Privatdetektiv Benoit Blanc ist wieder gefordert: In Griechenland muss er einen verzwickten Fall lösen, bei dem die Liste der Verdächtigen lang und das mögliche Mordmotiv jedes Einzelnen äußerst ungewöhnlich ist.
Der Tech-Milliardär Miles Bron hat nämlich die Unternehmerin Andi Brand, die Politikerin Claire Debella, den Wissenschaftler Lionel Toussaint, die Modedesignerin Birdie Jay und deren Assistentin Peg sowie den YouTube-Star Duke Cody sowie dessen Freundin Whiskey auf seine private griechische Insel eingeladen. Doch dann kommt es zu einem Todesfall …
Nein, dieser Film ist keine Fortsetzung von Knives Out – Mord ist Familiensache (2019). Außer Daniel Craig in der Rolle des Detektivs Benoit Blanc taucht keine Figur von 2019 wieder auf, kein Testament des einst Verstorbenen wird in Frage gestellt. Dass der Film den Titel-Apendix "A Knives Out Mystery" trägt, ist den Marketingleuten von Netflix geschuldet, die sich damit einen höheren Wiedererkennungswert versprochen haben.
So geht das heute: Auf der verzweifelten Suche abseits von Superhelden und anderen SFX-Overkills noch Geschichten mit Schauspielern und realen Landschaften im Kino zu erzählen, wird ein schöner Zufallserfolg wie Knives Out gemolken und dann muss eben der Originaltitel wieder auftauchen – auch wenn hier lediglich mal ein Küchenmesser (engl. Knive) im Messerblock fehlt, die Leute ansonsten aber erschossen oder vergiftet werden.
Eine Ähnlichkeit gibt es: Der Film ist beinah so unterhaltsam, wie sein Vorgänger. Das fängt bei der Hauptfigur an. Daniel Craig explodiert vor Spiellaune (James Bond 007: Keine Zeit zu sterben – 2021; Logan Lucky – 2017; Verblendung – 2011; Cowboys & Aliens – 2011; "Der goldene Kompass" – 2007; James Bond 007: Casino Royale – 2006; München – 2005; Road to Perdition – 2002; Lara Croft: Tomb Raider – 2001), gibt den smarten, etwas abgerissenen Detektiv, der mangels interessanter Fälle Zigarre rauchend in der Badewanne vor sich hin vegetiert und auch von seinen per Skype zugeschalteten Meisterdetektiv-Kolleg*innen nicht mehr motiviert werden kann; da fällt einem plötzlich ein, dass Daniel Craig nicht im Smoking geboren wurde und schon vor seinen James Bond-Filmen ein Leben als Schauspieler hatte. Den grauen, melancholischen Schatten der jüngsten Bond-Filme hat er abgestreift, hier läuft er im blau-weiß gestreiften Badeanzug durchs Bild und gibt den Ahnungslosen.
Intrigiert wird diesmal auf einer sonnendurchfluteten griechischen Insel, auf der sich ein Elon-Musk-artiger Milliardär eingerichtet hat, der den Treibstoff der Zukunft – CO2-neutral, emissionsfrei, billig und effizient – erfunden haben will. Seine Gäste, die er „Disruptoren“ nennt, sind Freunde, die sich alle gegenseitig ihren Aufstieg, ihr Comeback oder ganz allgemein ihren Erfolg zu verdanken haben. Aber alle wissen: Miles Bron, der Elon-Musk-artige Milliardär, ist ein Pfuscher, der sich seinen Erfolg zusammengeklaut hat. Und alle wissen: Wenn ich das sage, ist meine Karriere dahin. Interessant, dass dann auch gar nicht Miles Bron bald tot über die Leinwand rollt, sondern einer seiner vorgeblichen Freunde.
Es gibt eine weitere Gemeinsamkeit zum Vorgängerfilm: Wieder bricht der Film nach rund einer Stunde die Erzählung, die schon da von einigen Rückblenden aufgepeppt worden war, auf und springt nochmal zum Anfang. Da erzählt er dann den Teil, der uns, die wir bei Filmen dieser Art sehr aufmerksam auf jede Nuance in Erzählung, Kameraeinstellung und Schauspielerblick achten, die Ergänzung für jene Momente, die uns bis zu diesem Zeitpunkt im Film als unvollkommen oder schludrig erzählt erschienen waren. Oder einfach: Die Geschichte bekommt einen ganz neuen Schwerpunkt, in dem der Detektiv nicht mehr ganz so ahnungslos und zufällig durchs Bild läuft – aber eben auch keine Krimigeschichte mehr vor sich hat, die irgendwie, wie es der Trailer insinuiert, kompliziert zu entflechten sei.
Mehr darf man nicht offenbaren, weil kommerzielle Kinofilme heute nicht mehr von Bildern und Charakteren während, sondern von Überraschungen und Geheimnissen vor dem Kinobesuch leben, weil nach mehr als 100 Jahren Kino eben alles schon erzählt ist, die zahlenden Zuschauer vermeintlich nicht mehr auf Landschaften und Schauspieler achten, sondern auf CGI und Explosionen und auch da schon alles gesehen haben, also muss der Kauf der Kinokarte ein Geheimnis versprechen, das sich dann möglichst spektakulär löst. Rian Johnson spielt mit unseren Erwartungen an so einen Film, legt Fährten aus und macht uns fröhlich alle Mühe, potenzielle Motive zu erkennen, die zu einem noch nicht geschehenen Mord passen. Bald jonglieren wir mit sieben Verdächtigen, denen der Mord fehlt – zunächst. Es handelt sich um Verdächtige, die kaum mehr sind als reich und auf fatale Weise abhängig: es gibt die Politikerin, die über ein Kraftwerk stolpern könnte, den Ingenieur, der über den falschen Treibstoff stolpern könnte, das Model, das über indische Sweatshops stolpern könnte, den Youtuber, der unter schwindenden Klickzahlen leidet und ein paar dienstbare Hände, die über allgemeine Abhängigkeiten klagen. Mehr erfährt man über die Figuren nicht (außer über Benoit Blanc natürlich). Das lässt sie uns fremd bleiben, unnahbar, aber für das filmische Katz-und-Maus-Spiel von "Glass Union" reichen die paar Eckdaten.
Von noch einer Figur erfahren wir mehr, einer Figur freilich, die schon wieder Spoiler-Alarm hervorruft. Diese Figur ist die einzige echte Disruptorin, die einzige, die nicht wirtschaftlich von Miles abhängig ist, wie all die anderen, und die das ganze Bild zum Einsturz bringen kann. Das machen moderne Disruptoren ja so: Sie kümmern sich nicht um Andere und starten einfach einen neue Idee. In der Gesellschaft von Glass Onion sitzt der unabhängige Disruptor unerkannt schon mit am Tisch.
Miles Bron, von dem alle irgendwie abhängig sind, wird gespielt von Edward Norton, der in der Branche als schwieriger Zeitgenosse verschrieen ist (Motherless Brooklyn – 2019; Alita: Battle Angel – 2019; Verborgene Schönheit – 2016; Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) – 2014; Grand Budapest Hotel – 2014; Das Bourne Vermächtnis – 2012; Moonrise Kingdom – 2012; "Das Gesetz der Ehre" – 2008; Der unglaubliche Hulk – 2008; Königreich der Himmel – 2005; The Italian Job – 2003; Roter Drache – 2002; The Score – 2001; Glauben ist alles! – 2000; Fight Club – 1999; American History X – 1998; Larry Flynt – Die nackte Wahrheit – 1996; Alle sagen: I love you – 1996; Zwielicht – 1996). Davon ist hier nichts zu spüren. Sein Milliardär strahlt diabolische Lust an der Zerstörung anderer und gleichzeitig ein charmantes Mir-kann-Keiner aus, dessen an eine melancholische Vergangenheit angelehntes, gläsernes Büro dem Film seinen Titel "Glass Onion" gibt. Und Dave Bautista entwickelt sich gerade zum Muskelberg mit darstellerischen Ambitionen (Thor: Love and Thunder – 2022; Dune – 2021; Avengers: Endgame – 2019; Blade Runner 2049 – 2017; James Bond 007: Spectre – 2015; Guardians of the Galaxy – 2014) in der Nachfolge von Schwarzenegger, Stallone und Jason Statham. Insgesamt ist der Cast so bezaubernd, dass wir eigentlich erfahren wollen, warum jeder der Beteiligten es nicht gewesen sein kann – der Fall selbst liegt, wie gesagt, bald offen zutage – aber es fehlt, holen wir den Vorgänger zum Vergleich, eine bezaubernde Unschuld wie Ana de Armas, der wir in Knives Out die Tat einfach nicht als Mord zutrauen konnten. Statt der Unschuld haben wir die mondän auftretende Kate Hudson (Deepwater Horizon – 2016; Mother's Day: Liebe ist kein Kinderspiel – 2016; "Wie werde ich ihn los in 10 Tagen" – 2003; "Die vier Federn" – 2002; Almost Famous – 2000; Dr. T and the Women – 2000), die tapfer gegen das Verschwinden ihrer straffen Jugendlichkeit ankämpft, oder Janelle Monáe (Hidden Figures – 2016), die den Geschäftspraktiken des Milliardärs erlegen war und nun Gerechtigkeit sucht.
Der Film dauert mehr als zwei Stunden in denen es uns zunehmend weniger interessiert, wer es denn nun war: Der Fall liegt offen zu Tage und wer da jetzt noch wie verwickelt sein oder eventuell noch zu Tode kommen könnte, erwarten wir mit der stoischen Gelassenheit eines All-inclusive-Touristen an der griechischen Hotelbar, an der der Retsina vielleicht nicht übermäßig aufregend ist, das Personal hinter der Bar aber sehr unterhaltsam.
Benoit Blanc im Kino
- Knives Out – Mord ist Familiensache (2019)
- Glass Onion: A Knives Out Mystery (2022)