Charlie Oakley ist ein großer, gutaussehender Mann, der jede Menge Bargeld mit sich herumträgt. Als die Polizei in New York nach ihm fahndet, sucht er Ruhe und Zuflucht bei der Familie seiner Schwester Emma Newton und ihrem Ehemann Joseph. Diese leben mit ihren drei Kindern in der betulichen Kleinstadt Santa Rosa in Kalifornien.
Mit seiner unschuldigen, aber klugen Nichte Charlie teilt Oakley nicht nur den Namen – beide fühlen sich seelisch verbunden. Die Freude der Familie über den Besuch des reichen Onkels aus der Großstadt ist zunächst ungetrübt, doch Onkel Charlie fällt gelegentlich durch sein seltsames Verhalten auf: Er lehnt Fotoaufnahmen von sich generell ab, versteckt Zeitungsausschnitte vor der Familie und eröffnet ein Bankkonto mit einer großen Summe.
Eines Tages erscheinen im Haus zwei Männer, die angeblich an einer Umfrage über amerikanische Familien arbeiten und die Newtons interviewen. Onkel Charlie gerät in Wut, als einer der Männer ein Foto von ihm macht. Als Jack Graham – einer der beiden Männer – die junge Charlie am Abend ausführt, klärt er sie auf, dass er und sein Kollege Polizisten seien und ihren Onkel beschatten. Entweder sei ihr Onkel oder ein anderer Mann der gesuchte Mörder von mindestens drei Witwen. Fortan nagen Zweifel an Charlie, und sie versucht hinter das Geheimnis ihres Onkels zu kommen …
Alfred Hitchcock verbeißt sich blutend ins Fleisch der all american family. Seine Gangster und Weltkriegsverschwörer aus den Großstädten hat er beiseite gelegt für einen Witwenmörder, der sich im beschaulichen Santa Rosa vor der Staatsmacht zu verstecken versucht und an der Moral des guten american citizen scheitert. Seine besondere Spannung bezieht sein Film, weil er auch ein Coming-of-Age-Drama des noch gänzlich unbefleckten Backfischs Charlie erzählt, das offen eine inzestuöse Bindung andeutet.
Dieser Onkel Charlie wird uns zwiespältig präsentiert – da wissen wir noch nicht, dass er Charlie heißt und Lieblingsonkel von jemandem ist. Hitchcock zeigt uns ein heruntergekommenes Stadtviertel, dann ein Zimmer, in dem ein Mann in Nadelstreifen Zigarre rauchend auf einem Bett liegt, als seine Wirtin hineinkommt und sagt, zwei Männer hätten sich nach ihm erkundigt – und lange ist nicht eindeutig, wer wer ist, wer auf welcher Seite des Gesetzes steht. Zumindest aber ist er dem Zuschauer schon verdächtig, als er in der verlangweilten Famile seiner Schwester noch als der Erlöser gefeiert wird – Vater im Bankjob, Mutter sehr beschäftigt, Tochter Charlie ist im verträumten Backfisch-Alter nach der High Scool, die jüngere Tochter Ann liest Bücher und betont, ihren Kopf frei halten zu wollen und der Jüngste, Roland, ist halt ein kleiner Junge mit anständigen Manieren.
Sie alle wohnen in Mittelständlers Paradies: „Santa Rosa, Kalifornien“ – schon der Name – darin lächelnde den Verkehr regelnde Cops, blühende Bäume, die die Straßen säumen, fröhliche Musik, durcheinander schnatternde Familienmitglieder und ein Hauch Esoterik – „Glauben Sie an Telepathie?“ fragt Nichte Charlie die Telegrafenfrau, die sagt, von Telegrafie zu leben. Schnell ist klar: Hier bricht das womöglich Böse ein. Und als der Onkel Charlie der Nichte Charlie einen Ring an den Ringfinger der rechten Hand steckt, ist die enge Verbindung zwischen den beiden auch im Bild – auch wenn der Ring eine falsche Gravur hat. Hier klingt offen eine inzestuöse Bindung an.
In der Folge inszeniert Hitchcock familiäre Zusammenführung-Glücksseeligkeit, die mit einer falschen Ring-Gravur abrupt endet („Jemand anders war bestimmt glücklich mit diesem Ring“). Bis dahin ahnte der Zuschauer schon: Irgendwas stimmt hier nicht – jetzt, und mit Blick auf Joseph Cottons kaltes Gesicht weiß er es. Dass Nichte Charlie den elefant im Raum nicht sieht, erläutert Hitchcock mit sich im Walzertakt drehenden Tanzpaaren, die den für das unschuldig naive Mädchen geschmeidigen Donau Walzer tanzen.
Einen besonderen Reiz bieten Familienvater Henry und sein enger Freund Herbie, die sich unablässig über den perfekten Mord streiten: „Die beste Art, einen Mord zu begehen …“, sagt Charlies Vater Henry, und wird von seinem Freund Herbie unterbrochen, „Ich weiß, ich weiß: Schlag ihm auf den Kopf mit einem stumpfen Gegenstand.“
„Na, ist doch so, oder nicht? Hör mal: Wenn ich Dich morgen umbringen wollte, meinst Du, ich verschwende meine Zeit dann auf Fantasie-Spritzen? Oder mit INEE … indianischem Pfeilgift. Ich würde mich vergewissern, dass Du alleine bist, zu Dir reingehen und Dich mit einem Bleirohr oder einem schweren Stock erschlagen …“
„Was wäre da das Besondere?“, fragt Herbie, “wo ist Deine Planung? Wo sind Deine Anhaltspunkte?“
„Ich will keine Anhaltspunkte. Ich will Dich umbringen!! Was brauche ich da Anhaltspunkte?“
„Tja, ohne Anhaltspunkte, … wie wird ein Buch daraus?“
„Ich spreche nicht vom Bücherschreiben, sondern davon, Dich umzubringen.“
Während die beiden Hobby-Literaten eine groteske Mordmethode nach der anderen beschreiben, schleicht sich in das Leben der wirklich sehr unbefleckten Tochter Charlie das real-mordende Grauen; ihr Onkel zögert keine Minute, seine Lieblingscousine zu töten, als die zur Gefahr wird. Und sie wird für ihn zur Gefahr, weil auch der ermittelnde Detective sich ihre Unerfahrenheit in libidonösen Fragen zunutze macht.
Hitchcocks Thriller ist ein Coming-of-Age-Drama, das virtuos auf der erotischen Klaviatur spielt.
Nicht nur für Alfred Hitchcock, der die Arbeit im Studio über alles liebte, sondern für die damalige Filmarbeit ganz allgemein, sind ungewöhnlich viele Aufnahmen an einem realen, nicht im Studio gebauten Set gefilmt worden – weniger aus praktischen oder gar künstlerischen Gründen, sondern vor allem bedingt durch den Krieg. Ein staatliches Kriegskomitee bestimmte nämlich, wieviel Geld zum Aufbau eines Filmsets ausgegeben werden durfte, und so wurde gespart, indem man sich in die Realität hinauswagte. Ein Großteil des Films wurde tatsächlich in Santa Rosa gedreht, das in den 1940er Jahren noch eine Kleinstadt mit rund 15.000 Einwohnern war; inzwischen leben dort über 150.000 Menschen. Viele Statisten waren daher auch keine Hollywood-Statisten, sondern Bewohner von Santa Rosa. So war die zehnjährige Edna May Wonacott, die als altkluge Schwester eine größere Nebenrolle bekam, niemals zuvor mit der Schauspielerei in Berührung gekommen. Die Tochter eines lokalen Lebensmittelhändlers wurde von Hitchcock zufällig entdeckt, als sie auf den Schulbus wartete.
Mit Thornton Wilder konnte Hitchcock für das Drehbuch einen äußerst prominenten Schriftsteller gewinnen. Das war ungewöhnlich, weil bekannte Schriftsteller oder Theaterautoren damals die Arbeit an Drehbüchern beim Film eher geringschätzten. Wilder hatte 1938 das Erfolgsstück „Unsere kleine Stadt“ veröffentlicht, welches auch Hitchcock sehr schätzte. Für „Im Schatten des Zweifels“ wollte er eine ähnliche Kleinstadt-Atmosphäre herstellen. Thornton Wilder hatte zunächst hauptsächlich wegen des Geldes angenommen, nach einem Treffen mit Hitchcock war er dann aber von der Zusammenarbeit auch künstlerisch überzeugt. Wilder suchte sogar einige der Schauplätze in Santa Rosa aus, ehe er wegen des Zweiten Weltkriegs als Reporter zur Armee nach Florida berufen wurde. Das Drehbuch war zwar weitgehend fertig, musste aber während der Dreharbeiten noch angepasst und verfeinert werden. Einen Teil dieser Arbeit erledigte die Darstellerin der Mutter Emma, Patricia Collinge, die als langjährige Theaterautorin bereits Erfahrung mit dem Schreiben hatte. Sie schrieb unter anderem die romantische Garagenszene zwischen dem Mädchen Charlie und dem Polizisten Graham. Ihre Beteiligung am Skript wird jedoch weder im Vor- noch im Abspann genannt. Insgesamt waren sechs Autoren am Drehbuch beteiligt, darunter auch Hitchcock und seine Frau Alma Reville.
Hume Cronyn hatte sein Filmdebüt in der Rolle des schüchternen Nachbars Herbie. Zwischen dem Schauspieler und Autor Cronyn und Hitchcock entwickelte sich eine lange Partnerschaft: Cronyn übernahm eine Rolle in Das Rettungsboot (1944) und schrieb die Drehbücher zu Cocktail für eine Leiche (1948) und Sklavin des Herzens (1949) – allesamt Hitchcock-Filme.
In den Gesprächen mit François Truffaut bezeichnete Hitchcock „Im Schatten des Zweifels“ als den Lieblingsfilm unter all seinen Werken: „Weil es eine dieser raren Gelegenheiten war, wo man die Charakterstudie mit Spannung verbinden konnte. Normalerweise ist in einer spannungsreichen Geschichte keine Zeit für Charakterentwicklung.“ Dabei gilt der Film auch als eines seiner persönlichsten Werke. Es gibt zahlreiche Parallelen zu Hitchcocks Leben: etwa der Name der Mutter, biografische Erlebnisse, die er in Dialoge einflocht, oder, laut Donald Spoto in seiner umfangreichen Hitchcock-Biografie, die Tatsache, dass man in den beiden Hauptfiguren (den beiden Charlies) die beiden Seiten der Persönlichkeit Hitchcocks wiederfindet.
Die Kinofilme von Alfred Hitchcock
Sir Alfred Joseph Hitchcock KBE (* 13. August 1899 in Leytonstone, England; † 29. April 1980 in Los Angeles, Kalifornien) war ein britischer Filmregisseur, Drehbuchautor, Filmproduzent und Filmeditor. Er siedelte 1939 in die USA über und nahm am 20. April 1955 zusätzlich die amerikanische Staatsbürgerschaft an.
Hitchcock gilt hinsichtlich seines Stils als einer der einflussreichsten Filmregisseure. Er etablierte die Begriffe „Suspense“ und „MacGuffin“. Sein Genre war der Thriller, die wiederkehrenden Motive waren Angst, Schuld und Identitätsverlust. Mehrfach variierte er das Thema des unschuldig Verfolgten.
Hitchcock legte großen Wert auf die künstlerische Kontrolle über das Werk des Autors. Sein Gesamtwerk umfasst 53 Spielfilme und gehört gemessen am Publikumserfolg sowie der Rezeption durch Kritik und Wissenschaft zu den bedeutendsten der Filmgeschichte. Auch dank seiner bewussten Selbstvermarktung zählt Hitchcock heute zu den bekanntesten zeitgeschichtlichen Persönlichkeiten. Er ist dem Autorenfilm zuzurechnen.
Am 3. Januar 1980 wurde er von Königin Elisabeth II. zum Knight Commander des Order of the British Empire ernannt.
- Irrgarten der Leidenschaft (1925)
- Der Bergadler (1925)
- Der Mieter (1927)
- Der Weltmeister (1927)
- Abwärts (1927)
- The Farmer's Wife (1928)
- Leichtebig (1928)
- Champagne (1928)
- The Manxman (1929)
- Erpressung (1929)
- Juno and the Paycock (1930)
- Mord - Sir John greift ein! (1930)
- Bis aufs Messer (1931)
- Mary (1932)
- Endlich sind wir reich (1931)
- Nummer siebzehn (1932)
- Waltzes from Vienna (1934)
- Der Mann, der zuviel wusste (1934)
- Die 39 Stufen (1935)
Geheimagent (1936) - Sabotage (1936)
- Erpressung (1929)
- Jung und unschuldig (1937)
- Eine Dame verschwindet (1938)
- Riff-Piraten / Jamaica Inn (1939)
- Rebecca (1940)
- Der Auslandskorrespondent (1940)
- Mr. und Mrs. Smith (1941)
- Verdacht (1941)
- Saboteure (1942)
- Im Schatten des Zweifels (1943)
- Das Rettungsboot (1944)
- Landung auf Madagaskar (Kurzfilm, 1944)
- Ich kämpfe um dich (1945)
- Berüchtigt (1946)
- Der Fall Paradin (1947)
- Cocktail für eine Leiche (1948)
- Sklavin des Herzens (1949)
- Die rote Lola (1950)
- Der Fremde im Zug (1951)
- Ich beichte (1953)
- Bei Anruf Mord (1954)
- Das Fenster zum Hof (1954)
- Über den Dächern von Nizza (1955)
- Immer Ärger mit Harry (1955)
- Der Mann, der zuviel wusste (1956)
- Der falsche Mann (1956)
- Vertigo - Aus dem Reich der Toten (1958)
- Der unsichtbare Dritte (1959)
- Psycho (1960)
- Die Vögel (1963)
- Marnie (1964)
- Der zerrissene Vorhang (1966)
- Topas (1969)
- Frenzy (1972)
- Familiengrab (1976)