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Plakatmotiv: Die Macht und ihr Preis (1976)

Ein stiller Film, der seinen
Schrecken leise enthüllt

Titel Die Macht und ihr Preis
(Cadaveri eccellenti)
Drehbuch Francesco Rosi & Tonino Guerra & Lino Iannuzzi
nach dem Roman "Tote Richter reden nicht" ("Il Contesto") von Leonardo Sciascia
Regie Francesco Rosi, Italien, Frankreich 1976
Darsteller

Lino Ventura, Tino Carraro, Marcel Bozzuffi, Paolo Bonacelli, Alain Cuny, Maria Carta, Luigi Pistilli, Tina Aumont, Renato Salvatori, Paolo Graziosi, Anna Proclemer, Fernando Rey, Max von Sydow, Charles Vanel, Carlo Tamberlani, Corrado Gaipa, Enrico Ragusa, Claudio Nicastro u.a.

Genre Krimi, Thriller
Filmlänge 120 Minuten
Deutschlandstart
28. Mai 1976
Inhalt

Der römische Polizeiinspektor Rogas übernimmt die Ermittlungen, nachdem der gefürchtete Staatsanwalt Varga auf offener Straße erschossen wurde. Nach Morden an weiteren hohen Justizbeamten in Sütitalien kommt Rogas einer gigantischen Verschwörung auf die Spur.

Seine Vorgesetzten versuchen schließlich, ihn zurückzupfeifen …

Was zu sagen wäre

Ein stiller, zynischer Film ohne viele Worte. Manche Dialoge verschwinden unter Straßenlärm – oder unter Musik. Der ganze Film hat so gut wie gar keine Musik, aber dann läuft plötzlich eine Schallplatte mit Tangomusik, als Inspektor Rogas Informationen austauscht.

Ein Staatsanwalt wird ermordet. Auf offener Straße. Am helllichten Tag. Francesco Rosi inszeniert das in aller Ruhe. Wir sehen einen alten Mann, der durch einen langen Gang geht, in dem links und rechts die Gebeine von – offenbar – hochrangigen Figuren aus der Geschichte grüßen, Totenschädel grinsen. Ab und zu bleibt der alte Mann stehen, vertieft sich in ein Detail eines Mumifizierten. Er verlässt das Totengewölbe, steigt eine lange Treppe hinauf, kommt aus dem Gebäude, deutet seinem Fahrer, er wolle lieber zu Fuß gehen – mittlerweile ist der Film fünf Minuten alt und hat noch keinen Ton von sich gegeben, außer hallende Schritte und Straßenlärm. Der alte Mann spaziert über die Straße, betrachtet interessiert eine Pflanze, die an einer Mauer rankt. Die Kamera zeigt groß die Hand des Mannes, die die Pflanze berührt. Wir hören einen Schuss, die Hand verkrampft, der Mann sackt zu Boden. Sieben Minuten sind rum. Schnitt auf einen alten Mönch, der von einem Mann, vermutlich dem Toten, berichtet, er habe diesen bei der Leichenwäsche nackt gesehen. Sein Gesprächspartner ist Lino Ventura. Sein trauriger Dackelblick löst Vertrauen aus. Lino Ventura wird rausfinden, was passiert ist.

Mehrere hochrangige Juristen werden in kurzer Folge erschossen. Während Inspektor Rogas zunächst davon ausgeht, dass der Täter ein Apotheker ist, der unschuldig ins Gefängnis musste und sich nun an den maßgeblichen Richter, Staatsanwalt, Beisitzer rächt, geht diese Rechnung bald nicht mehr auf, als auch weitere sterben. Die wenigen Dialoge, die der Film zu einer Erklärung anbietet, weisen eher darauf hin, dass die in unterschiedlichen Koalitionen regierende Democrazia Cristiana (Christdemokraten) in der ersten Hälfte der 1970er Jahre ihre Macht schwinden und den Einfluss der oppositionellen Kommunisten wachsen sieht. Tatsächlich sind die Kommunisten – hier in Statut der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) – nirgendwo in Europa so stark wie in Italien. Das Politsystem dort gibt dem Parlament eine große Macht und dem Volk eine nur niedrige Hürde, Volksentscheide zu erzwingen. Plakatmotiv: Die Macht und ihr Preis (1976) Im Film werden immer wieder protestierende Gruppen gezeigt, die die zersplitterten kommunistischen Ideale symbolisieren. Immer wieder werden welche in Polizeigewahrsam gebracht und brutal verhört. Der Innenminister sagt an einer Stelle zu Rogas: „Solche kleinen Gruppen (…) sind für uns sehr bequem. Genau wie unseren Freunden von der kommunistischen Partei.“ „Unseren Freunden?“, fragt perplex der im DC-System hoch gekommene Polizist. „Sie wissen doch genau, in welcher Situation wir sind“, antwortet der Minister. „Meine Partei, die dieses Land seit mehr als 30 Jahren schlecht regiert, wird gezwungen sein, mit den Kommunisten schlecht weiter zu regieren.“ – als Minister hat Fernando Rey (French Connection II – 1975; Der diskrete Charme der Bourgeoisie – 1972; French Connection – 1971) einen seiner undurchsichtigen Auftritte.

Und offenbar, das lässt der Film letztlich offen, werden dafür ein paar einflussreiche Juristen ausgeschaltet, was man dann der ein oder anderen Protest-Gruppe anhängt, um deren Einfluss und die kommunistische Bewegung insgesamt klein zu halten. Für sich gesehen ist das keine bahnbrechende Erkenntnis: Im politisch aufgeheizten Italien der 70er Jahre sind Straßenschlachten und politische Morde an der Tagesordnung. Linke und rechte Terrorgruppen führen einen gewaltsamen Kampf.

<Nachtrag2004>Zwei Jahre, nachdem "Cadaveri eccellenti“ in die Kinos kam, wurde Aldo Moro, Präsident der Christdemokraten (DC) und Ministerpräsident des Landes von 1963 bis 1968 und von 1974 bis 1976, ermordet. Er wollte die politischen Gräben überwinden und die vom Innenminister in diesem Film schon angedeutete Regierung der nationalen Einheit bilden, die von den Kommunisten toleriert wird. Seine eigene Partei allerdings, die die dominante politische Macht war, war mit dem Plan unzufrieden. Und die Anhänger der Kommunisten witterten Verrat. Am 16. März 1978 wurde Moro von Mitgliedern der linken Terrorgruppe Rote Brigaden entführt und 55 Tage später, erschossen im Kofferraum eines roten Renaults gefunden.</Nachtrag2004>

Lino Ventura spielt in diesem System den Unfall, das unberechenbare Momentum. Sein Inspektor Rogas stellt sich als nicht sonderlich ehrgeizig heraus, ist auch kein Revoluzzer gegen das eingespielte System, aber ein Mord ist ein Mord. Und dem geht er nach. Und wundert sich dann, dass er selber offenbar ins Fadenkreuz der Verschwörer gerät. Als er sich der näher kommenden Bedrohung gewahr wird, schickt er dem Innenminister sogar einen Brief, in welchem er seiner Verwunderung Ausdruck gibt, dass ihn plötzlich professionelle Beschatter verfolgen. Sei diese Art von Personenschutz nicht viel zu teuer?, fragt er scheinheilig. Wäre es nicht sinnvoller, diesen Schutz den bedrohten Juristen zu gewähren? Aber da ist Rogas eben doch nur ein kleines Rädchen im System, das den Mächtigen unerwartet auf die Zehen getreten ist.

Und das System lässt sich nicht austricksen! Auch nicht von einem Lino Ventura (Adieu Bulle – 1975; "Der Ehekäfig" – 1975; "Die Ohrfeige" – 1974; Die Filzlaus – 1973; Die Valachi-Papiere – 1972; Der Clan der Sizilianer – 1969; Armee im Schatten – 1969; Die Abenteurer – 1967; Einer bleibt auf der Strecke – 1965; Taxi nach Tobruk – 1961; Der Panther wird gehetzt – 1960; Tatort Paris – 1959; Fahrstuhl zum Schafott – 1958). Der spielt diesen italienischen Bullen mit Anzug und Trenchcoat und irgendwo existierender Ex-Gattin mit Unterhaltsforderungen als ambitionslosen Profi, der sich abends noch einen Espresso auf dem Herd fertig macht. Die meiste Zeit folgt die Kamera ihm und seiner Entschlossenheit, an einen echten Killer mit Motiv zu glauben. Den Rankünen der Mächtigen, deren Motiv abstrakter Machterhalt ist, steht er ideenlos gegenüber und sagt das seinem Kollegen auch ganz offen.

Am Ende ist alles wie am Anfang. Ein paar Parameter haben sich leicht verschoben, aber das politische System hat sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. Und ein paar hochrangige Persönlichkeiten sind aus dem Leben geschieden. 

"Cadaveri eccellenti" ist ein eleganter, sehr stiller Film. Und ein unerhört zynischer Film, der mich zwei Stunden lang nicht aus seinen Fängen lässt – was sehr mit Lino Ventura zu tun hat, aber eben auch mit dieser Nonchalance, mit der hier Macht betrieben wird. Die Tatsache, dass Regisseur Rosi sowie das Produktionsunternehmen von den italienischen Justizbehörden angeklagt wurden, lässt aber vermuten, dass sie mit ihrem Film einen Nerv getroffen haben.

Wertung: 9 von 9 D-Mark
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