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Plakatmotiv: Everything Everywhere All at Once (2022)

Die Sehnsucht nach Familie
als grotesker Irrsinns-Trip

Titel Everything Everywhere All at Once
(Everything Everywhere All at Once)
Drehbuch Daniel Kwan & Daniel Scheinert
Regie Daniel Kwan + Daniel Scheinert, USA 2023
Darsteller

Michelle Yeoh, Stephanie Hsu, Jamie Lee Curtis, Ke Huy Quan, James Hong, Tallie Medel, Jenny Slate, Harry Shum Jr., Biff Wiff, Sunita Mani, Aaron Lazar, Brian Le, Andy Le, Narayana Cabral, Chelsey Goldsmith, Craig Henningsen, Anthony Molinari, Dan Brown u.a.

Genre Action, Abenteuer, Komödie
Filmlänge 139 Minuten
Deutschlandstart
28. April 2022
Inhalt

Waschsalonbesitzerin Evelyn Wang geht im Chaos ihres Alltags unter: Der Besuch ihres Vaters überfordert sie, die Wünsche der Kunden bringen sie an ihre Grenzen und die anstehende Steuererklärung wächst ihr komplett über den Kopf.

Während eines Besuches in der Steuerbehörde übernimmt eine Entität namens "Alpha Waymond" die Kontrolle über ihren Ehemann und erzählt Evelyn von den vielen Paralleluniversen, die existieren. Weil das Multiversum nun von Jobu Tupaki bedroht wird, die nach Belieben von einem Universum ins andere springen und auch Materie manipulieren kann, und Alpha Waymond glaubt, nur Evelyn könne sie aufhalten, fordert er sie auf, ihr ungenutztes Potenzial zu nutzen, weil sie dies von allen ihrer Versionen bislang am wenigsten getan hat.

Raum und Zeit lösen sich auf, und die Menschen um Evelyn herum haben, ebenso wie sie selbst, plötzlich weitere Leben in Parallelwelten. Sie entdeckt, dass sie auf die Fähigkeiten und das Leben anderer Versionen ihrer selbst zugreifen kann.

Das ist auch bitter nötig, denn sie wird mit einer großen, wenn nicht der größtmöglichen Mission betraut: Der Rettung der Welt vor dem unbekannten Bösen …

Was zu sagen wäre

Dass jeder Mensch einzigartig ist, ist eine Binse. Dass die größte Schwäche der Menschen ist, diese Einzigartigkeit nicht einfach zu erkennen, ja sie mit albernen Insignien wie Frontspoiler am Auto, künstlichen Fingernägeln oder grotesken Instagram-Auftritten zu pimpen, um als Super-Individalist, der individualistischer als all die anderen Individualisten ist, zu strahlen, ist Philosophie – und damit besonders begehrter Stoff für Filmemacher. „Es gab so viele Ziele, die Du aufgegeben hast. Träume, denen Du nie gefolgt bist“, sagt der Mann, der so aussieht, wie der Mann von Evelyn, aber nicht der Mann von Evelyn ist, zu Evelyn und das hört diese, obschon verwirrt wegen der allgemein verrückten Situation, natürlich gerne; endlich versteht ihr nervtötender, langweiliger Ehemann, auf wieviel sie verzichtet hat im Leben, um hier an dieser Stelle im Leben zu stranden! Und endlich sagt er ihr, dass nur sie in der Lage sein wird, die Welt zu retten. Ach was, die Welt – das Uni- und das Multiversum gleich mit: „Du lebst Dein schlechtestes Ich! (…) Jedes Versagen hier ist unweigerlich der Erfolg einer anderen Evelyn in einem anderen Leben. Die meisten Menschen haben nur ein paar ganz nah' zusammenliegende, bedeutende alternative Lebenswege. Aber Du bist einfach zu allem fähig. Weil Du nämlich so schlecht in allem bist!“ Okay, das hört man nicht so gerne, dass man in allem „so schlecht“ ist, aber: Wie beruhigend! Du kannst noch so unfähig sein, irgendwo ist Deine Unfähigkeit für etwas gut, rettet sogar Leben. Ein Trost in diesen düsteren Zeiten von Corona-Pandemie, Russland-Ukraine-Krieg und Klimanotstand.

Das Multiversum hat Hollywood erreicht. Längst toben sich die Marvel-Superhelden darin aus. Aber deren Multiversum ist, vergleichen mit dem der Regiefreunde Daniel und Daniel, die sich auf ihren Registühlen "Daniels" nennen, bestenfalls zweidimensional. Wie schon in den Comicvorlagen dient es dort der Erweiterung der Möglichkeiten für das Filmstudio, noch viel mehr Geschichten zu erzählen und zu verkaufen, und auch schon Totgeglaubte mit besseren Verträgen zurück ins Leinwandleben holen zu können – das Multiversum als Metaebene für die Produzenten. In "Everything Everywhere All at Once" (Branchenkürzel: EEAAO) ist das Multiversum Bedrohung und Rettungsanker zugleich – und Hauptdarsteller der Geschichte. Jede noch so kleine Entscheidung in Deinem Leben begründet ein neues Universum, in dem fortan Dein Zwilling mit der entgegengesetzten Entscheidung weiterlebt – es gibt ein Universum, da ist die Ehefrau aus dem Waschsalon ein erfolgreicher Filmstar, aber Single, in einem anderen ist sie mittelmäßige Showköchin, in wieder einem anderen hat sie statt Fingern Hotdogs. Wieder woanders, in der schönsten Situation des Films, liegen zwei Steine in einer zerklüfteten Wüstenlandschaft, die sich als Evelyn und ihre Tochter Joy identifizieren. Die unterhalten sich dann miteinander – stumm, der Dialog wird über Schrifteinblendungen erfahrbar gemacht – und stellen fest, dass eigentlich nichts im Universum von Bedeutung ist. Dort bist Du gefeierter Filmstar, hier ein Sediment, und die Frage stellt sich mit zunehmender Anzahl von Universen, wie man sich denn dann "richtig" verhält, oder ob das überhaupt eine Rolle spielt: „Sei einfach ein Stein!“, rät die entspannte Tochter ihrer unruhigen Mutter, der in diesem Universum als Stein das adäquate, der Situation angepasste Verhalten ebenso abgeht, wie in ihrer eigenen Welt, in der lauter Menschen falsch miteinander umgehen – unfreundlich, gehässig, bösartig; irgendwann rät Waymond, Evelyns Ehemann (gespielt von Indiana Jones' Kinderfreund Ke Huy Quan aka Short Round), „sei freundlich mit anderen Menschen“. Diese einfache Regel spielt in Evelyns Universum kaum eine Rolle. Anders als die Steine im anderen Universum insinuieren, ist eben doch etwas von Bedeutung: Sei freundlich.

Was wäre, wenn ..? Hätte ich damals doch bloß ..! Man kann sich mit diesen Denkaufgaben um den Schlaf bringen, deshalb hat der rationale Mensch für den gesunden Schlaf den Satz „Hätte, hätte, Fahradkette“ erfunden. EEAAO gibt sich der Gedankenflut hin. Und eine Flut ist es geworden. Eine Bilderflut, inspiriert von Anime-Cartoons und Hongkong-Action mit Anleihen bei Stanley Kubik, Wong Kar-wai oder Pixars Ratatouille, in der die Ebenen manchmal so schnell wechseln, dass man sich dem Strom der Ereignisse am besten einfach ergibt. Plakatmotiv: Everything Everywhere All at Once (2022) Im Zentrum stehen keine Superhelden. Im Gegenteil stehen da eher Figuren aus dem Katalog für Independent Filme. Da ist die vom Alltag entnervte Evelyn, ihr Ehemann, der, weil er es nicht mehr aushält, schon die Scheidungspapiere mit sich herumträgt, Evelyns stockkonservativer Vater, ein Pflegefall, der erst kürzlich aus seiner chinesischen Heimat in die neue amerikanische Heimat der ungeliebten Tochter gekommen ist, und Evelyns Tochter Joy, die um die Liebe ihrer Mutter ringt, die nicht akzeptieren will, dass Joy eine Freundin statt eines Freunds mit nach Hause bringt. Im Zentrum steht also eine dysfunktionale Familie. Damit kennt sich Hollywood aus – leider, möchte man fast sagen. Aber so irre und abgedreht, wie sich die erste Hälfte des mehr als zwei Stunden langen Films entwickelt, hätten wir länger womöglich auch nicht nicht ausgehalten; dass sich die zweite nicht minder irre Hälfte des Films auf die Reparatur der Family Values konzentriert, kommt dem nach Halt suchenden Zuschauer entgegen.

Die Familie ist fremd im Land und sich selbst und lebt das Klischee chinesischer Einwanderer, indem sie einen Waschsalon betreibt. Und wegen eines falsch ausgefüllten Formulars Schwierigkeiten mit dem Finanzamt hat, in dem Deirdre Beaubeirdra strenges Regiment führt und gespielt wird von Jamie Lee Curtis (Halloween kills – 2021; Knives Out – Mord ist Familiensache – 2019; Halloween – 2018; "Freaky Friday" – 2003; Halloween: Resurrection – 2002; Der Schneider von Panama – 2001; Virus – Schiff ohne Wiederkehr – 1999; Halloween H20 – 1998; Wilde Kreaturen – 1997; True Lies – Wahre Lügen – 1994; Blue Steel – 1990; Ein Fisch namens Wanda – 1988; Die Glücksritter – 1983; The Fog – Nebel des Grauens – 1980; Halloween – Die Nacht des Grauens – 1978). Curtis mit Weißhaar-Bob-Perücke und Fatsuit unter Polyesterpullover spielt die Vorschriften-versierte Steuerbeamtin als düstere Bedrohung jeden unkorrekten Lebens auf der Erde und wirkt dabei doch nicht unsympathischer als Michelle Yeoh in der Hauptrolle der geplagten Evelyn (Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings – 2021; Mechanic: Resurrection – 2016; Tiger & Dragon – 2000; James Bond 007 – Der Morgen stirbt nie – 1997); denn die ist ein Kotzbrocken, unsympathisch zu Jedermann und tatsächlich das Produkt der eingangs erwähnten vielen falschen Entscheidungen. Entsprechend groß fällt ihre Heldinnenreise aus, an deren Ende sie in den Sonnenuntergang aller glücklichen Familien rollen kann – auch in diesem Film ist es keine Frage des Ob, lediglich eine des Wie sie in diesen Sonnenuntergang gelangt; da ist der Film der Regiefreunde ganz im durchschnittlichen Hier und Jetzt mit den freundlichen Familienwerten, die für Jederfrau und Jedermann gelten. Ursprünglich hatten die beiden Daniels Yeohs Rolle für Jackie Chan geschrieben, den Gottvater der abgedrehten Hongkong-Action, aber der fand das Script wohl so wirr, dass er fürchtete, sich lächerlich zu machen und sagte dankend ab.

Als Zuschauer folgt man dieser verrückten Reise gerne, weil die Figuren, bei aller Verschroben- oder Boshaftigkeit doch schrullig normal gezeichnet sind, weil die Bilder und deren Komposition erfrischend irre sind – und weil der Film auf ein Schlechte-Laune-Loch trifft. Es ist Zufall und konnte keiner der Filmemacher ahnen, aber der Start eines so durchgeknallten, aberwitzigen Films stößt auf dem Höhepunkt einer einsam machenden Pandemie und am Beginn eines schlechte Laune machenden Krieges auf ein unbedingt nach Abwechslung gierenden Publikums, dessen Zulauf aus dem Film voller origineller Ideen ein Phänomen macht. 25 Millionen Dollar plus minus hat der Film gekostet, was für Filme dieser Art wenig ist, vor allem, wenn der Film dann wie ein 100-Millionen-Produkt aussieht. Eingespielt hat er mittlerweile rund 107 Millionen Dollar.

Wertung: 5 von 8 €uro
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