Der junge College-Absolvent Norville Barnes kommt aus der verschlafenen Kleinstadt Muncie im US-Bundesstaat Indiana in die große Stadt, um dort sein Glück zu suchen. Seine Idee für ein neuartiges Produkt für Kinder soll ihm Tür und Tor nach ganz oben öffnen. In der Poststelle der Firma "Hudsucker Industries" findet er zunächst einen Job, um über die Runden zukommen.
Gleichzeit stürzt sich 44. Stockwerke weiter oben Firmenchef und Hauptaktionär Waring Hudsucker bei einer Vorstandssitzung unvermittelt und zur Überraschung aller Anwesenden aus dem Fenster. Daraufhin beschließen die weiteren Vorstandsmitglieder, selbst die Aktienmehrheit an sich zu reißen.
Als Maßnahme, um zunächst den Kurs zu drücken, machen sie Barnes aus der Postabteilung zu ihrem neuen Vorsitzenden. Dieser durchkreuzt jedoch deren Pläne, als er den Hula-Hoop-Reifen erfindet, der zu einem Verkaufsschlager wird. Mit seinem Erfolg verändert sich auch seine Persönlichkeit – er wird zu einem arroganten Machtmenschen und verspielt so seine Sympathien in der Öffentlichkeit und bei der ehrgeizigen Journalistin Amy Archer.
Um ihn endgültig loszuwerden, lässt das Vorstandsmitglied Sidney Mussburger ihn für verrückt erklären und erwirkt seine Einlieferung in eine Nervenheilanstalt. Barnes will sich daraufhin – wie sein Vorgänger – vom Hudsuckergebäude stürzen …
Es ist der plakative American Dream: Du kommst aus Indiana nach New York, findest eine Anstellung in der Poststelle eines Großkonzerns und sitzt schneller im Sessel des Präsidenten der Firma, als Du „44. Stock, bitte“ sagen kannst. Na gut: Die Erfinder dieses American Dream haben dem jeweiligen Protagonisten schon ein paar Monate mehr einfache Arbeit in der Poststelle zugemutet, bis er mit seiner bahnbrechenden Idee Karriere macht; aber die Geschichte muss hier ja in 111 Minuten erzählt sein.
Ein junger Naiver – Tim Robbins hat da einen großen Auftritt (Short Cuts – 1993; "Bob Roberts" – 1992; The Player – 1992; Howard – Ein tierischer Held – 1986; Top Gun – 1986; Der Volltreffer – 1985) – trifft auf die hartgesottenen Wall-Street-Boys, die ihn als nützlichen Idioten verdampfen wollen und am Ende selber als die Gelackmeierten dastehen. Das darf ruhig verraten werden. Dass dieser Film ein Happy End hat, dass der arme Tropf, der da am Anfang des Films auf den verschneiten Fenstersims im 44. Stock steigt, seine kleine Depression am Ende überleben und gewinnen wird, macht er klar, als der freundliche Off-Sprecher über die Bilder eines verschneiten Manhattan bei Nacht ein paar warme Worte über den jungen Mann auf dem Sims spricht.
Deutlich gesagt ist an diesem Film nichts Überraschendes. Es passiert nichts, was wir nicht kennen. Wir sitzen schließlich in einem Film der Coen-Brüder!
Die Coen-Brüder sind nicht auf der Welt, um innovative Geschichten mit atemberaubenden neuen Erkenntnissen auf die Leinwand zu werfen. Die Coen-Brüder greifen in die Genre-Kiste (s.u.), rühren aus den Geschichten, die sie in dem Genre finden, eine Geschichte zusammen, und erzählen sie dann visuell gereift. Mag im Genre-Original die Story das Entscheidende und die Kamera- und Schnittarbeit das Handwerk gewesen sein – die Coens drehen das Prinzip um. Die Story interessiert sie nicht so sehr. Sie interessiert, wie sie immer und immer wieder gesehene Szenen besser, pfiffiger, packender in Szene setzen können.
In "Hudsucker" gibt es zum Beispiel die Szene, in der die gewiefte Zeitungsreporterin sich an den naiven Emporkömmling Norville Barnes heran macht – Jennifer Jason Leigh stürzt sich mit einiger Begeisterung in die Charakterisierung dieser falschen Schlange, die gerade noch rechtzeitig den wahren Weg findet (Short Cuts – 1993; Weiblich, ledig, jung sucht … – 1992; Backdraft – Männer, die durchs Feuer gehen – 1991; "Letzte Ausfahrt Brooklyn" – 1989; Hitcher, der Highway Killer – 1986; Ich glaub' ich steh' im Wald – 1982; Flammen am Horizont – 1982). Wir haben so eine Szene hundert Mal in hundert unterschiedlichen Filmen gesehen (Oh … Sie nicht? Dann gehen Sie nicht einen Film der Coen-Brüder. Sie könnten sich langweilen!) und deswegen wissen wir genau, was passieren wird: Sie mimt die hilflose einsame Frau, damit er sich als Retter und Freund erweisen kann. Die Szene ist ein wichtiger Punkt innerhalb der Story, von der aber schon klar ist, dass sie keine Überraschungen birgt. Also inszenieren die Coen-Brüder die Szene, indem jemand diese Szene kommentiert. In diesem Fall zwei Briefträger, die in der Bar sitzen und das Geschehen dort kommentieren. Und als die junge Frau (wir wissen: die Reporterin) die Bar betritt, beschreiben die beiden Postboten minutiös, welche Verführungsstrategie sie im nächsten Augenblick jeweils verfolgen wird. Und plötzlich sehen auch wir, die wir das schon hundertmal gesehen haben, die Szene mit anderen Augen. Sie ist lustig, sie ist entlarvend, sie konfrontiert uns mit unserer Wahrnehmung der Welt, wie wir sie uns über das Kino erschlossen haben. Nach diesem Prinzip funktioniert das Kino der Coen-Brüder.
Sie finden, das ist doof? Für einen Kinofilm sei das doch herzlich wenig – mit neuen Bildern ummantelter Storyklau? Sie haben recht! Aber für leidenschaftliche Kinogänger (hundertmal gesehen) ist das höchst unterhaltsam.
Der Film ist ein einziges Klischee. Er setzt sich zusammen aus allen Schwarzweiß-Hollywoodkomödien, die nicht ein Liebespaar im Mittelpunkt hatten, sondern den Aufsteiger, der – in solchen Filmen – immer in der Poststelle anfängt, aus welchem Grund auch immer Karriere macht und die Liebe seines Lebens kennenlernt. Und dann stolpert. Und die Coens geben all jenen Nebenfiguren, die in den Originalen nur kurz auftauchen lange Sequenzen: dem herrischen Chef der Poststelle, der hier zur endgültigen Karikatur wird; dem Chefredakteur der Zeitung, der immer unter Volldampf, ununterbrochen Schlagzeilen formuliert, die er lesen möchte; der Herrenschneider, der dem Neuen die Maßanzüge anpasst und ohne Pause dummes Zeug brabbelt; die Zigarre des grauen Strippenziehers im Hintergrund, deren Größe nachgerade unappetitlich wirkt; der graue Strippenzieher selbst, den der große Paul Newman spielt, längst selbst sein eigenes Filmzitat ("Mr. & Mrs. Bridge" – 1990; Die Farbe des Geldes – 1986; Die Sensationsreporterin – 1981; Schlappschuss – 1977; Unter Wasser stirbt man nicht – 1975; Flammendes Inferno – 1974; Der Clou – 1973; Der Mackintosh Mann – 1973; Sie möchten Giganten sein – 1971; Butch Cassidy und Sundance Kid – 1969; Indianapolis – 1969; Der Etappenheld – 1968; Der Unbeugsame – 1967; Der zerrissene Vorhang – 1966; Ein Fall für Harper – 1966; Immer mit einem anderen – 1964; Der Wildeste unter Tausend – 1963; Haie der Großstadt – 1961; Exodus – 1960; Die Katze auf dem heißen Blechdach – 1958; Der lange heiße Sommer – 1958). In den Händen der Coen-Brüder werden diese kleinen Versatzstücke alter Romantic Comedies zu wunderbar inszenierten Perlen am Hals eine anmutigen Dame der höheren Gesellschaft.
Das macht die Geschichte des Tropfs, der aus Indiana kam und die Welt erobern wollte, nicht spannend. Aber es ist aufregend, den Coen-Brüdern dabei zuzuschauen, wie sie ausgenudelte Storylines dekonstruieren und mit frischen Bildideen zu neuem Leben erwecken.
Die gesammelten Werke der Coen-Brüder
- Blood Simple – Eine mörderische Nacht (1984)
- Arizona Junior (1987)
- Miller's Crossing (1990)
- Barton Fink (1991)
- Hudsucker – Der große Sprung (1994)
- Fargo – Blutiger Schnee (1996)
- The Big Lebowski (1998)
- O Brother, Where Art Thou? (2000)
- The Man Who Wasn't There (2001)
- Ein (un)möglicher Härtefall (2003)
- Ladykillers (2004)
- No Country for Old Men (2007)
- Burn After Reading (2008)
- A Serious Man (2009)
- True Grit – Vergeltung (2010)
- Inside Llewyn Davis (2013)
- Hail, Caesar! (2016)
The Ballad of Buster Scruggs (2018)