Die Kleptomanin Marnie Edgar hat als Sekretärin ihrem Chef, dem Steueranwalt Sidney Strutt, fast 10.000 US-Dollar gestohlen. Sie flüchtet vom Ort des Geschehens und besucht zunächst ihr geliebtes Pferd Forio auf einer Ranch in Virginia, bevor sie sich auf den Weg zu ihrer Mutter Bernice nach Baltimore macht. Obwohl Marnie ihre gehbehinderte Mutter mit Geld unterstützt und mit Geschenken überhäuft, verhält sich die Mutter distanziert gegenüber ihrer Tochter und scheint selbst ein Nachbarsmädchen lieber zu mögen als sie.
Um einen neuen Diebstahl begehen zu können, bewirbt Marnie sich bei dem Verlag des wohlhabenden Witwers Mark Rutland um eine Stellung als Sekretärin. Mark Rutland ist Marnie bereits zuvor bei Strutt begegnet und vermutet schon, dass sie eine Diebin ist. Dennoch fühlt er sich zu ihr hingezogen, was jedoch zu Problemen führt, da die gutaussehende Marnie panische Angst vor Männern hat.
Nachdem Marnie auch in Rutlands Verlag Geld gestohlen hat, wird sie von ihm mit Beweisen überführt. Anstatt sie aber der Polizei zu übergeben, will Rutland die Hintergründe ihrer Tat herausfinden und zwingt sie zur Heirat …
Nach 100 Minuten, auf einem großen Empfang der Rutlands, kommt dann doch der Hitchcocksche Suspense ins spiel. Bis dahin ist „Marnie“ ein – unter dieser Regie – verstörend langweiliger Film. Da ist also diese blonde, graziöse Frau, deren Charme auf Kühlschranktemperatur (innen) balanciert, die Geschäftsleute beklaut. So ähnlich kennen wir das noch aus Psycho – aber Janet Leigh war nicht nur sympathischer, sie war auch nach vierzig Minuten tot.
Marnie lebt weiter, besucht ihre Mutter, wo sie weinen und fragen darf „Warum liebst Du mich nicht, Mama?“ Diese Mutter reiht sich ein in eine mittlerweile bemerkenswerte Sammlung Hitchcockscher Monster, die ihr Mutter-sein durch Boshaftigkeit und besondere Gefühlskälte unter Beweis stellen – „Eine anständige Frau braucht keinen Mann.“ Marnies Mutter darf ihre blonde Tochter ermahnen: „Zu blonde Haare wirken so, als würde eine Frau die Männer anlocken wollen. Männer und ein guter Ruf sind nicht vereinbar.“ Logisch: Die arme Marnie kann gar nicht anders als verkorkst sein, da soll man ihr ihre Diebstähle nicht so übel nehmen, zual doch die geilen Männer, die sie beklaut hat, selbst schuld sind. einer beklagt gt sich und beschreibt dabei. das Horrorwesen Blonde Frau, dem Hitchcock ein Denkmal nach dem anderen setzt, so: „Ich wusste, sie war zu gut um wahr zu sein. Sie wollte immer Überstunden machen, nie unterlief ihr ein Fehler. Stets zog sie ihren Rock übers Knie, als wären ihre Knie Staatseigentum. Sie wirkte so reizend, so fleißig.“ Merke: Frauen, die so sind, wie Du sie Dir erträumst, sind gefährlich.
Diese Marnie hat zusätzlich noch ein Problem mit der Farbe Rot, das aber keine weiteren Auswirkungen zu haben scheint. Am Ende dieser langen 130 Minuten geht das Problem auf ein Kindheitstrauma zurück, das sich endlich aufklärt und Marnie mit ihrem reichen, aber farblosen Ehemann ein glückliches Weiterleben ermöglichen mag. Mit der Rot-Aversion kramt Hitchcock alte Versatzstücke aus Spellbound – Ich kämpfe um Dich aus der Schublade, verzichtet aber auf Bilder des Surrealisten Salvador Dali und lässt statt dessen Marnie angesichts eines roten Flecks kurz in Schockstarre verfallen. Diese Schwächen helfen nicht: Tippi Hedren bleibt eine kühle Erscheinung ohne Empathie. Ihr männlicher Widerpart auch. Sean Connery (Die Strohpuppe – 1964; Der längste Tag – 1962), der im aktuellen Kino vor allem Schlagzeilen als viriler Superagent im Dienste Ihrer Majestät macht, zeigt hier, dass er für mehr als Action nicht einsetzbar ist. In James Bond geht es mehr ums Darstellen einer Figur, was der ehemalige Bodybuilder wohl beherrschen sollte. Für die Zwischentöne einer Mark-Rutland-Rolle aber fehlt Connery die Erfahrung. Das ist bei Hitchcock selten ein Problem, solange er Schauspieler mit Ausstrahlung hat, die seine Figuren personifizieren können.
Hitchcock braucht Funktionsfiguren-Erfüller mit Charisma. Die hat er mit Sean Connery, der als Agent Ihrer Majestät schon kaum mehr macht, als charmant-diabolisch zu grinsen, bevor eine Frau flachlegt, nicht. Connery und Hedren können aus den einsilbigen Figuren kein Fleisch machen. Es stehen sich also im Zentrum dieses Films zwei Figuren gegenüber, die dem Zuschauer egal bleiben. Selbst, als Rutland seine Frau vergewaltigt und Hitchcock dafür jene Kameraeinstellungen wählt, die er in Psycho beim Mord an Martin Balsam einsetzte, lässt uns das kalt. Script-Autorin Jay Presson Allen sprach später von „der Szene, deretwegen Hitchcock diesen Film machen wollte“ … angeblich habe er darauf vertraut, dass Stars deswegen Stars seien, weil man „ihnen sowas eben verzeiht“.
Es gibt auch in „Marnie“ beeindruckende Aufnahmen und Montagen, Hitchcock hat ja nicht über Nacht sein Handwerk verlernt. Als Marnie, die ihren Lebensunterhalt nun mal über das Bestehlen anderer Menschen bestreitet, im Pelzmantel einen Tresor leer räumt, wischt im selben Bild eine verhärmte alte Frau den Boden, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ein Bild mit hoher Suggestivkraft. Aber Hitchcocks Hang zur Rückpro, bei der zum Beispiel Tippi Hedren vor einer wackelnden Leinwand sanft auf – angeblich – einem galloppierenden Pferd dahingleitet, wirkt ähnlich schlicht, wie ein Hintergundbild, auf dem ein im Hafen ankerndes Schiff erkennbar gemalt ist. Da ist das aktuelle Kino mittlerweile weiter, auch was die Rückpro-Technik angeht.
Ab der erwähnten 100. Minuten kommt dann doch noch ein wenig Spannung auf, als der Mann, den die dunkelhaarige Tippi Hedren beklaut hat, auf dem Empfang der blonden Tippi Hedren gegenübersteht – „I think, we met bevor“ – und Marks Schwägerin Lil dazu süffisant lächelt. Diane Baker spielt diese Lil Mainwaring als boshaft guten Hingucker.
Als Hitchcock mit dem Film in die Planung ging, da hatte er für die Titelrolle der Kleptomanin die feste Zusage der monegassischen Fürstin Grazia Patricia, mit der Hitchcock drei seiner größten Erfolge gedreht hat (als sie noch Grace Kelly hieß). In letzter Minute zog Kelly ihre Zusage zurück, Fürst Rainier hatte heimische Pflichten angemahnt und Kelly erklärte: „Die Familie geht vor“. So kam Tippi Hedren ins Spiel, die Hitchcock für Die Vögel aus TV-Werbespots losgeeist hatte. Hedrens limitierte Fähigkeit zum Schauspiel sowie sexistische Irritationen hinter den Kulissen – so man Donald Spotos Biographie über Alfred Hitchcock (s.u.) glaubt – haben dem Film geschadet.
Der Film wurde – im Gegensatz zum Vorgänger Die Vögel – kein großer Erfolg, steht jedoch für Hitchcocks Bestreben, als Auteur angesehen zu werden. Erst im Nachhinein wurde die Qualität des Films erkannt. Donald Spoto schreibt in seiner Hitchcock-Biographie Die dunkle Seite des Genies: „Jahre später zeigt ‚Marnie‘ eine intime und seltsame Anziehungskraft, die in Hitchcocks Werk einzigartig ist. Die mangelnde Struktur und die traumhafte, fast halluzinatorische Beschaffenheit des Films machen es dem Betrachter möglich, sich in seine quälerischen Emotionen einzufühlen. Im Unterschied zu seinen anderen Arbeiten verzehrt sich der Film in offenem Verlangen nach Liebe.“ Spoto beschreibt in seinem – deshalb auch sehr umstrittenen – Buch Hitchcocks Besessenheit gegenüber seinen Schauspielerinnen. Unter diesen war offenbar die Blondine, die ihn am meisten marterte, die er am meisten quälte, Tippi Hedren, die er sich in einem TV-Werbespot ausgeguckt hatte und die er zu seiner Göttin/Sklavin umformen wollte.
Bei den Vögeln hat er sie den unvorstellbarsten Martern ausgesetzt. Eine Woche lang wurde sie mit echten Tieren beworfen, war dabei am Boden festgebunden. Schließlich wurden Vögel mit Nylonfäden an ihr festgebunden, damit sie nicht wegfliegen konnten. Es war wohl die schlimmste Tortur, die sich je ein Regisseur für eine Darstellerin ausgedacht hat. Tippi Hedren hätte dabei durch einen Schnabelhieb fast ein Auge verloren.
Danach, 1963/64, drehte der Vierundsechzigjährige mit ihr „Marnie“ (mit jener von ihm geplanten und beharrlich durchgesetzten Vergewaltigung durch den Ehemann). Ein einziges Mal verließ er total die Deckung: Er ließ ihr einen Wohnwagen zur Garderobe umbauen und sich einen Exklusivgang von seinem Büro zu ihrer Garderobe anlegen. Er schickte ihr jeden Abend Champagner. Er erzählte ihr immer wieder einen unverhüllten Vereinigungstraum. Er hetzte Detektive auf ihr Privatleben, ließ heimlich ihre Handschrift von einem Graphologen begutachten. Da sie ahnte, was ihr da drohte, lud sie nach den Dreharbeiten immer panisch Kollegen zu sich ein. Aber eines Abends passierte es. Hitchcock wurde zudringlich. Für den Fall der Weigerung drohte er ihr, wie er sie existentiell vernichten, ihr Einkommen reduzieren, sie zum Gespött der Leute machen könne.
Das Misslingen dieser ebenso brutalen wie verzweifelten Annäherung des romantischen Monsters führte zu seiner schwersten Krise: Er verlor das Interesse an „Marnie“, schusterte den Film irgendwie zu Ende. Den Namen Tippi Hedren hat er nie wieder erwähnt.
nacherzählt anhand Donald Spotos Biographie: „Alfred Hitchcock, Die dunkle Seite des Genies“
Die Kinofilme von Alfred Hitchcock
Sir Alfred Joseph Hitchcock KBE (* 13. August 1899 in Leytonstone, England; † 29. April 1980 in Los Angeles, Kalifornien) war ein britischer Filmregisseur, Drehbuchautor, Filmproduzent und Filmeditor. Er siedelte 1939 in die USA über und nahm am 20. April 1955 zusätzlich die amerikanische Staatsbürgerschaft an.
Hitchcock gilt hinsichtlich seines Stils als einer der einflussreichsten Filmregisseure. Er etablierte die Begriffe „Suspense“ und „MacGuffin“. Sein Genre war der Thriller, die wiederkehrenden Motive waren Angst, Schuld und Identitätsverlust. Mehrfach variierte er das Thema des unschuldig Verfolgten.
Hitchcock legte großen Wert auf die künstlerische Kontrolle über das Werk des Autors. Sein Gesamtwerk umfasst 53 Spielfilme und gehört gemessen am Publikumserfolg sowie der Rezeption durch Kritik und Wissenschaft zu den bedeutendsten der Filmgeschichte. Auch dank seiner bewussten Selbstvermarktung zählt Hitchcock heute zu den bekanntesten zeitgeschichtlichen Persönlichkeiten. Er ist dem Autorenfilm zuzurechnen.
Am 3. Januar 1980 wurde er von Königin Elisabeth II. zum Knight Commander des Order of the British Empire ernannt.
- Irrgarten der Leidenschaft (1925)
- Der Bergadler (1925)
- Der Mieter (1927)
- Der Weltmeister (1927)
- Abwärts (1927)
- The Farmer's Wife (1928)
- Leichtebig (1928)
- Champagne (1928)
- The Manxman (1929)
- Erpressung (1929)
- Juno and the Paycock (1930)
- Mord - Sir John greift ein! (1930)
- Bis aufs Messer (1931)
- Mary (1932)
- Endlich sind wir reich (1931)
- Nummer siebzehn (1932)
- Waltzes from Vienna (1934)
- Der Mann, der zuviel wusste (1934)
- Die 39 Stufen (1935)
Geheimagent (1936) - Sabotage (1936)
- Erpressung (1929)
- Jung und unschuldig (1937)
- Eine Dame verschwindet (1938)
- Riff-Piraten / Jamaica Inn (1939)
- Rebecca (1940)
- Der Auslandskorrespondent (1940)
- Mr. und Mrs. Smith (1941)
- Verdacht (1941)
- Saboteure (1942)
- Im Schatten des Zweifels (1943)
- Das Rettungsboot (1944)
- Landung auf Madagaskar (Kurzfilm, 1944)
- Ich kämpfe um dich (1945)
- Berüchtigt (1946)
- Der Fall Paradin (1947)
- Cocktail für eine Leiche (1948)
- Sklavin des Herzens (1949)
- Die rote Lola (1950)
- Der Fremde im Zug (1951)
- Ich beichte (1953)
- Bei Anruf Mord (1954)
- Das Fenster zum Hof (1954)
- Über den Dächern von Nizza (1955)
- Immer Ärger mit Harry (1955)
- Der Mann, der zuviel wusste (1956)
- Der falsche Mann (1956)
- Vertigo - Aus dem Reich der Toten (1958)
- Der unsichtbare Dritte (1959)
- Psycho (1960)
- Die Vögel (1963)
- Marnie (1964)
- Der zerrissene Vorhang (1966)
- Topas (1969)
- Frenzy (1972)
- Familiengrab (1976)