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Plakatmotiv: Die Spaziergängerin von Sans Souci (1982)

Ein Film, der die richtigen Fragen stellt, aber
in Form eines Thesenpapiers daherkommt

Titel Die Spaziergängerin von Sans-Souci
(La passante du Sans-Souci)
Drehbuch Jacques Rouffio & Jacques Kirsner & Joseph Kessel
Regie Jacques Rouffio, Fr., BRD 1982
Darsteller

Romy Schneider, Michel Piccoli, Helmut Griem, Dominique Labourier, Gérard Klein, Mathieu Carrière, Jacques Martin, Wendelin Werner, Marcel Bozonnet, Christiane Cohendy, Helene Nolin, Pierre Michaël, Véronique Silver, Maria Schell, Raymond Aquilon, Béatrice Avoine, Martine de Breteuil, Arnaud Carbonnier, Patricia Cartier u.a.

Genre Drama
Filmlänge 96 Minuten
Deutschlandstart
22. Oktober 1982
Inhalt

Max Baumstein, Präsident der humanitären Hilfsorganisation "Solidarité Internationale", begeht in Paris ein spektakuläres Attentat: Bei einem Treffen mit dem Botschafter Paraguays wirft er diesem vor, 1933 unter dem Namen Ruppert von Leggaert Mitglied der Deutschen Botschaft in Paris gewesen zu sein und Beziehungen zu einer jungen Frau namens Elsa Wiener gehabt zu haben. Als der Diplomat das zögernd bejaht, zieht Baumstein eine Pistole und erschießt ihn. Danach stellt er sich der Polizei.

In der Untersuchungshaft vertraut Baumstein seiner fassungslosen Frau Lina an, warum er den Botschafter getötet hat. Im anschließenden Prozess erfährt Lina Baumstein das ganze Ausmaß der furchtbaren Erlebnisse, die 1933 in der Kindheit ihres Mannes in Berlin begannen: Dort bekam der junge Max den Terror der an die Macht gekommenen Nazis grausam zu spüren, bevor sich das Ehepaar Wiener des misshandelten jüdischen Jungen annahm.

Elsa Wiener suchte bald darauf mit Max Zuflucht in Paris. Bevor ihr Mann Michel seinen Verlag verkaufen konnte, um ihnen ins Exil zu folgen, wurde er jedoch von den Nazis ins KZ deportiert. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, musste seine Frau als Sängerin in einem Cabaret auftreten. Dort sah Ruppert von Leggaert sie und nutzte Elsas Angst um ihren Mann schamlos aus.
Das alles erfährt Lina Baumstein während der Gerichtsverhandlung – und sie erfährt auch, dass sie das Ebenbild jener unglücklichen Elsa Wiener ist …

Was zu sagen wäre

Die Schreie sind durch Gleichgültigkeit ersetzt worden“, singt die Sängerin Talila, während der Abspann läuft, „mit Wohlstand und Vergessenheit fängt alles von vorne an.“ Dieser Film von Jacques Rouffio behandelt die deutsche Vergangenheit, die noch sehr in die Gegenwart ausstrahlt – in der sie allerdings nicht mehr nur eine deutsche sondern auch eine französische Gegenwart ist und eine Paraguays; und, so müssen wir annehmen, eine der ganzen Welt.

37 Jahre sind seit Kriegsende vergangen, aber in Deutschland setzen wir uns mit dem, was vor dem Kriegsende los war, dem Nationalsozialismus und seinen grausamen Ausprägungen, immer noch sehr zögerlich auseinander, Plakatmotiv: Die Spaziergängerin von Sans Souci (1982) die breite Gesellschaft erst seit der TV-Serie "Holocaust", die uns 1978 doch erschreckt hat. Lange, bevor wir alles für uns aufgearbeitet haben werden, zeigt uns Jacques Rouffio, dass es nie abgeschlossen war, eigentlich immer noch weiter geht – „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, sagt Bertold Brecht in seinem Stück "Der unaufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. In Rouffios Film leben die alt gewordenen Nazis unangetastet in Südamerika. In Paris laufen die Sympathisanten der alten Ideen in Zivilklamotten zwischen unauffälligen Bürgern und bespucken eine, die sich als Jüdin zu erkennen gab. Wo alle vergessen wollen, in Deutschland die Deutschen, dass sie den Nationalsozialisten an die Macht geholfen haben, in Frankreich, dass Kollaborateure die Nazis unterstützt haben, da wächst der Ungeist leicht wie Unkraut zwischen all den hehren Versprechungen des Nie wieder.

Max Baumstein kann das nicht dulden. Der hoch angesehene Menschenrechtsaktivist erschießt einen jener deutschen „Monster“, die seine Pflegeeltern vor beinahe 50 Jahren erst kujonierten und dann ermordeten. Dafür muss er sich vor Gericht verantworten, wo er dann seine Geschichte erzählt. Die ist aus deutscher Sicht beklemmend. Es gibt mittlerweile Spielfilme über Deutschland zwischen 1933 und 1945 – Der Nachtportier (1974) zum Beispiel oder manche Filme, in denen Romy Schneider, selbst Tochter einer glühenden Hitler-Verehrerin, Opfer des Nazi-Terrors wird –, es gibt Dokumentationen. Dennoch bleibt die Brutalität, mit der SA-Männer Max zum Krüppel schlagen und seinen Vater erst verprügeln und dann erschießen, ein Moment dieses Films, der sich einbrennt und den Zuschauer deutlich zu einem Parteigänger Max' machen. Das passierte auf deutschen Bürgersteigen? Am helllichten Tag? Man kann die lebhafte Diskussion im deutschen Blätterwald, die sich gar nicht an dem Film als solchen entzündet, sondern an dem, was er zeigt und wie er es zeigt, nachvollziehen. Aber sie versperrt den Blick auf das Kunstwerk und Drama, das uns erzählt und gezeigt wird. Aber kann man hier überhaupt ohne die historische Komponente ein Drama erkennen, das für sich steht? Nein! Ohne den nicht in Frage zu stellenden Zeigefinger der Moral fällt das Filmdrama in sich zusammen.

Jacques Rouffio ist nicht der erste, der Politik in Filmsprache umsetzt und Anklage erhebt, Francesco Rosi etwa hat 1976 in Die Macht und ihr Preis Anklage gegen das zeitgenössische politische Systems Italiens erhoben, dennoch war sein Film aufregend uns fesselnd. Im bereits erwähnten Nachtportier gerieten die Perversionen der Nazizeit so exaltiert, dass sie im Film nurmehr als Sexploitation durchgingen, nicht mehr als Auseinandersetzung mit tatsächlicher Geschichte. "Die Spaziergängerin von Sans-Souci" stellt die Frage, ob Max' Mord an dem Botschafter Paraguays, der früher der eiskalte Ruppert von Legaart war, gerechtfertigt ist oder nicht. Er diskutiert die Frage aber nicht. Zuerst weiß der Zuschauer nicht, warum, aber weil Michael Piccoli diesen Max Baumstein spielt (Der Maulwurf – 1982; "Atlantic City, USA" – 1980; "Trio Infernal" – 1974; Das große Fressen – 1973; Cesar und Rosalie – 1972; "Der diskrete Charme der Bourgeoisie" – 1972; "Das Mädchen und der Kommissar" – 1971; Die Dinge des Lebens – 1970; Topas – 1969; Belle de jour – Schöne des Tages – 1967; Brennt Paris? – 1966), wird der Mord schon gerechtfertigt sein; und als die Hintergründe für die Tat dann auf dem Tisch liegen, ist die Frage im Dunkel des Kinosaals auch schnell beantwortet. Die meisten von uns sind mit der Gewissheit nach Hause gegangen, dass Selbstjustiz in bestimmten Fällen gerechtfertigt ist. Dafür, dass wir uns jetzt mit unserem Justizwesen auseinandersetzen müssen, das Selbstjustiz in seinen vielen Buchstaben genau nicht vorsieht, gebührt dem Film Achtung: Es ist Aufgabe der Kunst, seine Betrachter zu verstören, auf andere, als die hergebrachten Gedanken zu bringen. Aber einen guten, weil nachvollziehbaren Film habe ich nicht gesehen.

Man soll filmische Zufälle nicht so sehr hinterfragen, weiß ich seit François Truffauts Interview "Mister Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“, deshalb nehme ich hin, dass Max' Ehefrau exakt genau so aussieht, wie jene historische Elsa Wiener, die in seiner Erzählung im Mittelpunkt steht. Dass er sich als erwachsener Mann in eine Frau verliebt hat, die gespuckt so aussieht, wie die von ihm verehrte Elsa, ist klar. Plakatmotiv: Die Spaziergängerin von Sans Souci (1982) Aber dass eine Frau aussieht, wie der eineiige Zwilling einer anderen Frau, ohne mit dieser in irgendeinem verwandtschaftlichen Verhältnis zu stehen, ist schwer zu akzeptieren – und wäre auch gar nicht nötig gewesen; der Dramaturgie des Filmes hätte es nichts genommen, wenn da zwei verschiedene Schauspielerinnen aufgetreten wären. Hier ist es Romy Schneider, die beide Rollen spielt (Das Verhör – 1981; Die zwei Gesichter einer Frau – 1981; "Trio Infernal" – 1974; Cesar und Rosalie – 1972; "Das Mädchen und der Kommissar" – 1971; Die Dinge des Lebens – 1970; Der Swimmingpool – 1969; Spion zwischen zwei Fronten – 1966; Was gibt's Neues, Pussy? – 1965; Nur die Sonne war Zeuge – 1960; Christine – 1958; "Sissi" – 1955) und ihr Spiel verzaubert, das in der Gegenwart als Lina mehr als das in der Vergangenheit als Elsa.

Elsa ist die mutige Frau, die dazwischen geht, als SA-Schergen den jungen Max zum Krüppel schlagen. Sie ist die tapfere, unbeugsame Frau, als sie mit dem Jungen, ohne ihren Mann, in das ihr fremde Paris fährt. Dort wird sie zum Subjekt der Verliebtheit für den sehr freundlichen, väterlichen Champagner-Händler Maurice – und man weiß nicht, warum. In den Pariser Szenen spielt Romy Schneider einen – sehr verständlicherweise – verbitterten Emotionskrüppel, in den sich niemand verlieben kann; die strahlende Schönheit dieser Frau, die an anderen Stellen im Film auch in depressiven Momenten aufscheint, ist da weit weg.

In diesen Szenen wirkt sie wie die Frau, die wir aus den noch frischen Schlagzeilen kennen, welche um ihren 14-jährigen Sohn trauert, der bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Es ist sicher nicht richtig, das, obwohl sogar der deutsche Verleih offensiv damit Werbung macht, in eine künstlerische Bewertung einfließen zu lassen, aber ich, 21 Jahre alt, noch bei der Bundeswehr, möchte sie bemitleidend in den Arm nehmen; in Elsa verlieben, in ihr eine erotische Komponente entdecken (wie der steife Ruppert von Leggaert) tue ich mich nicht.

So bricht das Kunstwerk, das "La passante du Sans-Souci" in erster Linie ist, in seiner wenig filmtauglichen Thesenpapierhaftigkeit in sich zusammen. Die Fragen, die der Film stellt, die keineswegs aus der Welt geschafften Fremdenfeindlichkeit und Judenhass sowie die kaum ansatzweise aufgearbeitete Vergangenheit der beiden Nachbarvölker – die der Deutschen im Besonderen, die der Franzosen im Allgemeinen –, die der Film thematisiert, sind donnernd scharf, wichtig und lautstark nicht beantwortet.

Wertung: 6 von 9 D-Mark
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