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Plakatmotiv: Das Verhör (1981)

Ein Thriller als Kammerspiel
ohne einen einzigen Schuss

Titel Das Verhör
(Garde à vu)
Drehbuch Claude Miller & Jean Herman & Michel Audiard
nach dem Roman "Brainwash" von John Wainwright
Regie Claude Miller, Frankreich 1981
Darsteller

Lino Ventura, Michel Serrault, Romy Schneider, Guy Marchand, Didier Agostini, Patrick Depeyrrat, Pierre Maguelon, Annie Miller, Serge Malik, Jean-Claude Penchenat, Yves Pignot, Mathieu Schiffman, Michel Such, Elsa Lunghini u.a.

Genre Thriller
Filmlänge 87 Minuten
Deutschlandstart
18. Februar 1982
Inhalt

An einem Silvester-Abend begibt sich der angesehene Notar Jerome Martinaud zum Polizeirevier von Cherbourg, um den Beamten einige Fragen zu beantworten. Der erfahrene Inspektor Antoine Gallien und sein jüngerer Kollege Marcel Belmont untersuchen die grausamen Sexualmorde an zwei kleinen Mädchen.

Martinaud entdeckte eines der Opfer, als er mit dem Hund seines Nachbarn spazieren ging und soll deswegen nochmals vernommen werden. Zwischen dem geduldigen, aber hartnäckigen Inspektor und dem sarkastischen Notar entwickelt sich ein verbaler Schlagabtausch, bei dem sich Martinaud immer mehr in Widersprüche verwickelt.

Als unvermittelt Martinauds Ehefrau Chantal auf dem Revier erscheint, nimmt der Fall eine überraschende Wendung ...

Was zu sagen wäre

Eine Nacht. Es regnet in Strömen. Dass es die Silvesternacht in einem Polizeirevier ist, erfahren wir zwischen den Zeilen. Ein schmuckloses Büro. Hier empfängt der nass geregnete Inspecteur Gallien einen Mann in elegantem Smoking, ein Notar, Maitre Martinaud, bislang Mitglied der feinen Gesellschaft von Cherbourg. Das liegt in der Normandie. Niemand sagt das, der Ort wird in einem der vielen Dialoge mal erwähnt, nebenbei. Aber an der Wand in dem schmucklosen Polizeibüro hängt eine Landkarte mit dem Zipfel der Normandie, weit weg vom glitzernden Paris.

Mit wenigen Dialogsätzen charakterisiert Claude Miller seine Antagonisten. Hier der zum Verhör geladene Maitre Martinaud, ein Unauffälliger, für den der Jahreswechsel ungefeiert bleibt: „Ich wirke vielleicht etwas verbittert, aber in diesem Jahr habe ich keine Einladung erhalten. Ist wohl in der Post verloren gegangen.” „Tut es Ihnen leid?“ „Ja. Weil mir diese kleinen Feste irgendwie sympathisch sind. Die Küsse unterm Mistelzweig, die neuesten belgischen Witze. Die Damen haben die Gelegenheit, ihren Schmuck zur Schau zu tragen, mit ihren Liebhabern zu tanzen, sie ihren Ehemännern vorzustellen. Sind Sie verheiratet, Inspecteur?“ „Ja“, sagt Gallien, „Ich bin's gewesen. Dreimal. Ich muss wohl ein ziemliches Ekel sein.“ Hier der Vertreter der feinen Gesellschaft mit kunstvoll gedrechselter Sprache, dort der Schnüffler, der drei Ehen in den Sand setzt und sich lieber auf Fakten als auf Formulierungen konzentriert.

Es entspinnt sich ein verbales Duell zwischen dem augenscheinlich unerschütterlichen Polizisten mit dem Beamtengehalt und dem noblen Maitre mit der distinguierten Sprache, die bisweilen aus dem Tümpel der Vulgärsprache fischt. Die Rollen der Duellanten scheinen klar verteilt, bis die Ehefrau Martinauds auftaucht und den Jagdinstinkt des Polizisten anstachelt und ihn taub für Zwischentöne macht. Der Film wird getragen von brillanten Dialogen, die, geschrieben auf Papier, ein schönes Gerüst darstellen, auf dem sich die Geschichte nach und nach aufbaut. Beide Antagonisten, der Polizist und der Befragte, entblättern im laufe des Films überraschende Charaktereigenschaften. Aber gesprochen von Lino Ventura als Gallien und Michel Serrault als Martinaud beginnen diese Dialoge zu strahlen, ein Eigenleben zu entwickeln, die "Garde à vue" (auf deutsch: In Polizeigewahrsam oder auch Gefängnis) aus der Tristesse des Polizeibüros, an dessen Fensterscheibe der Regen perlt, erheben in die Welt der großen Filmkunst.

Claude Miller verlässt mit seiner Kamera nur selten dieses Büro, in dem man den lauen Kaffee und die brettharten Kekse noch im Kinosessel schmeckt; er konzentriert sich auf Polizist und Notar, die kunstvoll umeinander kreisen wie ein Hai, der Beute wittert. Der eine soll zwei kleine Mädchen ermordet und vergewaltigt haben – in dieser Reihenfolge. Der andere will ihm das, zunehmend verbissen, nachweisen. Am Katzentisch sorgt Guy Marchant, der als Galliens Assistent alles ist, was Gallien nicht ist, für dauernde Unruhe. Daraus entsteht ein Meisterstück des französischen Schauspielerkinos und zusammen mit dem zwei Jahre später entstandenen Das Auge – ebenfalls mit Michel Serrault und Guy Marchant – meine beiden Lieblingsfilme von Claude Miller.

Im Zentrum beharken sich der feine Michel Serrault und der ehemalige Profiboxer Lino Ventura ("Mann in Wut" – 1979; Der Schrecken der Medusa – 1978; Die Macht und ihr Preis – 1976; Adieu Bulle – 1975; Die Filzlaus – 1973; Die Valachi-Papiere – 1972; Der Clan der Sizilianer – 1969; Armee im Schatten – 1969; Die Abenteurer – 1967; Einer bleibt auf der Strecke – 1965; Taxi nach Tobruk – 1961; Der Panther wird gehetzt – 1960; Tatort Paris – 1959; Fahrstuhl zum Schafott – 1958). Und in den Kulissen wartet Romy Schneider (Die zwei Gesichter einer Frau – 1981; "Nachtblende" – 1975; "Trio Infernal" – 1974; Cesar und Rosalie – 1972; "Das Mädchen und der Kommissar" – 1971; Die Dinge des Lebens – 1970; Der Swimmingpool – 1969; Spion zwischen zwei Fronten – 1966; Was gibt's Neues, Pussy? – 1965; Nur die Sonne war Zeuge – 1960; Christine – 1958; "Sissi" – 1955). Schneider hat nur eine kleine Rolle. Die aber ist nachhaltig und grausam und bleibt in Schneiders kalter, abweisender Mimik lange über den Abspann im Kopf des Zuschauers. Für den bulligen Ventura, häufig in Action-Filmen besetzt, ist "Garde à vue" wieder eine Gelegenheit zu zeigen, dass er im Spiel auch das feine Besteck beherrscht. Sein Gesicht ist eine schroffe Felslandschaft, in der dunkle Augen über einer großen Nase lauern. Elegant, wie er mit wenigen Gesten und den Falten seiner imposanten Stirn alles sagt.

Sukzessiv entfaltet Miller das weite Panorama seiner zunächst eng gefassten Geschichte. Das Polizeibüro, Spaziergänge mit dem Hund, der Strand, zwei tote Mädchen in Cherbourg, ein Ehepaar, das keine Ehe mehr führt, strahlende Kinderaugen an Weihnachten, sexuelle Konnotationen, ein Verdächtiger auf dem Revier, der sich in Widersprüche verwickelt und doch nur der Mörder sein kann. Oder? Michel Serrault ("Noch ein Käfig voller Narren" – 1980; "Ein Käfig voller Narren" – 1978; Die Teuflischen – 1955) spielt diesen Verdächtigen als smarten Melancholiker, ein einsamer Mann, für den das Leben kein Leben mehr bereit hält. Mit seinem stets schön formulierten Kontr macht er sich beim bulligen Inspecteur, Marke Terrier, immer noch verdächtiger. Aber hinter der Fassade des hochanständigen mutmaßlichen Kinderquälers lauert ein zutiefst trauriger, einsamer Mann – schwer vorstellbar, dass Michel Serrault jemals besser war, als in diesem Film (aber leider kenne ich so gut wie keine Filme mit ihm).

Das Paradebeispiel eines reinen Dialogfilms. Hier sitzt nicht nur jedes Wort. Auch jede Kameraeinstellung ist gut durchdacht und auf größtmögliche Wirkung ausgelegt. Ein Meisterwerk, das über Identität erzählt und von moralischer gegenüber juristischer Schuld handelt.

Wertung: 9 von 9 D-Mark
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