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Plakatmotiv: I, Tonya (2017)
Ein Ereignis. Komisch.
Gemein. Subjektiv.
Titel I, Tonya
(I, Tonya)
Drehbuch Steven Rogers
Regie Craig Gillespie, USA 2017
Darsteller Margot Robbie, Sebastian Stan, Allison Janney, Julianne Nicholson, Paul Walter Hauser, Bobby Cannavale, Bojana Novakovic, Caitlin Carver, Maizie Smith, Mckenna Grace, Suehyla El-Attar, Jason Davis, Mea Allen, Cory Chapman, Amy Fox u.a.
Genre Biografie, Komödie
Filmlänge 120 Minuten
Deutschlandstart
22. März 2018
Website itonyamovie.com
Inhalt

Bei der ehemaligen Eiskunstläuferin Tonya Harding stapelt sich das dreckige Geschirr, und auch im Gefühlsleben der früheren Profisportlerin hat sich einiges aufgestaut. Da ist zum einen die Erinnerung an ihre kettenrauchende und ständig alkoholisierte Mutter Lavona Golden, mit der sie permanent stritt, wobei auch einmal ein Messer fliegen konnte. Von ihrem ersten Freund und späteren Mann Jeff Gillooly setzte es regelmäßig Prügel, und nachdem sie sich von ihm getrennt hatte, schoss er sogar auf sie.

Jeff hat einen Freund, der ein noch größerer Loser ist als er selbst. Der lebt bei seinen Eltern, hat keinen Job aber etwa 100 Pfund zuviel Fett am Leib und erzählt jedem, der ihm ein Bier ausgiebt, er arbeite „für Geheimdienstorganisationen“. Der wird als Bodyguard engagiert, und als es dann nicht gut läuft mit Tonyas Leistung kurz vor den Olympischen Spielen 1994, in einem letzten Anlauf, obwohl sie langsam zu alt wird für den Hochleistungssport und vom Kellnern lebt wie einst Mama - da haben die beiden Jungs eine Idee für echte Spatzenhirne: Sie engagieren zwei weitere Vollpfosten, um Tonyas Rivalin Nancy Kerrigan auszuschalten, indem er ihr von bezahlten Schlägern ein Bein brechen lassen wollte.

Dabei legen sie eine Spur so breit, dass das FBI eher Gefahr lafen könnte, sich in den zahllosen Beweisen zu verzetteln, aber keine Chance hätte, sie zu übersehen …

Was zu sagen wäre

Diese Geschichte spielt in einer Welt, in der eine Mutter ihre Tochter mit der Drahtbürste schlägt und mit dem Messer bewirft; und wenn sie Ich liebe Dich ausdrücken will, „Ich bin auf Deiner Seite“ sagt. Diese Geschichte spielt in einer Gesellschaft, in der man heute die Donald-Trump-Wähler verortet – Mütter schlagen ihre Töchter, Ehemänner schlagen ihre Frauen, tumbe Typen brechen einer olympischischen Eisprinzessin das Bein, what the fuck. Diese Geschichte spielt in der glitzernden Welt des Eiskunstlaufs; in einer verlogenen Scheißwelt also, in der Schein alles, das Sein nichts bedeutet.

Ein böses, zynisches, großartig erzähltes Drama mit mitreißendem Soundtrack, einer gewaltigen Kameraleistung, fantastischen weil bescheidenen Special Effects und mit zum Niederknien guten Schauspielern.

Wir wollen eine gesunde, amerikanische Familie sehen“, sagt der Preisrichter Tonya nach einem wieder mal schlechten Ergebnis. Er sagt ihr das in der Tiefgarage, wo er auch gleich betont, das niemals öffentlich zu wiederholen; so ähnlich, wie damals Deep Throat gesellschaftsrelevante Wahrheiten ausgeplaudert hat, die später US-Präsident Richard Nixon zu Fall brachten. Nein: Öffentlich sagen die Preisrichter, Tonya sei halt nicht so gut, nicht so anmutig wie die Konkurrenz, die wohl härter für den Erfolg arbeiten würde. Öffentlich spielt es keine Rolle, dass Tonya sich ihr Training mit der Frühschicht als Kellnerin verdienen muss; aber, dass sie als einzige den dreifachen Tulip steht – als einzige Eistänzerin in den Vereingten Staaten von Amerika – das spielt sogar öffentlich keine Rolle. Das Komitee will so eine nicht, will nicht tanzen mit den Schmuddelkindern.

Soll sie halt nicht geliebt werden wollen. Soll sie halt kellnern. Und das Tanzen auf dem Eis den lächelnden Prinzesschen im Strasskleid mit den reichen Eltern überlassen – die anschließend vielleicht auf einen Hamburger bei ihr reinschauen. Dies ist ein Film, der nicht nur auf der Leinwand stattfindet, sondern auch im Zuschauerraum. Dies nicht nur, weil die Protagonisten während dieser fiktiven, nicht fiktiven, nachgestellten TV-Dokumentation – der Modebegriff dafür lautet Mocumentary –, die dem Spielfilm „I, Tonya“ als Rahmen dient, während der Interview-Sequenzen ständig in die Kamera, also dem Zuschauer in die Augen gucken. Sondern auch, weil es das Tonya-Harding-Nancy-Kerrigan-Drama ohne uns TV-Zuschauer in dem Ausmaß nicht gegeben hätte: „Sie wollen jemanden, den sie lieben können. Aber sie wollen auch jemanden, den sie hassen können.

Diese Geschichte spielt nämlich auch in der Welt der Medien, die in jenen Jahren einer Metamorphose unterzogen waren, als sich den große Networks neue Konkurrenten auf dem privaten TV-Markt entgegenstellten, die mit aggressivem 24/7-live-Draufhalten um Zuschauer buhlten und mit der Kerrigan-Harding-Sache ihren ersten Quotenhit verbuchten. Aber Quoten werden mit Zuschauern gemacht. Und solche sitzen nun mal auch jetzt im Kinosaal. Der Skandal ging viral, als es den Begriff viral noch gar nicht gab, als 1994 Tonya Harding beschuldigt wurde, sie habe ihrer Rivalin Nancy Kerrigan die Kniescheibe mit einer Eisenstange zertrümmern lassen. Tonya Harding wurde dadurch weitaus berühmter, als sie es mit einer Goldmedaille bei den Olympischen Spielen je geworden wäre; aber auch: berühmter, als ihr lieb war. Sie war erledigt, als herauskam, dass tatsächlich ihr Mann und ihr Bodyguard hinter dem Anschlag auf Kerrigan steckten.

Der Film legt keinen Wert darauf, die Wahrheit aufzudecken – Wer wusste was wann wie und wo? – schon weil es, wie Tonya sagt, „die eine Wahrheit gar nicht gibt“. Regisseur Craig Gillespie („Fright Night“ – 2011; Lars und die Frauen – 2007) will sein Publikum unterhalten, wirft sich dafür ganz unverblümt in die Arme der mutmaßlichen Täter und zeigt deren Perspektive, inklusive der Abgründe an Dämlichkeit, die sich uns da offenbaren. Der Harding-Clan – oder vielleicht besser: der Hardy-Ex-Clan – erzählt seine Geschichte, und zwar in, wie es zu Beginn heißt, „komplett ironiefreien Interviews“. Da leugnen sie dann meist frontal in die Kameras, was wir gerade gesehen haben und alle sind sie Opfer: Lavona hat sich aufgeopfert, damit die Kleine eislaufen kann, Tonya ist Opfer der Brutalität von Jeff, der wiederum ein Opfer der Umstände ist.

Da wird eine Gegenbewegung, eine Rückbesinnung deutlich im modernen Kino: Die Subjektivität, die diesen Film trägt und die sich jedem politisch korrekten, allgemein gültigen Gesellschaftsbild widersetzt, wirkt plötzlich spannend, anders, einzigartig. Wie schön, wenn mit Black Panther plötzlich ein Film von Afroamerikanern mit Afroamerikanern, die die Welt retten, sich anschickt, der kommerziell erfolgreichste Film aller Zeiten zu werden. Wie beruhigend, wenn in Star Wars, Episode VIII, eine Truppe sich anschickt, die Galaxis zu retten, die geschlechtlich wie ethnisch so ausgewogen besetzt ist. Wie leer aber das Kino ist, wenn plötzlich nur noch ethnisch ausgewogene Abenteuerfilme zu sehen sind. Und wie spannend ein radikal subjektiver Aufschrei wie Fatih Akins Aus dem Nichts (2017) wirkt, wie aufregend zwiespältig die Memoiren Deep Throats, des berühmtesten Whistleblowers der jüngeren Geschichte, in The Secret Man; oder wie befreiend in The Square die Qualen eines alle Regeln der Diversity Challenge penibelst einhaltenden Musumschefs wirken. Mit dieser subjektiven Erzählweise hat das Kino ja mal angefangen – Alfred Hitchcock hat schon zu Stummfilmzeiten kinotauglichen Nektar daraus gesogen.

So schauen wir in „I, Tonya“ einem bemerkenswert geschriebenen Drama zu, das strahlt mit gepfefferten Dialogen und glänzt mit großer Schauspielkunst – Allison Janney bekam für ihre Lavona den Oscar als Supporting Actress, Margot Robbie (Suicide Squad – 2016; Legend of Tarzan – 2016; Focus – 2015; The Wolf of Wall Street – 2013) ging als Leading Actress nur deshalb leer aus, weil Francess MacDormand für Three Billboards Outside Ebbing, Missouri in diesem Rennen unschlagbar war – und schämen uns: Ein bisschen peinlich sieht diese Kellnerin-Tochter in ihrem selbst zusammengenähten Mantel aus eigens gewildertem Hasenpelz ja schon aus, und der dreieinhalbfache Tulip ist sicher eine Sensation, aber blöd ist halt, dass Eiskunstlauf keine eindeutigen Wertungen kennt, sondern auch vom äußeren, visuell schmeichelnden Eindruck abhängt – womit er sehr nah an die DNA des modernen Kinofilms kommt. Und die kräftig gebaute Tonya sieht halt ein bisschen aus wie Batmans Joker auf Kufen.

Nur, wenn sie tanzt, spielt das alles keine Rolle mehr.

Die Szenen mit Tonya Harding auf dem Eis, wo sie nur zum Teil von Margot Robbie gespielt wird, sind … also ich will den Klischeebegriff atemberaubend vermeiden, aber mich hat's geschüttelt im Sessel. Soweit ich weiß, ist die Australierin Robbie nicht versiert in der olympiareifen Kunst des Eistanzes. Aber Craig Gillespie kriegt es in einer geradezu arrogant lässigen Form hin, Robbie die tollsten Sprünge vollführen zu lassen, mit entfesselter Kamera einer Eistanzkünstlerin mit Robbies Gesicht bei ihren Flügen über die Eisfläche zu folgen und mit seiner dynamischer Montage sogar Eiskunstlauf-Laien den Thrill dieser so prinzesschenhaft daherkommenden Sportart zu vermitteln.

Ja: Im Zeitalter der eskapistischen Kino-Superhelden, denen visuell alles möglich ist, muss es einen nicht erstaunen, wenn auch in einem Film, der nur ein Fünfundzwanzigstel kostet, einer sehr guten Eistänzerin digital das Gesicht einer australischen Schauspielerin draufoperiert wird; es muss einen nicht vom Kinosessel reißen, wenn die Kamera in langen Plansequenzen ganze Dramen erzählt, ohne auch nur einmal den Cutter zu bemühen. Aber in einem Zeitalter, in dem das Kino entweder 250 Millionen Dollar schwere Superheldenfilme produziert, die mit schillernden digitalen Effekten angeben oder Elf-Millionen-Dollar-Dramen, die vor allem intelligent geschrieben sind, erstaunt es dann eben doch, wenn beides mal zusammenkommt.

Craig Gillespie hatte nur diese elf Millionen, die unter anderem seine Hauptdarstellerin Margot Robbie als Produzentin organisiert hat. Er lässt den Film nach 80 Millionen aussehen und seit der Film am 8. Dezember in den USA in die Kinos kam, hat er weltweit schon 46,1 Millionen US-Dollar eingesammelt. Das ist überhaupt nicht verwunderlich, weil Gillespie Popcorn- und Shakespeare-Publikum, Action- und Drama-Publikum gleichermaßen anspricht; erstaunlicherweise ist da für den Actionfreund so wenig Leerlauf, wie für den Freund des feinsinnig gesponnenen Dramas.

Und dann kommen die Schlussbilder.

Dass als letztes Bild nochmal eine Kür der Original-Tonya gezeigt wird, darf ich verraten, weil das dem Drama keinen Jota Spannung raubt, aber zeigt, das Margot Robbie in Gestik und Mimik in den entsprechenden Szenen während des Films auch kein Jota übertrieben hat. Das vorletzte Bild aber – In die Fresse, auf die Nase, weiter tanzen – lässt mich dieses Drama über den amerikanischen Traum und dessen gestürzte Heldinnen, die den Rest ihres Lebens in so einer diffusen Halböffentlichkeit leben müssen, so bewundern, dass ich besser schweige.

Wertung: 8 von 8 €uro
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