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Plakatmotiv: Tödliche Entscheidung (2007)

Sidney Lumet hat es
nochmal allen gezeigt

Titel Tödliche Entscheidung
(Before the Devil Knows You're Dead)
Drehbuch Kelly Masterson
Regie Sidney Lumet, USA 2007
Darsteller

Philip Seymour Hoffman, Ethan Hawke, Albert Finney, Marisa Tomei, Aleksa Palladino, Michael Shannon, Amy Ryan, Sarah Livingston, Brían F. O'Byrne, Rosemary Harris, Blaine Horton, Arija Bareikis, Leonardo Cimino, Lee Wilkof, Damon Gupton, Adrian Martinez, Patrick G. Burns, Alice Spivak u.a.

Genre Krimi, Drama
Filmlänge 117 Minuten
Deutschlandstart
10. April 2008
Inhalt

Das Juweliergeschäft der eigenen Eltern überfallen, um damit ihre finanziellen Probleme zu lösen. Diese Idee haben die Brüder Andy und Hank Hanson. Der ältere von ihnen, Andy, hat bei seiner Firma Geld abgezweigt, um damit Drogen kaufen zu können. Und jetzt muss der Geschäftsführer den Fehlbetrag möglichst schnell wieder ausgleichen. Der geschiedene Hank dagegen ist mit den Unterhaltszahlungen für seine Tochter im Rückstand.

Doch als Hank mit Hilfe des Kleinkriminellen Bobby ihren Plan umsetzt, läuft der Überfall schief. Bobby kommt bei einem Schusswechsel um. Ihre Mutter wird tödlich verletzt und stirbt wenige Tage später im Krankenhaus. Von nun an nehmen die Probleme für Andy und Hank kein Ende. Ein Verwandter Bobbys erpresst die Brüder, in Andys Unternehmen entdeckt man die gefälschten Bilanzen, und ihr Vater Charles beginnt zu ahnen, wer hinter dem Tod seiner Frau steckt. Andy sieht keinen anderen Ausweg, als gemeinsam mit Hank seinen Drogenhändler zu überfallen. Ein Verbrechen mit ungeahnten Konsequenzen, und das für alle Mitglieder der Familie Hanson …

Was zu sagen wäre

Der Filmtitel gibt schon vor, dass da was Übles kommen wird – der amerikanische Titel mehr als der deutsche. Der Originaltitel zitiert einen irischen Trinkspruch: „May your glass be ever full. May the roof over your head be always strong. And may you be in heaven half an hour before the devil knows you’re dead“, während der deutsche Titel wenigstens noch das "tödlich" als Adjektiv mit sich führt. Man ist im Kinosessel also auf der Hut. Und als wir gleich zum Auftakt das offenbar glückliche Ehepaar sehen, das nach langer Ehe zur eigenen Verwunderung erfolgreichen, leidenschaftlichen Sex hat und nachdem Ehemann Andy in der Folge immer wieder beschwört, dass alles okay ist, ist klar: Gleich geht was schief.

Regisseur Sidney Lumet fährt nochmal zur alten Stärke hoch. Sein erster Versuch, nach ein paar Fernseharbeiten nochmal auf die Leinwand zu kommen, der Berlinale-Beitrag Find me guilty im vergangenen Jahr, hatte bei Kritik und Publikum eher so nicht funktioniert, da präsentiert er jetzt einen waschechten Zwitter – Familiendrama und Kriminalfilm.

Im Mittelpunkt steht eine Mittelstandsfamilie in New York; nicht im glänzenden Manhattan, sondern in den ausleiernden Vororten, die von Einkaufszentren und schmucken Einfamilienhäusern voll gestellt sind. Die Eltern betreiben hier einen kleinen Juwelierladen. Während die Tochter irgendwohin geheiratet hat und eine unsichtbar bleibende Familie organisiert, tun sich die beiden Söhne schwer. Der eine, Andy mit dem erfolgreichen Ehegatten-Sex, ist zwar Manager in einer Bank in Manhattan, hängt aber heimlich an der Heroinnadel, die er sich von einem exaltierten Dealer setzen lässt; um das bezahlen zu können, hat er Geld veruntreut. Hank, der jüngere Sohn, kommt überhaupt nicht klar mit dem Leben.

Lumet erzählt eine an sich einfache Geschichte: Zwei Brüder wollen den Juwelenladen der Eltern ausrauben, um ihre Schulden zu zahlen. Das Ding läuft aus dem Ruder, die Mutter wird erschossen und jetzt entblättert sich ein großes Drama zwischen Losern und Verzweifelten. Es entwickelt sich in Zeitsprüngen. Mit dem Überfall geht es los und dann springt der Film in der Zeit vor zu Hank, dann zu Andy einige Tage später, dann zu Vater Charles, und so macht der Film uns Zug um Zug klar, was da alles im Hintergrund brodelt. Plakatmotiv (US): Before the Devil Knows You're Dead (2007) Der erfolgreiche Sohn fühlte sich nie geliebt, mutmaßt, kein leiblicher Sohn seines Vaters zu sein, der anderen wurde als Lieblingskind immer verhätschelt, bis er zum selbst organisierten Leben nicht mehr taugte, aber jeden Donnerstag mit der Frau seines älteren Bruders ins Bett steigt.

Philip Seymour Hoffman fügt mit "Andy" seiner langen Reihe faszinierender Charkterstudien hier einen Mann auf der Kippe hinzu (Mission: Impossible III – 2006; "Capote" – 2005; …und dann kam Polly – 2004; Roter Drache – 2002; Almost Famous – Fast berühmt – 2000; Der talentierte Mr. Ripley – 1999; Magnolia – 1999; Makellos – 1999; The Big Lebowski – 1998; Boogie Nights – 1997; Twister – 1996; Nobody's Fool – Auf Dauer unwiderstehlich – 1994; Der Duft der Frauen – 1992). Sein Andy ist nach außen ein souveräner Kerl, eine wuchtige Erscheinung, aber wir können ihm dabei zusehen, wie er mehr und mehr verzweifelt in seinem Kampf, seine Familie nicht zu verlieren, gleichzeitig aber auch seine Unterschlagung in der Bank, der eine Steuerprüfung droht, ungesehen zu machen.

Ethan Hawke hat den anstrengenden Part übernommen ("Das Ende – Assault on Precinct 13" – 2005; Training Day – 2001; Hamlet – 2000; Schnee, der auf Zedern fällt – 1999; ; Große Erwartungen – 1998; Gattaca – 1997; Quiz Show – 1994; Reality Bites – Voll das Leben – 1994; Der Club der toten Dichter – 1989; Explorers – Ein phantastisches Abenteuer – 1985). Nicht anstrengend, weil die schwierigere Rolle. Sondern anstrengend, weil sein Hank ein so verblödeter Trinker ist, dass es schwer fällt, im Kinosessel wenigstens noch Mitleid für ihn zu empfinden. Sidney Lumet, der seinen Figuren nie verlogene Sympathiepunkte geschenkt hat, macht das auch hier nicht. Warum wir diesen anstrengenden Hank dennoch nicht einfach in den Hudson werfen? Weil er zur Familie gehört – der jüngere Sohn, der jüngere Bruder – und Familie spielt dann auch bei den Hansens noch eine Rolle. Nachdem die Mutter gestorben ist, kommt sogar die Tochter ohne ihre unsichtbare Familie in den gesichtslosen Vorort und schart sich mit ihren Brüdern um den trauernden Vater, den Albert Finney grandios vom trauernden Witwer zum kaltblütigen Racheengel entwickelt (Das Bourne Ultimatum – 2007; Ein gutes Jahr – 2006; Ocean's Twelve – 2004; Big Fish – 2003; Traffic – Macht des Kartells – 2000; Erin Brockovich – 2000; Breakfast of Champions – 1999; Miller's Crossing – 1990; "Wolfen" – 1981; Die Duellisten – 1977; Mord im Orient-Express – 1974).

Es ist das Drama des erodierenden Mittelstands. In einer Gesellschaft, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht und dazwischen nichts mehr ist, jaulen umso häufiger die Polizeisirenen – deren Betreiber übrigens, die Polizisten selbst, in diesem Sidney-Lumet-Film kaum zu Wort kommen; der Regisseur hat die New Yorker Polizei in seinem Œvre ja immer wieder untersucht (Gloria – 1999; Tödliche Fragen – 1990; Family Business – 1989; "The Verdict" – 1982; "Prince of the City" – 1981; Network – 1976; Hundstage – 1975; Mord im Orient-Express – 1974; Serpico – 1973; "Angriffsziel Moskau" – 1964; Die zwölf Geschworenen – 1957). Die Zivilisten in diesem Film sind entweder alt und wohlhabend oder noch mitten im Leben und hoch verschuldet. Sie trinken zu viel, sie spritzen zu viel, irgendwann bettelt Hank sogar seine Ex-Frau an, weil er von einem windigen Typen erpresst wird. Andy seinerseits, der sich bei dem verpatzten Überfall mit einer Ausrede rausgehalten hatte und seinen Bruder in den Juwelenladen schickte, der sich in seiner versoffenen Unfähigkeit vorher lieber noch an einen halbseidenen Kleinkriminellen wandte, der dann eine geladene Pistole in der Tasche dabei hatte, denkt immer noch, er werde „das gerade biegen“ und hat plötzlich selbst eine Pistole in der Hand.

Der 83-jährige Sidney Lumet, den Hollywood schon vor Jahren mit einem Ehren-Oscar für sein Lebenswerk in den Ruhestand glaubte verabschieden zu können, bietet ein kleines Genre-Meisterwerk, gleichermaßen Familiendrama und Charakterstudie in einer Welt, die sich immer schneller dreht, so schnell, dass ihre Bewohner den halt unter den Füßen verlieren.

Wertung: 5 von 7 €uro
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