Clovis Poplin und seine junge Frau Lou Jean haben eine wenig rühmliche Vergangenheit hinter sich - einen Diebstahl, für den Clovis immer noch sitzt. Jetzt soll das Kind der Beiden in der Stadt Sugarland zur Adoption freigegeben werden. Lou Jean befreit kurzerhand Clovis aus dem Gefängnis, um das Baby zurückzuholen.
Die Fahrt nach Sugarland gerät zum Albtraum: In einer Verkehrskontrolle nehmen sie Streifenpolizist Maxwell als Geisel.
Bald werden sie von einem Riesenaufgebot von Polizisten gejagt. Angeführt werden sie von Captain Tanner, einem erfahrenen Cop, der ahnt, dass er es nicht mit wildgewordenen Kriminellen, sondern mit verstörten Eltern zu tun hat, dem Vorschriften und die scharfen, sensationsgierigen Augen der Reporter von Zeitung, Funk & Fernsehen, die sich an die Top Story hängen, aber die Hände binden …
Es ist ein großartiges Schauspiel, wenn der Sicherheitsapparat erwacht. Ein Polizist wird entführt, der die Entführer in einer klassischen Kinoszene erst einmal darauf hinweist, dass sie bisher noch ganz glimpflich davon kämen, wenn sie den Polizisten nun nur nicht zwingen, in das Auto zu steigen. Anstatt, dass er dann sowas sagt, wie Bisher ist es nur Autodiebstahl, sagt er, und unerlaubter Waffenbesitz. Und Geschwindigkeitsübertretung. Und Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer. Der Zuschauer glaubt, in einer Komödie zu sitzen. Dabei ist es bitter ernst. Die Geschichte, die wir da auf der Leinwand sehen, soll sich 1969 ungefähr so in Texas tatsächlich zugetragen haben.
Steven Spielberg macht das Drama erlebbar mit lauter menschlichen Stolpern. Kurz nach der Entführung streiten sich, während im Bildvordergund Polizisten ein havariertes Auto näher ansehen, im Hintergrund fünf private Abschleppwagenfahrer darum, dieses Auto (auf Staatskosten) abschleppen zu können, „ich hab's zuerst gesehen!“ „Ja, du bist wohl mit ihm zusammen in den Graben gefahren, klar!“ Während die Jungs – immer noch nur im Bildhintergrund – eine Schlägerei vom Zaun brechen, schickt die Zentrale in Houston den Alarm raus, woraufhin Polizisten ihren Imbiss aus dem Autofenster werfen und los eilen, andere holpern ihren Streifenwagen vorzeitig aus der Waschanlage heraus, sehr zum Ärger der – nun – Trinkgeldlosen Helfer. Und während all dem diktiert Lou Jean dem entführten Cop ganz genau den Weg nach Sugarland, wo sie mit ihrem noch zu entführenden Baby Langston offenbar in den Sonnenuntergang zu reiten gedenkt.
Es ist ein großartiger Einstieg in einen Polizeithriller, der uns im Kinosessel deutlich macht: An so einer Aktion sind immer nur Menschen beteiligt, meistens solche, die aus ihrem stupiden Alltag gerissen werden; Menschen und unterbezahlte Polizisten. Die straßenhops klauen bei der ersten Gelegenheit Benzin, was sie für ihre Streifenwagen sonst vorstecken müssten. Gleichzeitig jagt Lou Jean Rabattmarken nach, wo immer es gerade geht.
Der erste Kinofilm von Steven Spielberg. Seine Freude, endlich mit dem goßen Kinobesteck hantieren zu dürfen, sieht man schon dem Establishing Shot gleich nach dem Titelvorspann an. Da steht das Bild los auf einem Straßenschild in Texas. dann zieht die Kamera auf, lässt nach und nach die Weite der texanischen Landschaft erkennen, erfasst in der Ferne einen Bus, den sie nicht mehr aus dem Fokus lässt und schwenkt mit ihm und gleitet aus der Höhe hinab zum Boden ohne Gewackel, ohne Schnitt. Das zeugt von Leidenschaft für das Bild auf der großen Leinwand.
Mit dieser eleganten Kameraführung, die nicht auf spektakuläre Effekte setzt sondern auf die Menschen und ihre Geschichte, erzählt uns der Film eine herzzerreißende Geschichte. Es ist von Anfang an klar, dass Clovis und Lou Jean nicht mit ihrem Baby davon kommen werden. Umso erschütternder ist, wie sehr Lou Jean, augenscheinlich keine besonders helle Kerze auf der Torte, unablässig daran glaubt. Die Sympathien der Kinozuschauer hat sie. Sie ist kein böses Mädchen. Sie hat Pech gehabt im Leben, ist mal falsch abgebogen vielleicht. Aber vor allem: Die neuen Eltern von Baby Langston sind zwei spießige alte Herrschaften in einem weiß gestrichenen Haus am leeren Rand einer kleinen Stadt namens Sugarland, die auch nicht vergessen, ihre Vasen in den sicheren Keller zu bringen, als sich andeutet, dass Schüsse fallen könnten. Vorher halten sie "ihr" gerade 2-jähriges Kind aber noch der Reportermeute vor die Kameras. Solche Pflegeeltern hat niemand verdient.
Spielberg lässt ein paar solcher Unsympathen in seinem Film auftreten. Da sind noch die beiden schießwütigen Familienväter, die dem entflohenen Häftlingspaar nachspüren wie Jäger auf der Pirsch und bei erstbester Gelegenheit eine Schießerei mitten in der Stadt veranstalten. ganz schlecht weg kommen die Reporter diverser TV-Sender, die – wie immer im Kino – die Polizeiarbeit behindern.
Gegen Ende der Reise gibt es Volksaufläufe, die die Flüchtenden wie Volkshelden feiern und mit Teddybären, Haarnadeln und Lou Jeans geliebten Rabattmarken versorgen. Da bekommt "Sugarland Express" einen Hauch von Billy Wilders Reporter des Satans, wenn eine vergnügungssüchtige Wochenend-Meute das wahre Leben mit einem Fernseclip verwechseln.
Die Unsympathen und die Wirklichkeit-nicht-zur-Kenntnis-Nehmer kontrastieren scharf die Normalität der ermittelnden Polizeibeamten, die der Film als durchschnittliche Menschen und Nachbarn charakterisiert. Im Kinosessel sind wir auf Seiten der Flüchtenden, gerade auch, weil sie in ihrer Naivität gar nicht verstehen, was sie da lostreten. Sie tun uns leid. Aber die mehreren hundert Polizisten, die ihnen in einer langen Autoschlange durch Texas folgen, sind eben in ihrer Mehrzahl keine schießwütigen Arschlöcher.
Die Charakterisierung der Figuren und die wunderbare Kamera unter Vilmos Zsigmond (Beim Sterben ist jeder der Erste – 1972) machen den Film zu einem großen Ereignis.
Der Film basiert auf einer wahren Begebenheit im Mai 1969. Ila Fae Dent und ihr Ehemann Robert sind auf der Flucht in Südost-Texas, nachdem das Paar einen Polizisten, Kenneth Crone, als Geisel genommen hat. Im Haus von Ila Faes Mutter kommt es zum blutigen Showdown, bei dem Robert erschossen wird. Kenneth Crone war als Berater für den Film engagiert.
Der Film ist der Beginn der engen Zusammenarbeit Spielbergs mit dem Filmmusik-Komponisten John Williams, der ab diesem Zeitpunkt zu jedem Spielberg-Film bis auf Die Farbe Lila und Bridge of Spies die Filmmusik lieferte.
Die Figur des Captain Tanner, die Ben Johnson als verständnisvolle, aber den Gesetzen gehorchende Vaterfigur anlegte, wurde später immer wieder kopiert. Am besten wahrscheinlich von Ridley Scott in Thelma & Louise (1991).
Der Film gewann beim Filmfestival von Cannes 1974 einen Preis für das Beste Drehbuch, Steven Spielberg wurde für die Goldene Palme nominiert.
Die Kino-Filme von Regisseur Steven Spielberg
- Duell – 1971
- Sugarland Express – 1974
- Der weiße Hai – 1975
- Unheimliche Begegnung der dritten Art – 1977
- 1941 – Wo bitte geht's nach Hollywood – 1979
- Jäger des verlorenen Schatzes – 1981
- E.T. – Der Außerirdische – 1982
- Indiana Jones und der Tempel des Todes – 1984
- Die Farbe Lila – 1985
- Das Reich der Sonne – 1987
- Indiana Jones und der letzte Kreuzzug – 1989
- Always – Der Feuerengel von Montana – 1989
- Hook – 1991
- Jurassic Park – 1993
- Schindlers Liste – 1993
- Vergessene Welt: Jurassic Park – 1997
- Amistad – Das Sklavenschiff – 1997
- Der Soldat James Ryan – 1998
- A.I.: Künstliche Intelligenz – 2001
- Minority Report – 2002
- Catch Me If You Can – 2002
- Terminal – 2004
- Krieg der Welten – 2005
- München – 2005
- Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels – 2008
- Die Abenteuer von Tim und Struppi - Das Geheimnis der Einhorn – 2011
- Gefährten – 2011
- Lincoln – 2012
- Bridge of Spies – Der Unterhändler – 2015
- BFG – Big Friendly Giant – 2016
- Die Verlegerin – 2017
- Ready Player One – 2018
- West Side Story – 2021
- Die Fabelmans – 2022