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Plakatmotiv: Das große Fressen (1973)

Das Ende der Gesellschaft beginnt
mit Fressen, Ficken und Furzen

Titel Das große Fressen
(La grande bouffe)
Drehbuch Marco Ferreri & Rafael Azcona & Francis Blanche
Regie Marco Ferreri, Frankreich, Italien 1973
Darsteller

Marcello Mastroianni, Michel Piccoli, Philippe Noiret, Ugo Tognazzi, Andréa Ferréol, Solange Blondeau, Florence Giorgetti, Michèle Alexandre, Monique Chaumette, Henri Piccoli, Maurice Dorléac, Simon Tchao, Louis Navarre, Bernard Menez, Cordelia Piccoli, Jérôme Richard, Patricia Milochevitch, James Campbell u.a.

Genre Komödie, Drama
Filmlänge 130 Minuten
Deutschlandstart
27. September 1973
Inhalt

Vier Freunde mittleren Alters treffen an einem Wochenende in einer alten Villa. Der Pilot Marcello, der Koch Ugo, der Fernsehredakteur Michel und der Richter Philippe sind gelangweilt vom Leben und wollen selbigen mit einer übermäßigen Fress- und Sexorgie ein Ende setzen.

Das Personal wird nach Hause geschickt, stattdessen sorgen drei Freudenmädchen für das leibliche Wohl. Zufällig stößt auch die Lehrerin Andrea zu den lebensmüden Herrschaften und findet bald Gefallen an der dekadenten Gesellschaft. Getreu dem Motto "Eine für Alle", gibt sie sich den Männern bereitwillig hin und genießt die Flucht aus den eigenen einfachen bürgerlichen Verhältnissen sichtlich.

Angewidert von der ungehemmten Wolllust und gnadenlosen Völlerei der vier Todgeweihten, verlassen die drei Prostituierten nach und nach das Anwesen. Und es dauert auch nicht lange, bis der erste Teilnehmer der Orgie aus dem Leben scheidet …

Was zu sagen wäre

Vier Parademänner aus der Belle Etage der Gesellschaft: ein Gerichtspräsident, ein Fernsehredakteur, ein Sternekoch und ein Flugkapitän. Regisseur Marco Ferreri zeigt uns das Ende dieser Gesellschaft. Es gibt nichts mehr, was diese Männer noch erreichen könnten. Oder erreichen wollten. Ihr Leben langweilt sie. Ferreri reißt ihre Lebensumstände in kurzen Zusammenschnitten an. Plakatmotiv (Fr.): La Grande bouffe (1973) Die Frau des Restaurantchefs Ugo macht sich über Ugos Küchenmessersammlung lustig, die Haushälterin des Gerichtspräsidenten Philippe jammert, dass er lieber Dirnen statt sie beglückt, Pilot Marcello fliegt und vögelt, vögelt und fliegt und findet den Kick nicht mehr und schließlich Michel, der Fernsehmann, der es leid ist, dass ihn alle, auch seine Tochter, nur um Engagements beim Sender anbetteln.

Was kann noch kommen? Völlerei und Sex! Wenn das Leben zu Ende geht, sind das die Dinge, die dem Mann noch Befriedigung bereiten. Die vier Männer haben, bevor der Film beginnt, beschlossen, sich in dem malerisch verwinkelten alten Haus in einem abgelegenen Arrondissement von Paris mit den feinsten Speisen zu beglücken und so lange zu essen, bis der letzte tot umgefallen ist. Das ist zu Beginn des Films in der Deutlichkeit keineswegs klar, aber jeder, der "La Grande bouffe" sieht, weiß es, weil der Film für jede Menge Schlagzeilen über die Besprechung in den Feuilletons hinaus gesorgt hat. Die vier Männer, die die Vornamen ihres jeweiligen Schauspielers beibehalten – Marcello Mastroianni ("Was?" – 1972; Fellinis Roma – 1972; Mohn ist auch eine Blume – 1966; Das 10. Opfer – 1965; Achteinhalb – 1963; Das süß Leben – 1960), Michel Piccoli ("Blutige Hochzeit" – 1973; Die Dinge des Lebens – 1970; Topas – 1969; Belle de Jour – 1967; Brennt Paris? – 1966), Philippe Noiret und Ugo Tognazzi – sind bester Laune, lassen ihren Abgang locker angehen, laden später auch noch drei Prostituierte dazu, weil Marcello ohne mehrmaligen Sex am Tag nicht sein will. Es sind die Mechanismen einer von Männern dominierten Gesellschaft, die wir hier vorgeführt bekommen. Als ich den Film Anfang der 80er Jahre sehe, ist er schon knapp zehn Jahre alt, die Scheidungsraten sind in die Höhe geschnellt – also die Zahl der Frauen, die auf dem Weg in die Eigenständigkeit ihre Männer verlassen haben – aber im Grunde sind die Begleitumstände hemmungsloser, männlicher Machtausübung immer noch dieselben, die der Film vorführt: Fressen, Ficken, Furzen. Ferreri zeigt die Gesellschaft auf ihrem Zenit, ab dem es nur noch abwärts geht. Der Mann hat alles erreicht, die Raumfahrt, die ihn in physisch höhere Sphären katapultieren könnte, ist noch nicht so weit, das heißt: Hier ist Schluss. Am Ende der Menschheit steht eine degenerierte, vor sich hin brabbelnde Gesellschaft.

Die Frauen halten das nicht aus. Die professionell ihren Körper zu Markte tragenden Huren fliehen diese Gesellschaft, statt dessen sammeln sich draußen im kalten Herbstlaub die streunenden Hunde, die den Tod riechen. Die einzige Frau, die bleibt, ist die einsame Lehrerin Andrea, die aus ihrem von vorlauten Schulkindern dominierten Alltag ausbricht und die vier Männer als das nimmt, was sie kennt: vier Jungs, die sich nach Wärme und Zuneigung sehnen, die sie in der Gesellschaft da draußen, die Ferreri in kalte, bläuliche Farben taucht, nicht mehr finden. Da offenbart sich die andere Seite des Elends: In einer von Männern dominierten Gesellschaft draußen in der kalten Welt haben die Frauen ihre Rolle professionalisiert, dem Markt angepasst: Sie erziehen (Lehrerin) die angehenden und befriedigen (Prostituierte) die erwachsenen Männer und lassen sich dafür bezahlen. Das Kochen übernehmen die Männer lieber selbst, es soll ja von Herzen kommen. Trost, Wärme, echte Zuneigung sieht so ein Zenit für die Gesellschaft nicht vor. Auch die sich so herzenswarm gebende Lehrerin, die Andréa Feréol (Der Schakal – 1973; Der Mann aus Marseille – 1972) in stets knapper Kleidung als barocke Mater familias spielt, verlässt ungerührt – Motto: War nett. Danke für die Abwechslung! – den Schauplatz, kaum dass der letzte Mann tot ist.

Dramaturgisch gibt der Film wenig her. Es geht in keiner Szene darum, sich das mit dem Totfressen vielleicht nochmal zu überlegen. Das Erschrecken über den ersten Todesfall ist dann zwar laut, ändert aber nichts an der grundsätzlichen Zielsetzung der Männer. Im Kinosessel schauen wir zu, wie immer neue, raffiniert zubereitete Schlachtplatten aufgetragen werden, wie Marcello wieder eine der Prostituierten bumst oder wie er an einem alten Bugatti in der Garage herum schraubt. Die Dialoge bieten keinen Erkenntnisgewinn, gleichen eher weiteren Geräuschen. Auch die Inszenierung hat ihren Zenit erreicht. Was soll sie noch inszenieren, wenn es nur noch um Überdruss und Todessehnsucht geht? So konzentriert sie sich auf die ein oder andere unappetitliche Szene mit explodierenden Kloschüsseln oder vollgeschissenen Hosen.

Anfang der 80er, als ich den Film sehe, ist die europäische Welt ein bisschen anders, als die vor zehn Jahren, als dieser Film hohe Wellen schlug und Empörung auslöste. Die Sexszenen, manche der Fressszenen, vor allem aber die sehr deutlich zu hörenden Verdauungsgeräusche stießen damals auf Hör- und Sehgewohnheiten, die im Kino Clint Eastwoods Männlichkeit oder die Härte des Paten kannten. Bevor ich "La grande bouffe" gesehen habe, habe ich schon den erst zwei Jahre nach "La Grande bouffe" gedrehten Die 120 Tage von Sodom gesehen, der sich auch mit dem Ende der zivilisierten Gesellschaft auseinandersetzt und perverser und ekelhafter in der Ausstellung von Pornografie und (buchstäblich) Scheiße ist. Vielleicht bin ich deshalb ein wenig abgehärtet. "Das große Fressen" ist ein interessantes Experiment; ein Film, der versucht, die menschliche Dekadenz und ihre Folgen auf das Individuum herunterzubrechen. Der Film scheitert daran, dass mir die Teilnehmer an diesem Experiment, Marcello, Michel, Philippe und Ugo, den Film über herzlich egal bleiben. Sie sagen mir nichts. Aber das wenigstens sagt mir dieser Film visuell ansprechender als Pasolinis "120 Tage".

Wertung: 3 von 8 D-Mark
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