Der Süden Londons; Arbeiterklasse. Die Brüder Ian und Terry leben von der Hand in den Mund, kargen Jobs, Pferdewetten und Pokerabenden. Gerade haben sie sich einen Traum erfüllt: Sie haben sich ein kleines Segelboot gekauft, die Cassandra's Dream. Die Brüder kämpfen dauernd mit finanziellen Problemen, insbesondere Terry hat hohe Spielschulden. Beim Besuch ihres reichen Onkels Howard bitten sie ihn um Hilfe, woraufhin der sie mit der Beseitigung von Martin Burns, eines Geschäftspartners, der Onkel Howards ungesetzliche Geschäftspraktiken offenlegen will, beauftragt.
Die Brüder sind zunächst schockiert, willigen jedoch, vor allem durch Ians Initiative, ein, da sie keine andere Wahl sehen. Terry muss seine Schulden, 90.000 Pfund, begleichen, während Ian Startkapital für den Schritt in die Selbständigkeit benötigt und seine Freundin, die Schauspielerin Angela, beeindrucken will. Der Mord wird ausgeführt, alles geht glatt.
Nur Terry geht nicht glatt. Er wird mit der Tatsache, einen Menschen ermordet zu haben, nicht fertig. Ihn plagen Gewissensbisse, er trinkt, ist depressiv und will sich stellen. Das können weder Ian noch Onkel Howard zulassen …
Woody Allen ohne Humor, dafür mit Mordgedanken. Fast habe ich den Eindruck, er schämt sich ein bisschen, dass sein Emporkömmling Chris Wilton aus dem zwei Jahre zurückliegenden Match Point als Mörder von Scarlett Johannsson unbeschadet davon gekommen ist, weshalb er die Geschichte eines Mordes, der ausgeführt wird, um in der britischen Klassengesellschaft aufzusteigen, noch einmal erzählt.
Das Drehen auf der britischen Insel scheint Woody Allens dunkle Seite zu beflügeln. Nach dem Meisterstück Match Point gab es in Scoop den Ausflug in die Unterwelt und Mordgeschichten in den höheren Kreisen. „Cassandra's Dream” beginnt Allen als Milieustudie der britischen Arbeiterklasse in Mike-Leigh-Tradition und steigert sich dann zu einem Drama mit Hitchcock'schen Dimensionen. Kalt beobachtet er seine Schachfiguren, die nach dem Wenn-Du-etwas-wirklich-willst-Prinzip logisch konsequent vorgehen. Aber Allen wildert im Terrain britischen Milieukinos, ohne der Milieuschilderung wirklich neue Erkenntnisse hinzuzugewinnen – da schneidet er lieber mal zu einer kleinen Schauspielertruppe, die seine geliebten Debatten über klassische Kunst und aktuelle Politik führt. Hat Allen eigentlich echtes Interesse an den Milieus, die er schildert? Oder sucht er für seine Draman nur einen jeweils passenden Bilderrahmen? Allen hat schon häufiger Mordgeschichten („Manhattan Murder Mystery” – 1989) erzählt; er hat schon häufiger sein – uns – vertrautes Terrain verlassen und schwerblütiges Imgmar-Bergmann-Kino (Eine andere Frau – 1988; September – 1989) kopiert.
Allen hat seinen Stil über die Jahre entwickelt: Alles sieht aus, wie mit leichter Hand dahin inszeniert, er überspringt Wochen, und macht das in einem Nebensatz deutlich, aber eigentlich interessiert er sich auch nicht für den Zwang des geradlinigen Erzählens. Er will sein Drama vorantreiben; und so eine Mordgeschichte passt eben nicht in ein Wochenende. Vor allem, wenn dann auch noch eine komplexe Lovestory eingebaut wird. Allens Muse in diesem Film ist Haylee Atwell („Die Säulen der Erde”, Captain America) – Ende 20, entzückend und mit Ausstrahlung. Sehr gekonnt gibt sie die ambitionierte Schauspielerin, die für die Karriere einiges zu geben bereit ist und stolpert.
Die Underdog-Brüder, die mit einem Bein immer im Knast oder unter der Brechstange von Kredithaien stecken, sind verwirrend gegen den Strich besetzt – würde ich nur das Drehbuch kennen, hätte ich gesagt, Ewan McGregor (Der Ghostwriter – 2010; Star Wars – 1999; Trainspotting – 1996) spielt den emotional brüchigen Terry, Colin Farrell (Miami Vice – 2006; „Alexander” – 2004; „S.W.A.T. – Die Spezialeinheit – 2003; Daredevil – 2003) den kühl kalkulierenden Ian. Aber sie sind großartig.
Ein bemerkenswerter Woody-Allen-Film, der in Deutschland allerdings schnell wieder aus den Kinos verschwand.
Die Filme von Woody Allen
- Drehbuch, Schauspieler: Was gibt's Neues, Pussy? (What's New Pussycat), 1965
- Regie: What's up, Tiger Lily (What's up, Tiger Lily), 1966
- Schauspieler: Casino Royale (Casino Royale), 1967
- Regie, Schauspieler: Woody, der Unglücksrabe (Take the Money and run), 1969
- Regie: Bananas (Bananas), 1971
- Schauspieler: Mach's noch einmal, Sam (Play it again Sam), 1972
- Regie, Schauspieler: Was Sie schon immer über Sex wissen wollten (Everything You wanted to know about sex but were afraid to ask), 1972
- Regie, Schauspieler: Die Letzte Nacht des Boris Gruschenko (Love & Death), 1975
- Regie, Schauspieler: Der Schläfer (Sleeper), 1973
- Schauspieler: Der Strohmann (The Front), 1976
- Regie, Schauspieler: Der Stadtneurotiker (Annie Hall), 1977
- Regie: Innenleben (Interiors), 1978
- Regie, Schauspieler: Manhattan (Manhattan), 1979
- Regie, Schauspieler: Stardust Memories (Stardust Memories), 1980
- Regie, Schauspieler: Eine Sommernachts-Sexkomödie (A Midsummernight Sexcomedy), 1982
- Regie, Schauspieler: Zelig (Zelig), 1983 Regie
- Schauspieler: Hannah und ihre Schwestern (Hannah and her sisters), 1985
- Regie, Schauspieler: Broadway Danny Rose (Broadway Danny Rose), 1984
- Regie: The Purple Rose of Cairo (The Purple Rose of Cairo), 1985
- Regie: Radio Days (Radio Days), 1987
- Regie: Eine andere Frau (Another woman), 1988
- Regie: September (September), 1989
- Regie, Schauspieler: Verbrechen und andere Kleinigkeiten (Crimes and Misdemeanors), 1989
- Regie, Schauspieler: New Yorker Geschichten (New York Stories), 1989 Episodenfilm
- Regie: Alice (Alice), 1990
- Schauspieler: Ein ganz normaler Hochzeitstag (Scenes from a mall), 1991
- Regie, Schauspieler: Schatten und Nebel (Shadow and Fog), 1992
- Regie, Schauspieler: Ehemänner und Ehefrauen (Husbands and Wifes), 1992
- Regie, Schauspieler: Manhattan Murder Mystery (Manhattan Murder Mystery), 1993
- Regie: Bullets over Broadway (Bullets over Broadway), 1994
- Regie, Schauspieler: Geliebte Aphrodite (Mighty Aphrodite), 1995
- Regie, Schauspieler: Alle sagen: I love you (Everyone says I love You), 1996
- Regie, Schauspieler: Harry außer sich (Deconstructing Harry), 1997
- Regie: Celebrity - Schön. Reich. Berühmt (Celebrity), 1998
- Stimme: Antz (Antz), 1998
- Regie: Sweet and Lowdown (Sweet and Lowdown), 1999
- Schauspieler: Picking up the Pieces - Ich habe doch nur meine Frau zerlegt (Picking up the Pieces), 2000
- Regie, Schauspieler: Schmalspurganoven (Small Time Crooks), 2000
- Regie, Schauspieler: Im Bann des Jade Skorpions (The curse of the Jade Scorpion), 2001
- Regie: Sounds from a Town I love (Kurzfilm), 2001
- Regie, Schauspieler: Hollywood Ending, 2002
- Regie: Anything else, 2003
- Regie: Melinda und Melinda (Melinda and Melinda), 2004
- Regie: Match Point (Match Point), 2005
- Regie: Scoop - Der Knüller (Scoop), 2006
- Regie: Cassandras Traum (Cassandra's Dream), 2007
- Regie: Vicky Cristina Barcelona, 2008
- Regie: Whatever works - Liebe sich wer kann (Whatever works), 2009
- Regie: Ich sehe den Mann Deiner Träume (You will meet a tall dark Stranger), 2010
- Regie: Midnight in Paris, 2011
- Regie: To Rome with Love, 2012
- Regie: Blue Jasmine, 2013
- Schauspieler: Plötzlich Gigolo, 2013
- Regie: Magic in the Moonlight, 2014
- Regie: Irrational Man, 2015
- Regie: Café Society, 2016
- Regie: Wonder Wheel, 2017
- Regie: A Rainy Day in New York, 2019
- Regie:
Rifkin's Festival, 2020 - Regie:
Ein Glücksfall, 2023