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Plakatmotiv: Motherless Brooklyn (2019)

Melancholischer Großstadtwestern
um Baulöwen und aufrechte Herzen

Titel Motherless Brooklyn
(Motherless Brooklyn)
Drehbuch Edward Norton
nach dem Roman Motherless Brooklyn von Jonathan Lethem
Regie Edward Norton, USA 2019
Darsteller

Edward Norton, Bruce Willis, Gugu Mbatha-Raw, Bobby Cannavale, Alec Baldwin, Michael Kenneth Williams, Cherry Jones, Willem Dafoe, Leslie Mann, Ethan Suplee, Dallas Roberts, Josh Pais, Robert Ray Wisdom, Fisher Stevens u.a.

Genre Crime, Drama
Filmlänge 144 Minuten
Deutschlandstart
12. Dezember 2019
Inhalt

Im New York des Jahres 1954 wird Frank Minna ermordet, Privatdetektiv und Chef von vier ehemaligen Waisenjungen, die heute als seine Spürhunde arbeiten. Lionel Essrog ist einer von ihnen. Minna nennt er seinen Mentor und Freund. Er will herausfinden, wer Minna umgebracht hat.

Der Ermittler leidet unter dem Tourette-Syndrom und somit unter unkontrollierbaren Muskelzuckungen und außerdem gibt er merkwürdige Laute von sich.

In einem Nachtclub kommt Essrog auf die Spur von Laura Rose, einer jungen Frau, die Proteste gegen den Immobilienhai Moses Randolph anführt. Randolph lässt Stadtgebiete zu Slums erklären, damit er sie abreißen lassen und dort eine Schnellstraße errichten kann. Gleichzeitig schlägt und erniedrigt Randolph seinen Bruder Paul, der später die Seiten wechselt und Essrog in dem Fall unterstützt …

Was zu sagen wäre

Ein Mord, eine rätselhafte Frau, die Jazzkeller von Harlem, ein mächtiger Baulöwe und ein Privatdetektiv, der das große Geheimnis, das alle miteinander verbindet, aufschlüsseln will. Das sind die Zutaten, die zu einem jeden Hard-Boiled-Krimi gehören, zum film noir. Früher, zu den schwarz-weißen Zeiten von Humphrey Bogart, Edward G. Robinson oder James Cagney gab es viele dieser Filme. Dann starb das Genre aus und wurde nur hin und wieder reanimiert, um elegante Bilder über die Verkommenheit der Zeit zu malen. Roman Polanskis Chinatown ist ein elegantes Beispiel für dafür. Anfang der 1980er Jahre versuchte sich Wim Wenders mit Hammett an der großen kommunalen Verschwörung. Jetzt hat Edward Norton so einen Film gemacht (nach Glauben ist alles – 2000 – ist das seine zweite Regiearbeit). Seine Bilder sind von kalter Eleganz, die Musik melancholischer Jazz, die Gesellschaft verkommen.

Alles wie immer also. Irgendwie schon, ganz so, als habe er dem Westküsten-Chinatown Polanskis jetzt ein Ostküsten-Brooklyn gegenübergestellt: Was die Kalifornier an Verkommenheit aufbringen, überbieten wir locker. Dass trifft nicht den Kern dieses Films, in den Norton Anspielungen, historische Verweise, erzählerische Metaphern, filmische Zitate und komplexe Figuren packt, dass selbst die zweieinviertel Stunden Laufzeit kaum ausreichen, um alles zu ordnen. Und so sitzen wir davor und es geht uns, wie der Hauptfigur Lionel, einem Waisenjungen, den sein Mentor Frank Minna aus dem Waisenhaus in Brooklyn geholt und ihn zeitlebens „Motherless Brooklyn“ genannt hat. Der ist mit dem Tourette-Syndrom geschlagen, und kommt mit Unordnung nicht zurecht. Einerseits brüllt er unvermittelt Zoten in den Raum oder halbfertige Verse, manchmal auch nur ein „Wenn ..!“, auch muss er immer wieder Menschen dreimal berühren, was zu unangenehmen Missverständnissen führt. Andererseits aber vergisst er nichts. Was er mal gehört hat, bleibt für immer haften. Einmal sitzt er abends einsam an seinem von Neonlichtern beleuchteten Fenster und denkt an früher, wenn er die Hand seiner Mutter im Nacken spürte, hörten seine Tics auf und insgeheim ist er auf der Suche nach dieser Hand, die seine Tics beenden.

Die physisch-psychischen Probleme machen diesen Privatdetektiv Lionel sehr zu einem von uns. Keinen zynischen Privatschnüffler, der die feine Gesellschaft aufmischt, sondern einer, der sich am Rand der Gesellschaft eingerichtet hat, immer freundlich, eher unscheinbar und sich dauernd für seine Tics entschuldigend, der aber Muster erkennt, wo alle anderen nichts sehen. Norton spielt den Geschlagenen selbst, was seine Arbeit an diesem Film auf Drehbuch ich, Regie, Produktion und Schauspielerei erweitert (Alita: Battle Angel – 2019; Verborgene Schönheit – 2016; Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) – 2014; Grand Budapest Hotel – 2014; Das Bourne Vermächtnis – 2012; Moonrise Kingdom – 2012; "Das Gesetz der Ehre" – 2008; Der unglaubliche Hulk – 2008; Königreich der Himmel – 2005; The Italian Job – 2003; Roter Drache – 2002; The Score – 2001; Glauben ist alles! – 2000; Fight Club – 1999; American History X – 1998; Larry Flynt – 1996; Alle sagen: I love you – 1996; Zwielicht – 1996).

Im Mittelpunkt der Schmutzeleien in Nortons Film steht Moses Randolph, der dem realen New Yorker Stadtplaner Robert Moses nachempfunden ist, der die amerikanische Metropole prägte wie kein Zweiter, radikale Änderung durchsetzte und ganze Stadtviertel abreißen ließ, um Platz für Neubauten zu schaffen. In diesem Moses Randolph bündelt sich die große Aktualität dieses Films, der doch mit seiner Privatdetektivgeschichte auf den ersten Blick so aus der Zeit gefallen wirkt. Nortons Film behandelt die höchst aktuellen Themen Gentrifizierung und Disruption.

Ein Stadtplaner mit Visionen erträumt sich eine Stadt mit schicken Hochhäusern, schmucken Brücken und vielerlei Parks zu Erholung der rechtschaffenen – weißen – Bevölkerung. Dafür muss er die Häuser der schwarzen Bevölkerung nur zu Slums erklären, die er legal abreißen und neu aufbauen darf und zwar so, dass seine Brückenzuwege und Parks den nötigen Platz erhalten. Die arme, farbige Bevölkerung wird dann irgendwo an die Ränder umgesiedelt. Dort schließt er sie von den schönen Parks aus, weil die Busse, die sie zu diesen Naherholungsgebieten bringen könnten, nicht unter den neu gebauten schmucken Brücken hindurch passen, weil Randolph die 30 Zentimeter zu tief hat entwerfen lassen (so heißt es im Film. Ob oder in wie weit das der reale Robert Moses so gehandhabt hat, ist nicht bekannt, für den Film aber auch nicht relevant).

Der Stadtplaner träumt vom Flow der Wirtschaft, der schnellen Weiterleitung künftiger Warenströme, auf die er die Stadt vorbereiten will. Dabei sieht er sich nicht „über dem Gesetz“, sondern „dem Gesetz voraus“. Das Gesetz werde den neuen Realitäten schon folgen – ganz so, wie es die digitalen Pioniere aus dem Silicon Valley über Jahrzehnte gehalten haben: alles kaputt machen, neu ausrichten, die Gesetze werden dann schon angepasst.

Es spielen auch noch die Komponenten Waisenkinder und Kinderlose hinein, Machtmissbrauch gegen Machtgebrauch, von der Seite spült das Thema Rassenkonflikt in den Film, Edward Norton hat jede Minute seines Films ausgefüllt. Der Großteil des Films spielt im swingenden Jazz Harlems. So ungeordnet, überraschend, wirr, aber immer in der Spur, wie der Jazz, verläuft der Film, dessen Erzählfluss sich ein ums andere Mal in Redundanzen verliert, nur weil eine Szene gerade so grooved, um dann mit hoher Geschwindigkeit vor zu preschen. In diesem schwer kalkulierbaren Rhythmus kommt der geplagte Privatdetektiv zur Ruhe, weil sich eine Hand in seinen Nacken legt.

Ein eleganter Film mit so viel Stoff, dass manche Fäden, die ihn knüpfen, sich im Komplex verlieren.

Wertung: 6 von 8 €uro
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