sohn mexikanischer Einwanderer, erlebt diesen Fortschritt hinter den Kulissen der Traumfabrik mit eigenen Augen.

Doch es bahnt sich eine tiefe Krise für etablierte Stars wie Jack Conrad oder aufstrebende Sternchen wie Nellie LaRoy an, denn der Tonfilm steht vor der Tür. Die größten Stars der Branche müssen um ihre Karriere fürchten, während Jazz, opulente Partys, Sex, Drogen und Alkohol Hollywood immer noch immer fest im Griff haben.

Die Epoche, in der das Kino das Sprechen erlernt hat, ist für viele Schauspieler eine Zeit des Abschieds. Vor allem, wenn es mit dem Geld knapp wird, können es auch Publikumsmagneten wie Nellie LaRoy nicht vermeiden, sich mit fadenscheinigen Gestalten einzulassen – und plötzlich geht es nicht nur vor der Kamera um Leben und Tod …

Was zu sagen wäre

Wenn es überhaupt noch einer weiteren filmische Aufarbeitung der schmerzhaften Tatsache bedarf, dass die Filmindustrie in Hollywood ein amoralisches, menschenverachtendes, todbringendes, verlogenes Stück Dreck ist, dann am besten so, wie es Damien Chazelle uns hier liefert. Ob Ein neuer Stern am Himmel 1954 mit Judy Garland und James Mason, Der letzte Tycoon 1976 mit Robert de Niro, Der lange Tod des Stuntman Cameron 1980 mit Peter O'Toole, "Grüße aus Hollywood" 1990 mit Meryl Streep, The Player 1990 von Robert Altman, Hail, Caesar! 2016 von den Coen-Brüdern oder Regeln spielen keine Rolle 2016 von Warren Beatty (der wahrlich aus erster Hand erzählen konnte) – immer wieder hat uns das Kino hoffnungsfrohe Jungtalente gezeigt, die im Kinogeschäft aufsteigen und abstürzen, einmal, 1950 in Alles über Eva mit Bette Davis wurde auch die renommierte, dem Film eng verwandte Theatercommunity als kalt und herzlos gezeigt, was eher eine Bestätigung der Regel als deren Relativierung war.

Damien Chazelle versucht es mit der Lockvogelmethode und wirft erst einmal mit Scheiße um sich. Mitte der 1920er Jahre soll ein Elefant als Attraktion auf einer dieser legendären Hollywoodparties vorgeführt werden. Der muss dafür mit zwei klapprigen Lastern über einen Berg transportiert werden, öffnet in diesem wackligen Vehikel vor lauter Angst seine Schließmuskel und versenkt einige der transportierenden Billiglöhner in literweise braunem Schlamm. Dafür bietet aber die anschließende Party alles, was man glaubt, immer schon über Hollywood gewusst zu haben. Es ist die Stummfilmära: Kreative Glücksritter – tatsächlich in ihrer Mehrzahl Juden, die an der Ostküste von den dortigen Geschäftsleuten geschnitten wurden, was aber im vorliegenden Film nicht thematisiert wird – hatte es aus dem kühlen Osten an die sonnige Westküste nach Kalifornien verschlagen, wo die Sonne an 365 Tagen im Jahr gute Lichtverhältnisse versprach und wo sie munter drauf los drehten, Abenteuerfilme, Liebesgeschichten, alles, was die Fantasie der Drehbuchautoren oder Produzenten hergab. Es waren anarchische Zustände. Und so waren auch die Parties, auf die uns Chazelle dann einlädt.

Die erste Stunde des Films unterstreicht alle Gerüchte über jene frühen Tage des Filmschaffens: Auf der Party spielt ein großes Orchester zum Tanz auf, es wird gekokst und gevögelt, als gäbe es kein Morgen, eine tot gebumste Jungschauspielerin wird unauffällig an der Partygemeinde vorbei entsorgt; am nächsten Tag stolpert der größte Kinostar jener Zeit sturzbetrunken durch seine Szenen, während im Hintergrund hunderte unterbezahlter Statisten bei Massenszenen verramscht werden – oder durch Unfälle getötet; aber das scheint damals nicht ernsthaft verfolgt worden zu sein.

In dieser ersten Stunde lernen wir alle Hauptfiguren des Films und die menschenverachtende Industrie kennen. Das Produktionsbudget von "Babylon" lag bei kolportierten 110 Millionen Dollar. Mehr als die Hälfte dieses Budgets muss in die erste Stunde des Drei-Stunden-Films geflossen sein. In der tobt diese Party, die mit dem Adjektiv ausschweifend nur unzureichend umschrieben ist, und werden die Massenszenen für eine historische Kriegsromanze aufgeboten – also das, was wir normalerweise auf Filmfestivals in drei Filmen aus jener Zeit serviert bekommen, serviert uns Chazelle in einer einzigen Filmstunde.

Eingewoben in diesen visuellen Overkill sind die Träume und Hoffnungen zweier Unbedeutender. Nellie LaRoy will kein Star werden, sie sieht sich schon als solchen, ist halt nur noch nicht entdeckt worden – Margot Robbie interpretiert hier ein bisschen ihre eigene Karriere; sie wirkte auch, als sie in The Wolf of Wall Street der Weltöffentlichkeit bekannt wurde, als wäre sie schon immer der Star, der sie heute ist (The Suicide Squad – 2021; Birds of Prey: The Emancipation of Harley Quinn – 2020; Bombshell – Das Ende des Schweigens – 2019; Once Upon a Time In… Hollywood – 2019; I,Tonya – 2017; Suicide Squad – 2016; Legend of Tarzan – 2016; The Big Short – 2015; Focus – 2015; The Wolf of Wall Street – 2013; Alles eine Frage der Zeit – 2013). Der Mexikaner Manny Torres träumt lediglich davon, an etwas mitzuwirken, „das bleibt“. Jack Conrad ist schon ein … nein, der Filmstar jener Zeit, immer wieder neu verheiratet und mit einem ordentlichen Alkoholproblem ausgestattet, welches bei Dreharbeiten im Stummfilmzeitalter nicht ins Gewicht fällt – Hauptsache, der Junge sieht charmant aus; dass er lallt hört man ja nicht. Außerdem treten auf ein begnadeter schwarzer Musiker und eine vielseitige Asiatin. Plakatmotiv: Babylon – Rausch der Ekstase (2022) Deren Schicksale werden uns nach dieser ersten Powerplay-Filmstunde in Ruhe vorgeführt. Überraschungen? Keine. Nellie avanciert aufgrund ihres lasziven Spiels zum Star der ausklingenden Stummfilmära. Manny steigt wegen seines bemerkenswerten Organisationstalents zum Studioleiter auf. Jack Conrads gestanzte Liebesschwüre klingen im Tonfilm derart lächerlich, dass seine Karriere bald zu Ende ist – als langsamer absterbender Star am Kinohimmel gibt Brad Pitt eine melancholische Vorstellung (Bullet Train – 2022; The Lost City – Das Geheimnis der verlorenen Stadt – 2022; Ad Astra – Zu den Sternen – 2019; Once Upon a Time in Hollywood – 2019; Deadpool 2 – 2018; The Big Short – 2015; Herz aus Stahl – 2014; The Counselor – 2013; 12 Years a Slave – 2013; World War Z – 2013; Die Kunst zu gewinnen – Moneyball – 2011; Inglourious Basterds – 2009; Der seltsame Fall des Benjamin Button – 2008; Burn After Reading – 2008; Ocean's 13 – 2007; "Babel" – 2006; Mr. & Mrs. Smith – 2005; Ocean's Twelve – 2004; Troja – 2004; Geständnisse – Confessions of a Dangerous Mind – 2002; Ocean's Eleven – 2001; Mexican – 2001; Snatch – Schweine und Diamanten – 2000; Fight Club – 1999; Rendezvous mit Joe Black – 1998; "Sieben Jahre in Tibet" – 1997; Vertrauter Feind – 1997; Sleepers – 1996; 12 Monkeys – 1995; Sieben – 1995; Legenden der Leidenschaft – 1994; "Interview mit einem Vampir" – 1994; True Romance – 1993; Kalifornia –1993; Aus der Mitte entspringt ein Fluss – 1992; "Cool World" – 1992; Thelma & Louise – 1991). Der schwarze Musiker ist den Produzenten im Scheinwerferlicht nicht schwarz genug und die Asiatin zu lesbisch.

An dieser Stelle hat Chazelles visuell mitreißender, erzählerisch aber platter Film einen interessanten Punkt: Der Stummfilm war eine Ära des Anything Goes. Es wurde einfach gedreht, was sich verkaufte, Regeln gab es noch keine. Als der Tonfilm sich durchsetzte, ging das zeitlich einher mit der großen Depression – die Menschen stürzten massenweise in Arbeitslosigkeit und Armut und lechzten nach Ablenkung. Während die Filmleute ihr Handwerk nochmal neu lernen mussten – es gibt im Film eine hinreißende Szene, in der das Studio erstmals einen Tonfilm dreht. Nellie LaRoy muss durch eine Tür kommen, an einer vorbestimmten Markierung, über der das Mikrofon hängt, stehen bleiben und einen Satz sagen; es geht siebenmal schief wegen irgendeinem Tonärgernis und am Ende ist der Kameramann in seiner schallisolierten Kabine erstickt – waren laszive Stars in kurzen Röckchen, die sich nicht um das Morgen scherten, nicht mehr gefragt. Gute amerikanische Moral musste her, Partygirls und homosexuelle Liebe waren amoralisch, harte Kriegskerle, die „Ich liebe Dich“ deklamieren, als wäre es eine Regierungserklärung, wurden als Märchenfiguren ausgelacht; Asiatinnen wurden als gefährliche Exoten entsorgt, schwarze Musiker, eben noch als Kassenmagnet gefeiert, mussten ihr Gesicht mit Kohlenstaub ganz schwarz schminken, oder unbezahlt nach Hause gehen.

Die Leinwand made in Hollywood wurde brav und weiß.

Darin liegt der inhaltliche Benefit dieses visuell überbordenden Films. Indem er zeigt, dass der oft erzählte Übergang vom Stumm- zum Tonfilm – am berührensten erzählt wahrscheinlich in Singin' in the Rain (1952) – auch ein Übergang war von der zügellosen, die Moral beiseite schiebenden Anarchie des frühen Hollywood hin zum ertragsorientierten Geschäftsmodell der heutigen Filmindustrie.

"Babylon" war kein Erfolg an den Kinokassen. Den 110 Millionen US-Dollar Produktionsbudget standen am Ende nur 63,4 Millionen Dollar Einspiel gegenüber. Der Film ist aber ein visuell mitreißendes Drama, das sein Herz nicht in den im Vorfeld viel beworbenen Bildern der Sexparty hat, sondern in den stillen Momenten später, wenn die ach so anarchischen, künstlerischen Filmproduzenten als Diener der politisch korrekten Haltung, Jahrgang 1930, über Leichen gehen.

Wertung: 5 von 8 €uro
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