IMDB

Plakatmotiv: Hexenkessel (1973)

Die männliche Omnipotenz im
Kino neigt sich dem Ende zu

Titel Hexenkessel
(Mean Streets)
Drehbuch Martin Scorsese & Mardik Martin
Regie Martin Scorsese, USA 1973
Darsteller

Robert De Niro, Harvey Keitel, David Proval, Amy Robinson, Richard Romanus, Cesare Danova, Victor Argo, George Memmoli, Lenny Scaletta, Jeannie Bell, Murray Moston, David Carradine, Robert Carradine, Lois Walden, Harry Northup, Dino Seragusa, D'Mitch Davis, Peter Fain u.a.

Genre Krimi, Drama
Filmlänge 112 Minuten
Deutschlandstart
25. Juni 1976
Inhalt

Im Little Italy der 1960er Jahre ist das Leben nicht einfach. Das weiß auch der kriminelle Charlie, der dort für seinen Onkel Giovanni arbeitet und der hiesigen Cosa Nostra angehört. Eine Zeit lang scheint es gar nicht so schlecht für Charlie zu laufen: Von seinem Onkel hat er den Auftrag erhalten, ein Restaurant zu übernehmen und mit seiner Freundin Teresa läuft auch alles nach Plan.

Doch Teresas Cousin und Charlies Kumpel Johnny Boy sorgt immer wieder für Schwierigkeiten, die zunehmend ausufern. Ein wenig debil wirft er mit Geld um sich, das er nicht hat. Er verstrickt sich in immer neuen Schulden wegen teurer Kleidung, Frauen oder Zockereien. Als Charlies Freund Michael nicht länger auf sein Geld von Johnny Boy warten will und es einfordert, erntet er von dem hitzköpfigen Schuldner nur Beleidigungen und Drohungen.

Die Spannungen nehmen immer mehr zu, bis das Trio Charlie, Johnny und Teresa für einige Tage untertauchen wollen …

Was zu sagen wäre

Dieser Farbfilm sieht aus, als sei er in Schwarz-Weiß gedreht. Muss ja so sein. Alle großen Straßengangster hatten ihre größten Auftritte im Kino in Schwarz-Weiß: James Cagney in Public Enemy (1931), Humphrey Bogart in An einem Tag wie jeder andere (1955) oder Jean Paul Belmondo in Außer Atem (1960). Die Männer in "Mean Streets" tragen schwarze Lederjacken, schwarze Anzüge, die Chefs Smoking und wir erleben sie meistens in dunklen Straßen, in denen wir sie von der Dunkelheit um sie herum nicht unterscheiden können; immerhin hören wir sie reden.

Es ist das "Italienische Viertel" von Manhattan. Die dunkle Seite der Stadt. Die Jungs hier machen auf dicke Hose. In ihren Anzügen mimen sie große Gangster, die es den Bossen gleichtun und abkassieren, wo immer es geht. Plakatmotiv: Hexenkessel (1973) Sie foppen sich, gehen lachend und Sprüche klopfend mit Mülleimerdeckeln aufeinander los, tollen herum wie die jungen Hunde, aber wenn ihnen einer im Weg steht, der nicht zur Gruppe gehört, wird es schnell blutig. Alle starren auf Giovanni, den lokalen Boss, dem ein paar Restaurants gehören. Wenn die Jungs untereinander nicht weiter wissen, heißt es „Sprich mit Giovanni“. Oder „Du musst mit Deinem Onkel sprechen!“ Das geht dann an Charlie, den Neffen von Giovanni, in dessen Gunst er steht – und deshalb zwischen den Stühlen sitzt. Sein Wort hat Gewicht im Viertel, auch bei Michael, einem Unterboss in den lokalen Machtstrukturen, dem Johnny Boy 3.000 Dollar schuldet und anstatt sie abzuarbeiten, macht sich Johnny Boy sich über Michael lustig, verjüxt seine gelegentlichen Einnahmen lieber für Klamotten, Whisky und Frauen. An Johnny Boy, der in hellen Brauntönen auftritt, und seiner Cousine Teresa in ihren bunten Kleidern erkennen wir, dass es doch ein Farbfilm ist. Sie sind die bunten Vögel in dieser Geschichte, die, die nicht dazugehören – er nicht der Hellste und bei allen verschuldet, sie wegen ihrer epileptischen Anfälle gefürchtet. Sie haben nur sich, wenn sie sich mögen würden. Aber Johnny Boy ist sogar zum Mögen zu dumm.

Charlie trägt, um die Kleiderfragen abzuschließen, bevorzugt hellgraue Sakkos. Eine unentschiedene Farbe, die den zwischen-den-Stühlen-Status unterstreicht. Auf der einen Seite Michael, der Unterboss, der aufsteigen will, auf der anderen Seite Johnny Boy und Teresa, mit der Charlie heimlich ein Verhältnis hat, was ihn schnell die Gunst seines mächtigen Onkels und damit die Karriere im Viertel kosten kann, denn Giovanni hält Teresa wegen ihrer Epilepsie für eine „Verrückte“. Das komplizierte Beziehungsgeflecht innerhalb der zunächst undurchsichtigen Machtstrukturen blättert Scorsese in seinem Film nach und nach auf. Scheinbar wahllos streift die Kamera durch das Viertel, stellt uns einzelnen Charaktere vor, die sich im Safe der knapp zwei Stunden zu jenem oben geschilderten Geflecht verbinden. Da ist Tony, der Ärger hat mit Junkies, die sich auf dem Klo seiner Bar einen Schuss setzen. Da ist Michael, der Hehlerware verkaufen will und scheitert. Johnny boy, der mit einem wuchtigen Schwall an Sätzen Begründungen dafür liefert, dass er seine Schulden gerade nicht begleichen kann, aber nächste Woche ganz sicher. Immer wieder auf taucht Charlie, der als Geldeintreiber für seinen Onkel im Viertel jeden kennt. Er wird respektiert, weil es sich niemand mit dem mächtigen Onkel verderben mag.

Die erwähnten lokalen Machtstrukturen sind identisch mit der kriminellen Hierarchie im Viertel. Staatliche Organe gibt es keine. Ein Zuhause der verschiedenen Figuren kommt auch nicht vor – wir sehen nur die Wohnungen von Charlie und Teresa. Plakatmotiv (US): Mean Streets (1973) Das gezeigte Leben spielt sich in Restaurants, Bars und Clubs ab, die dem Clan gehören. Ob das Mafia ist oder etwas anderes, lässt der Film offen. Wie schon in Der Pate (1972) kommt der Begriff im Film nicht vor. Die Charaktere in diesem Film bewegen sich als Heimatlose, die in der großen Hierarchie einen unsicheren Platz haben, nicht etwa in einem eigenen Leben mit Häuschen und Familie.

Scorsese dreht on location. Nachgebaute Straßenzüge oder besonders kunstvoll gestaltete Ecken gibt es nicht; es ist nur meistens nicht New York, was wir sehen. Der Film ist zu großen Teilen in Los Angeles entstanden und mit Leuten vor der Kamera, die noch keinen großen Namen haben. Die Produzenten hätten in der Charlie-Rolle gerne John Voight eingesetzt. Den kennen die Kinogänger schon aus ein paar Filmen (Beim Sterben ist jeder der Erste – 1972; Catch 22: Der böse Trick – 1970; "Asphalt-Cowboy" – 1969; Die fünf Geächteten – 1967). Aber Voight lehnte das Angebot ab. So bekam Harvey Keitel Zuschlag, der im Fernsehen und ohne Namensnennung im Kino unter der Regie von John Houston erste Schritte gemacht hat (Spiegelbild im goldenen Auge – 1967). Ähnliches gilt für Robert De Niro. Seine Rollen bisher waren die des Mafiosis hinten links und meist ohne Credit im Abspann. Als Johnny Boy spielt er sich in die erste Reihe, ist ein echter Auf-die-Nerven-Geher, der schon mal mit Dynamitstangen um sich wirft und Fensterscheiben einschießt; der einem gleichzeitig leid tut, weil er so offenbar nicht zu retten ist; wer sollte ihn auch retten? Er gehört ja nirgendwo dazu, und die Freundschaft mit Charlie kann die Probleme, die Johnny Boy hat, irgendwann nicht mehr tragen. Ein Jahr später spielt De Niro für Francis Ford Coppola den jungen Vito Corleone in Der Pate 2 (1974) und zeigt dort deutlich seine enorme schauspielerische Bandbreite – die beiden Charaktere, hier hubbelig, da wohlüberlebt, leben an den entgegengesetzten Enden des Charakterspektrums.

Ich sehe "Hexenkessel" erst 1976. Im Juni kam er mit drei Jahren Verspätung in die deutschen Kinos und als dann im Oktober Taxi Driver (1976) startete, lief "Hexenkessel" noch in den Programmkinos. Was Kerle im Kino angeht, war ich mit omnipotenten Figuren wie John Wayne, Steve McQueen, Robert Mitchum oder Clint Eastwood sozialisiert, die mit klarem Law&Order-Auftrag Stadt und Prairie sauber hielten. Sowas, wie "Hexenkessel" hatte ich, 15 Jahre alt, bis dahin noch nie gesehen und war sauber irritiert.

Wertung: 8 von 8 D-Mark
IMDB