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Plakatmotiv: Urteil von Nürnberg (1961)

Wenn Menschenwürde auf Politik trifft:
Ein großartig gefilmter juristischer Essay.

Titel Urteil von Nürnberg
(Judgment at Nuremberg)
Drehbuch Abby Mann
Regie Stanley Kramer, USA 1961
Darsteller

Spencer Tracy, Burt Lancaster, Richard Widmark, Marlene Dietrich, Maximilian Schell, Judy Garland, Montgomery Clift, William Shatner, Werner Klemperer, Kenneth MacKenna, Torben Meyer, Joseph Bernard, Alan Baxter, Edward Binns, Virginia Christine u.a.

Genre Drama, Krieg
Filmlänge 179 Minuten
Deutschlandstart
14. Dezember 1961
Inhalt

Der US-amerikanische Richter Dan Haywood trifft 1948 im vom Krieg stark zerstörten Nürnberg ein. Er soll den Prozess gegen vier führende deutsche Juristen des NS-Staates leiten. Er wird in der Villa eines ehemaligen Generals einquartiert, der als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt worden ist.

Der Ankläger Colonel Tad Lawson lässt schon zu Verhandlungsbeginn erkennen, dass er eine harte Bestrafung der Angeklagten durchsetzen will. Sein schärfster Kontrahent ist der deutsche Verteidiger Hans Rolfe, der den Hauptangeklagten Dr. jur. Ernst Janning vertritt. Er beruft sich für seinen Mandanten auf den Befehlsnotstand und die damalige Rechtslage im Deutschen Reich, an die sich die Angeklagten hätten halten müssen.

In den Wochen während der Verhandlung versucht Richter Haywood, in Nürnberg Kontakt zur einheimischen Bevölkerung zu bekommen, um zu verstehen, wie es zu den Verbrechen des Nationalsozialismus kommen konnte. Unter anderem lernt er die Witwe des ehemaligen Besitzers der Villa näher kennen, in der er wohnt. Sie versucht den Richter in dem Sinne zu beeinflussen, dass auch hochrangige Deutsche nichts von den Verbrechen in den Konzentrationslagern gewusst hätten. In einem Gespräch mit den Hausbediensteten versucht er herauszubekommen, wie die einfache Bevölkerung gedacht hat. Er stößt jedoch auf eine Mauer des Schweigens.

Im Prozess sagt zunächst Dr. Karl Wieck aus. Er war 1935 vom Amt des Justizministers zurückgetreten, weil er den Nazis nicht mehr dienen wollte. Plakatmotiv (DDR): Urteil von Nürnberg (1961) Verteidiger Hans Rolfe gelingt es jedoch, seine Glaubwürdigkeit im Kreuzverhör zu erschüttern.

Der Hilfsarbeiter Rudolf Petersen berichtet, dass er aufgrund einer Anordnung von Dr. Janning zwangssterilisiert worden sei, weil er einer kommunistischen Familie entstamme. Rolfe versucht, nachzuweisen, dass Petersen geistig minderbemittelt sei und dass Menschen aus diesem Personenkreis auch in anderen Ländern, unter anderem in den USA, zwangsweise sterilisiert wurden.

Schließlich sagt die Zeugin Irene Hoffman-Wallner aus, dass der jüdische Geschäftsmann Feldenstein fälschlicherweise von Dr. Ernst Janning wegen einer angeblichen intimen Beziehung mit ihr wegen "Rassenschande" zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde.

Der Verteidiger Rolfe versucht, ihre Zeugenaussage zu erschüttern, indem er im Kreuzverhör zu beweisen versucht, dass der hingerichtete Feldenstein tatsächlich intime Beziehungen mit ihr gehabt hätte, so also den Straftatbestand der "Rassenschande" erfüllt hatte. Als die Zeugin in Tränen ausbricht, weil Rolfe sie scharf angreift, ergreift Dr. Ernst Janning zum ersten Mal das Wort und bringt Rolfe zum Schweigen.

Er begibt sich anschließend in den Zeugenstand und bekennt sich schuldig im Sinne der Anklage, die Naziverbrechen sowohl bewusst ignoriert wie auch gerechtfertigt zu haben, im Glauben, dass sie dem Wohl des Landes dienten. Seine eigenen Verbrechen habe er billigend als Mittel für patriotische Ziele in Kauf genommen. Ebenso bekennt er, beim Verfahren gegen den Freund Irene Hoffmans schon vor Beginn des Verfahrens das Todesurteil festgelegt zu haben.

Kurz vor der Urteilsfindung blockiert die Sowjetunion die Zufahrt nach Berlin. US-Militärs setzen Anklagevertreter Lawson unter Druck, ein mildes Urteil zu fordern, da man in Zukunft das Wohlwollen der deutschen Bevölkerung brauchen werde. Schließlich verkündet Richter Haywood seine Urteile …

Was zu sagen wäre

Ein filmischer Essay über Schuld, Sühne und Realpolitik: Was bedeuten schon schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in einer nicht zu ändernden Vergangenheit liegen, gegen den Schutz und die Sicherheit des eigenen Volkes angesichts eines drohenden Feindes? Stanley Kramer (Flucht in Ketten – 1958) stellt zum zweiten Mal, nachdem er im vergangenen Jahr Wer den Wind sät gedreht hat, eine große Menschheitsfrage vor das hohe Gericht. Im vergangenen Jahr ging es um die biblische Genesis gegen Darwins Evolutionstheorien. In "Urteil von Nürnberg" geht es zunächst um die Frage, wie weit Gehorsam gehen darf und wann Widerstand zur Pflicht wird. Welche Verantwortung trägt der Einzelne für seine Entscheidungen, wenn er sich innerhalb eines Systems bewegt, das Handlungen, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit erscheinen müssen, formal legitimiert; Juristen, ideologisch fanatisiert, opportunistisch und/oder feige, haben die Verbrechen der Nazis begleitet und legitimiert.

Angeklagt sind vier in Nazi-Deutschland hochstehende Juristen – Richter und Staatsanwälte; also keine kleinen Chargen, denen man glauben könnte, keine andere Wahl gehabt und sowieso eigentlich von nichts gewusst zu haben. Ihre „Nicht schuldig“-Haltung ist erwartbar und der unspektakuläre Teil des Films. Ebenso wie die Urteile, die Richter Haywood am Ende fällt, erst spektakulär in ihrer politischen Folge werden, welche die moralischen Werte, die die US-Amerikaner in diesem Film hoch halten, als zynische Kosten-Nutzen-Farce entlarvt.

Richter Haywood reicht es nicht, den Ausführungen des Verteidigers der ehemals noblen Juristen zu folgen. Er begibt sich im zerstörten Nürnberg unters Volk und versucht herauszufinden, wie die Menschen gelebt haben in Hitler-Deutschland. Das erste, was jeder betont, egal ob Putzfrau, Hausangestellter oder Witwe eines hingerichteten ranghohen Offiziers der deutschen Wehrmacht, ist, wie habe man sowas ahnen können, man habe wirklich, „das müssen Sie mir glauben“, nichts von den Gräueln in den Konzentrationslagern gewusst. Diese Szenen, gespielt mal in Trümmerbuden, mal in Gaststätten mit feuchtfröhlicher Humtata-Musik, sind beklemmend, weil sie eine Haltung spiegeln, die in der Zeit, in der dieser Film spielt – 1948/49 – leicht nachvollziehbar war, obwohl das Interesse der Welt angesichts der aufziehenden Bedrohung aus dem kommunistischen Osten bereits abflaute, die aber im Jahr 1961, als der Film gedreht wurde, immer noch weit verbreitet ist und erst mit der Bewegung der "68er" an die Oberfläche gezerrt und mit der Realität abgeglichen werden sollte (Ich habe den Film, der mein Jahrgang ist, Anfang der 80er Jahre zum ersten Mal gesehen – aus dieser Zeit stammen meine hier geschilderten Eindrücke – und selbst da gab es noch viele, die von nichts gewusst hatten).

Der Prozess wirkt, so wie er dargestellt wird, konturlos. Es gibt natürlich zahlreiche, in Gerichtsdramen unverzichtbare „Euer Ehren, ich erhebe Einspruch!“-Szenen. Aber an den Stellen, wo mal der Kläger, mal ein Zeuge, mal die Verteidigung in Argumentations- und Beweisketten abschweifen, die mit dem aktuellen Fall wenig bis nichts zu tun haben, ruft keiner Einspruch. Plakatmotiv (US): Judgement at Nuremberg (1961) Es sind Zeigefingerszenen, in denen dem Kinopublikum 16 Jahre nach Kriegsende erläutert werden soll, wofür die Nazi-Deutschen damals standen, gegen die die USA in den Krieg gezogen sind – dazu gehört auch ein Film über die Befreiung der Konzentrationslager Bergen-Belsen und Dachau mit – heute – sehr bekannten Bildern verhungerter, verbrannter, verscharrter Menschenberge. Dieser Film im Film trägt nichts zur Beweisführung gegen die Angeklagten bei, hilft aber den Zuschauern zu verstehen, worum es geht.

Der Prozess gliedert sich durch seine vier Hauptzeugen – erst der zurückgetretene Justizminister, der ein Schlaglicht auf die Zeit des erst heraufziehenden Nazi-Terrors wirft, dann der Auftritt eines beeindruckend aufspielenden Montgomery Clift (Misfits – Nicht gesellschaftsfähig – 1961; Plötzlich im letzten Sommer – 1959; Verdammt in alle Ewigkeit – 1953; Zum Schweigen verurteilt – 1953; Red River – 1948) als zwangssterilisierter Bäckergeselle. Dann tritt Judy Garland in den Zeugenstand (Ein neuer Stern am Himmel – 1954; "Der Zauberer von Oz" – 1939) und berichtet, wie die angeklagten Juristen in einem Fall von "Rassenschande" ihr Urteil schon vor Prozessbeginn gefällt hatten. Danach ist das perfekt orchestrierte Unterdrückungsregime gut genug ausgeleuchtet, damit kleine Dialogspitzen nur noch Schlaglichter setzen brauchen, um die "Banalität des Bösen" in ihrem ganzen Entsetzen begreifbar zu machen – etwa, als einer der vier Angeklagten während des Essens im Gefängnis beklagt, dass die Behauptung, sechs Millionen seien ermordet worden, nicht stimmen könne, das sei doch schon rein organisatorisch gar nicht machbar gewesen, und ihm ein ehemaliger KZ-Leiter am Nachbartisch kühl auflistet, wie das funktionierte und wo die Schwierigkeiten lagen: „Die vielen Toten loszuwerden, war das eigentliche Problem.

Dann spricht der angeklagte ehemalige Richter und Justizminister – und als Jurist in aller Welt anerkannte – Dr. Ernst Janning, der die drei vorherigen Aussagen bündelt, einordnet und schließlich das Man habe doch von nichts gewusst als blühenden Blödsinn entlarvt: ”Sind wir alle blind? wo waren wir denn, als über Nacht unsere Nachbarn verschwanden? Sind wir taub? Wie konnten wir die vielen Abstellgleise übersehen und die Schreie der Kinder nicht hören, die dort in Waggons verhungerten, erstickten?“ Hier hat Burt Lancaster, der bis dahin zumeist stumm an der Kamera vorbei geguckt hat, seinen großen Auftritt (Denen man nicht vergibt – 1960; Zwei rechnen ab – 1957; Vera Cruz – 1954; Massai – Der große Apache – 1954; Verdammt in alle Ewigkeit – 1953; "Der rote Korsar" – 1952). Das ein Hollywoodstar den deutschen Hauptangeklagten spielt, hat eine doppelte Fallhöhe. Einerseits macht die Präsenz eines Burt Lancaster die innere Zerrissenheit eines mutmaßlichen Sadisten glaubhaft. Andererseits fallen einem solchen Kaliber Wie-hätte-ich-ahnen-sollen-Sätze viel schwerer und also nachhaltiger auf die Füße.

Auf dem Richterstuhl sitzt Spencer Tracy (Wer den Wind sät – 1960; "Stadt in Angst" – 1955; Vater der Braut – 1950; Ehekrieg – 1949; Die Frau von der man spricht – 1942). Seine Rolle sieht im Drehbuch nach nicht viel aus – dieser Dan Haywood hört schweigend zu, lehnt Einsprüche ab, spaziert onkelhaft durch Nürnberg und flirtet ein bisschen mit Marlene Dietrich (Zeugin der Anklage – 1957; Die rote Lola – 1950; Eine auswärtige Affäre – 1948; Die Freibeuterin – 1942; Der Teufel ist eine Frau – 1935; Der blaue Engel – 1930). Hier zeigt sich einmal exemplarisch, wie wichtig die richtige Besetzung für eine Rolle ist. Tracy bewegt sich mit dem ganzen Gewicht seiner außergewöhnlichen Vita und verleiht diesem Provinz-Richter, als der sich Haywood bezeichnet, wuchtige, mal mitfühlende, mal angewiderte Präsenz.

Zwei Stunden etwa ist der Gerichtsfilm alt, als mit der Berlinblockade die Weltpolitik in den Prozess tröpfelt und in der Erkenntnis gipfelt „Fällt Berlin, fällt Deutschland. Fällt Deutschland, fällt Europa. Wir brauchen die Deutschen an unserer Seite. aber wir werden sie nicht dort haben, wenn wir einige der ihren ins Zuchthaus stecken.“ Diese Form des vorsorglichen Vergessens  gibt es ja wirklich, etwa, indem die USA Nazi-Ingenieuren eine neue Identität gaben, um sich deren Talent und Know-How zunutze zu machen.

Und plötzlich ist die ganze moralische Überlegenheit, mit der wir uns über zwei Stunden im Kinosessel angefreundet haben, ad absurdum geführt: Ja ja, das mit den sechs Millionen Juden ist schon schrecklich, aber diese Deutschen sind halt auch Organisationstalente und wichtig im Kampf gegen den Kommunismus. Da müssen wir jetzt nach vorne schauen. Eine Schlusstafel im Film informiert uns, das von den 99 Angeklagten, die bis 1949 zu Haftstrafen verurteilt wurden, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten niemand mehr im Gefängnis einsaß.

So schleichend angeblich der Nazi-Terror in die deutsche Gemeinschaft tröpfelte, so schleichend verteilt Stanley Kramer das Gift des Zynismus über seine Zuschauer.

Wertung: 7 von 7 D-Mark
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