Frank Sheeran arbeitet viele Jahre als Geldeintreiber und Problemlöser für den Mafiaboss Russell Bufalino. Vor seiner Zeit als Gangster fuhr Frank den Wagen einer Fleischerei und kämpfte davor im Zweiten Weltkrieg unter anderem in Sizilien gegen die Achsenmächte, wo er auch die italienische Sprache erlernte – später seine Eintrittskarte in die Welt des organisierten Verbrechens.
Auf Empfehlung Russels stellt ihn der mit der Cosa Nostra verbandelte Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa als seinen Bodyguard ein. Zwischen den beiden Männern entwickelt sich erst Respekt, dann eine enge Freundschaft. Je mehr Jahre ins Land ziehen, desto höher steigt Frank auch in den Rängen der Mafia auf und desto grausamer werden die Verbrechen, die er verübt.
Dann bekommt er den Auftrag, Hoffa zu ermorden …
Das Zeitalter des Alten Weißen Mannes ist zu Ende. Martin Scorsese, selbst ein Alter Weißer Mann hat den Nachruf auf ihn verfilmt – mit drei Alten Weißen Männern: Robert De Niro, Al Pacino, Joe Pesci. Nichts wird übrig bleiben. Am Ende seines Lebens, siech im Rollstuhl sitzend, fragt ihn eine junge afroamerikanische Pflegerin, wer der Mann auf dem Foto neben seiner kleinen Tochter sei, und Frank „The Irishman“ Sheeran antwortet „Das ist Jimmy Hoffa!“ Und die junge Pflegerin weiß nicht, wer Jimmy Hoffa ist.
Es gibt in der US-Geschichte des 20. Jahrhunderts viele Geheimnisse, aber zwei der spektakulärsten lauteten (oder lauten): „Wer hat Präsident John F. Kennedy erschossen?“ und „Was wurde aus Jimmy Hoffa?“ Die Antwort auf die erste Frage gibt es zwar, aber die wollen Skeptiker nicht glauben. Die Antwort auf die zweite Frage gibt Frank Sheeran, dessen Filmfigur – wie die anderen Filmfiguren – auf real existierenden Personen basiert. Sheeran soll dem Journalisten Charles Brandt gestanden haben, Hoffa erschossen zu haben; das war lange gemutmaßt worden, konnte aber nie bewiesen werden – und auch Sheerans Aussage, die erst nach seinem Tod öffentlich wurde, könnte fake news sein, weil es keine Leiche gibt.
"The Irishman" dramatisiert die Ereignisse, wie sie Charles Brandt in seinem Buch aufgeschrieben hat und die beantworten die beiden Fragen eindeutig: Kennedy wurde von der Mafia ermordet, nachdem sie ihn erst ins Amt gehievt hatten, wo Kennedy dann seine Versprechen nicht eingehalten und und außerdem die Befreiung Kubas von Castro verbockt hat. Und Jimmy Hoffa wurde von Frank Sheeran, Mafia, aus dem Weg geräumt, weil der die Mobster nicht mehr an die Milliarden schweren Pensionsfonds seiner Gewerkschaft lassen wollte, mit denen man in der Vergangenheit lukrative Casinos und Luxushotel hochgezogen hatte. Beide Theorien sind bekannt, viel diskutiert, aber um die letztgültige Bestätigung dafür geht es diesem Film auch gar nicht.
Martin Scorsese, Mitte 70, inszeniert sein Alterswerk und da bietet er in extenso alles auf, was er in der Vergangenheit gut konnte. Es reicht ihm nun nicht mehr, dem Innenleben der Mobster in Little Italy, New York nachzuspüren. Jetzt geht es um das Große Ganze, um Macht, Geld, Einfluss bundesweit. Kein gemütlich Pasta futternder Don, der zwischen zwei Happen befiehlt, einen Rivalen auszuschalten; diesmal ist es ein kleiner, an eine Echse erinnernder Sizilianer, unscheinbar hinter seinen riesige Brille, der die ganz großen Räder dreht, der Familie hat, aber kein Familienleben, statt dessen Geschäfte macht, Milliarden-Geschäfte. Er genießt unbedingten Respekt, ist die Numero Uno; man weiß nicht, warum, welche Leichen er im Keller haben muss. Das lässt ihn noch gefährlicher erscheinen. Er ist es, der den Irishman findet, zu Frank Sheerans Mentor wird. Wie schon in Good Fellas (1990) kann Scorsese sich auf journalistisch aufbereitete, „wahre Begebenheiten“ berufen.
Sheeran, der Ire, starb im Dezember 2003, Brandt veröffentlichte sein Buch, die Vorlage für diesen Film, nach Sheeran Tod; kurz darauf begann Scorsese mit seinen Vorbereitungen für den Film, die sich aus verschiedenen Gründen dann zehn Jahre hinziehen sollten. Aber wie er innerlich gebrannt haben muss, seit er das Buch in Händen hielt, kann man sich gut vorstellen. Scorsese untersucht in seinen Filmen geschlossene Gesellschaften, die Gebilde am Laufen halten, die wir als Stadt oder als Staat kennen. Zu Beginn seiner Karriere waren das die Kleinkriminellen und Tagelöhner, die die Geschäfte der Bosse mit schmutzigen Auftragsjobs ermöglichten, mit denen die Bosse erst die Ordnung im Viertel garantieren. Das hat er mit Taxifahrern durchexerziert, mit Sanitätern, mit jungen Damen der Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Und jetzt viermal mit Akteuren im Organisierten Verbrechen.
Diesmal taucht er tief ein in dieses organisierte Verbrecherwesen, nimmt sich auf der Leinwand sagenhafte drei Stunden, zwanzig Minuten Zeit, versammelt einen Cast vor der Kamera, der in den 1990er Jahren zu hyperventilierenden Feuilletons und überbesetzten Kinosälen geführt hätte, und gibt 159 Millionen Dollar Produktionskosten aus. Dafür bietet er tiefe Einblick in die Banalität des Bösen; ein Begriff, der ursprünglich für die beamteten Verwalter der Nazi-Gräuel reserviert ist, aber schon auch auf Menschen passt, die aus rein geschäftlichem Interesse Morde in Auftrag geben – und sei es Morde an US-Präsidenten. Folgt man Scorseses Blick, kommen diese Aufträge nicht von luziden Typen, die in futuristischen Palastanlagen weiße Perserkatzen auf ihrem Schoß kraulen, sondern von Figuren wie Dir und mir, die beim Italiener eine Pizza bestellen. Nothing personel.
Robert De Niro versteht es meisterhaft, diese Ambivalenz in Mimik zu packen (Joker – 2019; The Comedian – 2016; Joy – Alles außer gewöhnlich – 2015; American Hustle – 2013; Malavita – 2013; Killing Season – 2013; Silver Linings – 2012; Killer Elite – 2011; Ohne Limit – 2011; Inside Hollywood – 2008; 15 Minuten Ruhm – 2001; Meine Braut, ihr Vater und ich – 2000; Men of Honor – 2000; Reine Nervensache – 1999; Ronin – 1998; Große Erwartungen – 1998; Wag the Dog – 1997; Jackie Brown – 1997; Cop Land – 1997; Sleepers – 1996; The Fan – 1996; Heat – 1995; Casino – 1995; Mary Shelley's Frankenstein – 1994; Kap der Angst – 1991; Backdraft gehen – 1991; Schuldig bei Verdacht – 1991; Zeit des Erwachens – 1990; GoodFellas – 1990; Midnight Run – 5 Tage bis Mitternacht – 1988; Die Unbestechlichen – 1987; Angel Heart – 1987; Mission – 1986; Brazil – 1985; Der Liebe verfallen – 1984; Es war einmal in Amerika – 1984; "King of Comedy" – 1982; "Wie ein wilder Stier" – 1980; Die durch die Hölle gehen – 1978; New York, New York – 1977; Der letzte Tycoon – 1976; 1900 – 1976; Taxi Driver – 1976; Der Pate II – 1974; Hexenkessel – 1973).
Als Frank Sheeran liebt er seinen Paten, Russell Bufalino, jenen echsenartigen Geschäftsmann, bei dem Leichen zum Geschäftsmodell gehören. Er liebt Jimmy Hoffa, der ihm ein enger Freund wird; die beiden schlafen dauernd in einem Zimmer, weil Hoffa aus guten Gründen (er ist ja alles andere als ein Heiliger) nicht möchte, dass Sheerans Name in Hotelunterlagen auftaucht. Als Bufalino aber den Auftrag erteilt, Hoffa zu beseitigen – und das sind nie Aufträge, die lauten „Töte ihn“, sondern immer sehr fein ziselierte Umschreibungen, die allein schon Steven Zaillians Nominierung für den Drehbuch-Oscar rechtfertigen – schluckt De Niro, schweigt eine Weile. Und drückt ab, als der Moment gekommen ist. Es gefällt dem Iren nicht, das ist in De Niros Spiel deutlich zu erkennen. Aber so ist halt das Geschäft.
Das ist das Beeindruckende an Scorseses Kunst: Wir kennen Mafia-Mechanismen aus zahllosen Filmen. Wir kennen die Kennedy-Verschwörungen aus zahlreichen Blickwinkeln. Solange Jimmy Hoffas Verbleib ein Rätsel war, bekamen wir jährlich neue Theorien über dessen Verbleib serviert (1992 hat selbst der damalige Superstar Jack Nicholson Jimmy Hoffa gespielt). Das ist also alles nicht neu, was uns da nun erwartet. Und Scorsese schafft es, diese an sich doch sattsam bekannte Welt noch einmal ganz neu, kalt, menschlich, grau, bunt, dreieinhalb Stunden lang kurzweilig und packend zu erzählen. Er springt in den Zeitebenen vor und zurück. Das ist ein oft angewandter Trick, an sich nichts Besonderes, aber eben mit First-Class-Kollegen, allen voran Robert De Niro. Es ist schade, dass De Niro auf der sehr starken Liste der nominierten Hauptdarsteller bei der Oscar-Show nur sechster Gewinner werden konnte, denn sein Frank Sheeran spiegelt die ganze Dramatik des oben beschriebenen Scorsese-Universums wider ("Silence" – 2016; The Wolf of Wall Street – 2013; Hugo Cabret – 2011; Shutter Island – 2010; "Shine a Light" – 2008; Departed – 2006; Aviator – 2004; Gangs of New York – 2002; Bringing Out the Dead – 1999; Casino – 1995; Zeit der Unschuld – 1993; Kap der Angst – 1991; GoodFellas – 1990; "Die letzte Versuchung Christi" – 1988; Die Farbe des Geldes – 1986; New York, New York – 1977; Taxi Driver – 1976; Hexenkessel – 1973); ein Mann von komplexer Loyalität, der gleichzeitig im Zentrum und am Spielfeldrand steht.
Der Film ist für zehn Oscars nominiert, deshalb spare ich mir, hier das fantastische Set-Design (Bob Shaw & Regina Graves) hervorzuheben, die schöne, souveräne Kamera-Arbeit von Rodrigo Prieto, den unaufdringlichen, aber immer passenden Filmschnitt von Scorseses Haus-Cutterin Thelma Schoonmaker. Joe Pesci möchte ich danken, dass er seinen Ruhestand nach unendlichen Bitten von Scorsese und De Niro unterbrochen hat, und mit diesem echsenhaften Don Russell doch noch mal eine ganz neue Pesci-Figur gezaubert hat (Nominierung als Supporting Actor). Al Pacino zeigt großartig Jimmy Hoffa als Egomanen und gewieften Taktiker der Macht (Nominierung als Supporting Actor) – Once upon in Hollywood – 2019; Der letzte Akt – 2014; Kurzer Prozess – Righteous Kill – 2008; Ocean's Thirteen – 2007; Insomnia – Schlaflos – 2002; An jedem verdammten Sonntag – 1999; Insider – 1999; Im Auftrag des Teufels – 1997; City Hall – 1996; Heat – 1995; Carlito's Way – 1993; Der Duft der Frauen – 1992; Glengarry Glen Ross – 1992; Frankie und Johnny – 1991; Der Pate III – 1990; Dick Tracy – 1990; Sea of Love – 1989; Scarface – 1983; Cruising – 1980; …und Gerechtigkeit für alle – 1979; Bobby Deerfield – 1977; Hundstage – 1975; Der Pate II – 1974; Serpico – 1973; Der Pate – 1972.
"The Irishman" ist das Alterswerk eines Regisseurs, der beeindruckende Kunst hinterlässt, wenn er sich eines Tages zurückzieht. In allen Gewerken top. Aber natürlich hätten auch 60 Film-Minuten weniger der Dramatik keinen Abbruch getan. Das will ich einem Alterswerk, einer Art Best-of-Scorsese, einem 50-Years-of-Scorsese-Films-Jubilee-Produkt, bei dem man in den schlechten Momenten trotzdem noch große Kunstwerke der Schauspielerei oder des Designs oder der Fotografie betrachten kann, nicht ankreiden. Der Meister hat nochmal alles reingepackt, was er hat; inklusive der Erkenntnis, dass er endlich ist: Die Alten Weißen Männer, die vor 50 Jahren machtvolle Strippen zogen, sind tot; in der jungen, diversen Generation heute schon vergessen. Von Martin Scorsese bleiben wenigstens ein paar beeindruckende Filme.
Bei der Oscarverleihung 2020 ging der zehn Mal nominierte Film leer aus
- Bester Film
- Regie (Martin Scorsese)
- adaptiertes Drehbuch (Steven Zaillian)
- Nebendarsteller (Al Pacino)
- Nebendarsteller (Joe Pesci)
- Kamera (Rodrigo Prieto)
- Schnitt (Thelma Schoonmaker)
- Szenenbild (Bob Shaw & Regina Graves)
- Kostümdesign (Sandy Powell & Christopher Peterson)
- Visuelle Effekte