Gotham City im Jahr 1981: Arthur Fleck lebt am unteren Ende der gesellschaftlichen Nahrungskette. Er ernährt sich und seine demente Mutter Penny mit dem, was er als Mietclown bei einer Agentur verdient. Da steht er dann im bunten Kostüm auf regennasser Straße und hampelt mit einem Werbeschild herum für ein Geschäft, das kurz vor der Pleite steht. Oder er macht Späße im Krankenhaus für todkranke Kinder, von denen keines lacht. Ein elendes Leben in einer elenden Stadt, in der sich Mülltüten stapeln, weil die Müllabfuhr seit Wochen streikt. Die Nachrichten berichten über eine Plage von „Superratten“.
Arthur, der seit seiner Kindheit selbst in unpassendsten Situationen anfängt, laut zu lachen, träumt von einer Karriere als Stand-up-Comedian. Sein großes Vorbild ist der Talkmaster Murray Franklin, der eine Late-Night-Show moderiert, in der Fleck gerne auftreten würde. In ihm sieht er eine Art Vaterfigur.
Von nun an geht es bergab: Arthur verliert seinen Job, weil er einen Revolver zu einem Clowns-Auftritt im Kinderkrankenhaus mitbrachte. Kurz darauf erschießt er mit diesem Revolver in der U-Bahn drei betrunkene Männer, die ihn angepöbelt haben, nachdem er einen seiner unkontrollierbaren Lachanfälle bekam. Arthur, immer noch in seinem Kostüm, kann entkommen. Zeugen können nur sagen, der Killer habe ausgesehen wie ein Clown. Die Morde sind der Funke, der die Lunte zündet.
Im Fernsehen äußert sich der Großindustrielle Thomas Wayne, Kandidat für das Bürgermeisteramt, empört über die rohe Gewalt, die drei Männer das Leben gekostet habe, die für sein Unternehmen arbeiten. „Nicht Reiche“ Menschen beschimpft er dabei als „Clowns“. Damit erreicht die zischelnde Lunte den sozialen Sprengsatz in der Stadt.
Zu Hunderten protestieren Bürger in Clownsmasken gegen die Reichen, die ihnen die Luft zum Atmen nehmen. Zuletzt auch die öffentlichen Mittel für Kranke und sozial Schwache. Damit fallen auch Arthurs wöchentliche Therapiesitzung und – schlimmer – seine Medikamente dem Rotstift zum Opfer.
Durch die Straßen zieht da schon ein wütender Mob mit Masken, der beginnt, die Stadt zu plündern und in Brand zu setzen – Protest gegen die Verhöhnung der Armen durch Magnaten wie Wayne.
Arthur verliert zunehmend den Verstand. Er sieht Dinge, die nicht stattfinden, tötet Menschen, die ihn vermeintlich ausgenutzt oder verletzt haben. Als dann Murray Franklin in seiner TV-Show sich über einen missglückten Auftritt Arthurs als Comedian lustig macht, brechen die Dämme. Arthur ist nun Joker, der irre Killer im Clownskostüm …
Man hätte es kommen sehen können: Die Welt ist an vielen Stellen kein schöner Ort. Nicht nur in Kriegsgebieten, auch in der industrialisierten Welt, der sogenannten Ersten Welt, ist diese Welt nicht überall ein schöner Ort; zumindest für die meisten Menschen nicht, Stichwort: Schere zwischen Arm und Reich.
Eine deprimierende Wirklichkeit, in der sich immer mehr Menschen einrichten müssen; die Nachrichten sind voll mit Geschichten über den wegbrechenden Mittelstand, über zunehmend Obdachlose, die sich die Mieten nicht mehr leisten können und für die Medikamente ohne staatliche Hilfe ein unerreichbarer Luxus sind. Und welches Filmfranchise könnte diese deprimierende Stimmung besser in Bilder fassen, als das der verschiedenen Warner/DC-Autoren, die seit Tim Burtons erstem Batman-Film versuchen, ihre Helden als depressive Figuren in entsättigte Farbwelten zu jagen? Man hätte es also kommen sehen können.
In Deutschland vollzieht sich der soziale Absturz langsamer als in den USA. Das muss einen angesichts dieses Filmes nicht beruhigen, kann uns aber nochmal durchatmen lassen. Der Film aber kommt aus den USA, spielt in den USA, in der fiktiven Metropole Gotham City, die der realen Metropole New York City immer schon sehr eng nachempfunden war. Meistens ist es hier Nacht und häufig regnet es. Eine deprimierende Stadt. Da kann man schon mal durchdrehen, wenn man das Gefühl bekommt, alle stellen sich gegen mich, Gesundheitsbehörden, Ärzte, der Staat, selbst die Familie. Plötzlich ist es das System, das ausgedient hat, weil es Menschen zu Zahlen degradiert. „Warum seid Ihr nur immer so unhöflich zu Menschen wie uns?“, schreit Arthur den Großindustriellen Thomas Wayne an, der ihn beleidigt, obwohl Arthur ihm nur mitteilen wollte, was es bedeutet, dass die Stadt ihm die Medikamente streicht.
Weit weg ist das nicht. In Frankreich waren es die Gelbwesten, die marodierend über die Champs Elysée zogen, weil ein geplantes Umweltschutzgesetz die Benzinpreise steigen ließ. In England wählten die sich ungehört Wähnenden den Brexit, in Italien Matteo Salvini, in Österreich die FPÖ, in Ungarn Victor Orbán. Im Film jubeln die Ungehörten dem Clown zu, der drei Rich Kids erschossen hat. Draußen vor dem Kino jubeln sie Donald Trump zu. Der Kampf gegen die Eliten, gegen die da Oben hat das kommerzielle Kino erreicht.
Aber sonst hat dieser Film an jener Comicwelt keinerlei Interesse. Er löst sich von den Konventionen und ist folglich „frei ab 16 Jahre“. Das DC-Universum wirkt hier, wie die clevere Marketingstrategie, um ein gesellschaftspolitisches, also schwer verkäufliches Thema (s.o.) zu behandeln. In Falling Down hat Michael Douglas vor 26 Jahren im Grunde nichts anderes gemacht, als heute der bemitleidenswerte Arthur Fleck. Er ist ausgeflippt und griff zur Pumpgun. Aber 1993 waren die Zeiten rund um die Kinos doch noch etwas sanfter und in den Kinos noch nicht so weit in den visuellen Möglichkeiten. Aber eine Verwandtschaft zwischen dem damaligen William "D-Fens" Foster und Joker besteht. Auch Falling Down wurde damals Gewaltverherrlichung vorgeworfen, eine Aufforderung zur Selbstjustiz unterstellt, ein Aufruf an die unterdrückten Massen, sich zu erheben. Aber wen man im richtigen Leben auch fragte: Alle hatten „irgendwie Verständnis“ für diesen armen Kerl. Diesem Verständnis darf sich auch Arthur Fleck sicher sein. Darin unterscheidet sich dieser Joker von Jack Nicholsons Große-Oper-Charakterisierung der Figur, auch von Heath Leders nihilistisch interpretierter Figur. Dieser hier ist einfach nur wütend. Und ohne Hoffnung. Und wenn ohnehin alles den Bach runter geht, dann will er wenigstens Spaß dabei haben. Dieser Joker, und damit dieser Film, ist nicht gewaltverherrlichend, fordert nicht Selbstjustiz; er geht auf die Barrikaden und schleudert – cineastisch etwas aufgepeppt – den Mächtigen ein Thunberg'sches How dare You entgegen. „Wären die drei Toten in der U-Bahn Leute wie ich gewesen“, ätzt er das gesättigte Talkshow-Publikum an, „da wärt Ihr einfach drüber gestiegen. Aber jetzt hat Thomas Wayne über tote Mitarbeiter gejammert, Menschen wie Ihr! Und das geht natürlich gar nicht!“
Dieses arme, unterernährte Stücklein Mensch will nur überleben. Aber er ist krank und braucht Hilfe – die unkontrollierbaren Lachanfälle, die Visionen bringen ihn immer wieder in gesundheitsgefährdende Situationen. Und noch, als ihm die von staatlicher Seite versagt wird, bleibt er aufrecht und kämpft um sein bisschen Würde. Er macht sich sogar endlich seinen Traum wahr, als Comedian auf der Bühne zu stehen – was dann ein Auftritt zum Fremdschämen wird: Ein Mann der (krankhaft) lauter über seine schlecht erzählten schlechten Witze lacht, als sein Publikum über den einen guten, hat's schwer.
Joaquin Phoenix gibt eine Power-Performance ab, bei der ich mich frage, wo die Regie aufhört und Phoenix' Kunst beginnt und ich glaube, sehr früh. Sein Joker ist eine furchtbar traurige Gollum-Figur, körperlich ausgemergelt mit kaputter Schulter, leeren Augen und schiefem Gang, weil er dauernd in diesen übergroßen Clown-Schuhen steckt. Er ist der klassische Clown, nur dass er mit seinen traurigen Augen niemand zum Lachen bringt. Um ihn herum versuchen die klug besetzten Frances Conroy als seine Mutter Penny und Zazie Beetz (Deadpool 2 – 2018; Geostorm – 2017) als seine warmherzige, alleinerziehende Nachbarin ein wenig Wärme in Arthurs Leben zu bringen.
Während Robert DeNiro ihn als TV-Showmaster Murray Franklin in die Eiseskälte der sozialen Isolation stürzt – als Arthur das realisiert, haben der Film und Joaquin Phoenix ihren schauspielerischen Höhepunkt. DeNiros Besetzung ist amüsant. Dieses nasse, nächtliche Gotham mit seinen Müllbergen, Graffiti und flackernden Neonleuchten sieht jenem New York schon sehr ähnlich, in das Martin Scorsese 1976 seinen Taxi Driver eintauchen ließ, den auch schon Robert DeNiro spielte; und einen kleinen Klacks "King of Comedy" ist dann auch gleich dabei – auch Martin Scorsese (1982), auch mit Robert DeNiro (The Comedian – 2016; Joy – Alles außer gewöhnlich – 2015; Man lernt nie aus – 2015; Zwei vom alten Schlag – 2013; American Hustle – 2013; Last Vegas – 2013; Malavita – The Family – 2013; Killing Season – 2013; Silver Linings – 2012; Happy New Year – 2011; Killer Elite – 2011; Ohne Limit – 2011; Machete – 2010; Inside Hollywood – 2008; 15 Minuten Ruhm – 2001; Meine Braut, ihr Vater und ich – 2000; Men of Honor – 2000; Makellos – 1999; Reine Nervensache – 1999; Ronin – 1998; Große Erwartungen – 1998; Wag the Dog – 1997; Jackie Brown – 1997; Cop Land – 1997; Sleepers – 1996; The Fan – 1996; Heat – 1995; Casino – 1995; Mary Shelley's Frankenstein – 1994; Kap der Angst – 1991; Backdraft – Männer, die durchs Feuer gehen – 1991; Schuldig bei Verdacht – 1991; Zeit des Erwachens – 1990; GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia – 1990; Midnight Run – 5 Tage bis Mitternacht – 1988; Die Unbestechlichen – 1987; Angel Heart – 1987; Mission – 1986; Brazil – 1985; Der Liebe verfallen – 1984; Es war einmal in Amerika – 1984; Die durch die Hölle gehen – 1978; New York, New York – 1977; Der letzte Tycoon – 1976; 1900 – 1976; Taxi Driver – 1976; Der Pate II – 1974; Hexenkessel – 1973).
Aber wenn wir damit anfangen, dann finden sich dem Nerd auch visuelle Einflüsse aus Walter Hills The Warriors, es finden sich Milos Formans Verrückte aus Einer flog übers Kuckucksnest, und auch die hilflos explodierende Wut des Einzelnen auf das System findet sich schon in Sidney Lumets Network aus dem Jahr 1976. Aus dieser Perspektive ist "Joker" eine Verbeugung vor dem Hollywoodkino der 1970er Jahre, als es dabei war, sich neu zu erfinden. Das Studio Warner Bros. hat dann, um diesen Zusammenhang zu unterstreichen, auch auf sein aktuelles Titelvorspann-Logo verzichtet und auf sein 70er-Jahre Logo zurückgegriffen, was im Nachhinein (vorher weiß man's ja nicht) eine schöne Idee ist.
So wird aus dem Film, der eine aus dem Ruder laufende Gesellschaft anprangert auch ein Film, der eine aus dem Ruder laufende Filmindustrie aufspießt: In den Comicverfilmungen der DC- und Marvel-Helden sterben Tausende, ach was: Millionen von Menschen, und selten sieht man einen Tropfen Blut – Hauptsache „frei ab 12" – dafür aber jede Menge SFX-Welten und Green-Screen-Schlachten und also jede Menge Augenfutter fürs Geld. Aus all dem hält sich Todd Philips mit seinem "Joker" heraus. Es gibt digitale Effekte – wie anders etwa sollte man Gotham in der Totalen zeigen, das dann nicht so aussieht wie die Skyline von Manhattan? Aber das Gewicht trägt ein realer Mensch in einer realen Kulisse. Und das Erzähltempo des Films ist ähnlich schleppend wie das im Taxi Driver.
Ein sehenswerter Film? Ja. Der Oscar für Hauptdarsteller Joaquin Phoenix ist gerechtfertigt (Inherent Vice - Natürliche Mängel – 2014; Her – 2013; Walk the Line – 2005; The Village – Das Dorf – 2004; Signs – Zeichen – 2002; Gladiator – 2000; The Yards – Im Hinterhof der Macht – 2000; U-Turn – Kein Weg zurück – 1997). Er setzte sich am Oscarabend im Februar 2020 unter anderem gegen Leonardo Di Caprio und Adam Driver durch. Wenn nur der Hype um den Film nicht so groß wäre. Die Auswahl im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig muss arg schlicht gewesen sein, dass "Joker" mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet werden konnte.
"Joker" wurde mit zwei Oscars ausgezeichnet:
- Hauptdarsteller Joaquin Phoenix
- Score (Hildur Guðnadóttir)
Insgesamt war der Film in elf Sparten nominiert. Neben den genannten auch für:
- Bester Film
- Regie
- adaptiertes Drehbuch
- Kamera
- Kostüm
- Score
- Schnitt
- Maske
- Tonschnitt
- Sounddesign