Wanda Maximoff, die Scarlet Witch, hat sich in die Wälder zurückgezogen, nachdem sie eine ganze Kleinstadt unter ihre mentale Kontrolle gezwungen und dort Glückliche Familie gespielt hatte. Aber der Gedanke, eigene Kinder zu haben, hat sie nie losgelassen. Jede Nacht träumt sie von fröhlichem Schabernack mit ihren Jungs. Sie weiß, in den Weiten des Multiversums, das aus unzähligen, parallel existierenden Universen besteht, gibt es mindestens eine Wanda, die genau dieses Glück lebt. Aber selbst Wanda, die mächtige Hexe kann nicht ohne Weiteres in ein anderes Universum wechseln. Sie hat sämtliche Zauber ausprobiert, hat sogar das verbotene Darkhold studiert. Und das hätte sie lieber sein lassen.
Das Darkhold hat sie verändert. Die freundliche Wanda ist nicht mehr. Jetzt will sie mit allen Mitteln ins Multiversum, um ein Leben als glückliche Mutter zu leben. Deshalb jagt sie ein junges Mädchen, America Chavez, die als einzige zwischen den Universen hin- und herspringen kann. Die Witch will sich diese Fähigkeit rauben.
In New York hat sie dem Mädchen ein krakenartiges, einäugiges Monster auf den Hals gehetzt, das bei der Jagd ganze Straßenzüge zertrümmert. Doctor Strange, Meister der mystischen Mächte, eilt ihr zu Hilfe und nachdem er das Riesenmonster endlich ausgeschaltet hat, erkennt er in dem Mädchen das Mädchen wieder, von dem er jede Nacht träumt. America klärt ihn auf, dass diese Träume keine Träume im herkömmlichen Sinne sind, sondern Visionen anderer Universen; in dieser Vision lässt der Doctor Strange jenes Universums das Mädchen schließlich im Stich, will es lieber töten als retten.
Die Gefahr, die von dem Mädchen, das seine Gabe noch gar nicht beherrscht, ausgeht, ist in der Tat groß, denn wenn die Scarlet Witch sich Americas Kräfte aneignen würde, gerät das gesamte Multiversum in Unordnung, denn mit den Gesetzmäßigkeiten des Multiversums soll man nicht niederträchtig spielen, schon gar nicht auf Kosten der parallelen Existenzen …
Im letzten Drittel des Films beginnt das große Heldensterben und eröffnet einen Blick auf die nahe Zukunft des Marvel Cinematic Universe. Es zeichnet sich da ein Anything goes ab, wie es einst für die Comics erfunden wurde, weil zum Beispiel Peter Parker nicht auf ewig ein Schüler bleiben kann, sein Schicksal als Spider-Man aber auch nach 60 Jahren sehr an dieser gemobbten Figur entlang erzählt wird. Die Lösung lautet "Multiversum". Ein Ort voller alternativer Wirklichkeiten, in der jede Entscheidung ein neues Universum erschafft, in welchem die andere Entscheidung gewählt wurde. Wenn wir also im letzten Drittel des Films erleben, wie Captain Marvel, Black Bolt, Professor Xavier, Mr. Fantastic und Captain Carter getötet werden, muss uns das im Kinosessel nicht grämen. Es sind alles Figuren aus einem Paralleluniversum. In unserem Universum sind sie alle noch lebendig und heißen ja auch etwa nicht Captain Carter, sondern Captain America und können auch weiter kommerziell ausgeschlachtet werden. Es kann alles passieren, weil nichts irgendwelche langfristigen Auswirkungen hat.
Es hilft ein wenig, wenn man brav alle Marvel-Serien auf Disney+ verfolgt hat. Dann ist man mit dem Prinzip des Multiversum etwa durch die Serie "What if …?" besser vertraut und weiß, wovon die Rede ist, wenn Wanda Maximoff ein schlechtes Gewissen hat, weil sie eine ganze Kleinstadt mental unter ihrer Kontrolle hielt, um dort Familie mit Ehemann Vision und zwei Söhnen zu spielen. Aber zwingend notwendig ist es nicht. "Doctor Strange in the Multiverse of Madness" ist auch so schon eine wilde Fahrt durch den Irrsinn des modernen Kinos. Längst geht es ja nicht mehr um künstlerische Ideen und kreative Prozesse, sondern um das immer wieder Befeuern einer Marke.
Auf dem Regiestuhl sitzt Sam Raimi, Veteran des Superheldenkinos, Veteran des Horrorkinos (Drag me to Hell – 2009; Spider-Man 3 – 2007; Spider-Man 2 – 2004; Spider-Man – 2002; The Gift – Die dunkle Gabe – 2000; Aus Liebe zum Spiel – 1999; Ein einfacher Plan – 1998; Armee der Finsternis – 1992; Darkman – 1990; Tanz der Teufel 2 – Jetzt wird noch mehr getanzt – 1987; Tanz der Teufel – 1981). Raimi kam auf diesen Stuhl, nachdem der eigentlich vorgesehene Regisseur Scott Derrickson, der den ersten Doctor Strange-Film 2016 geleitet hat, wegen der berüchtigten "kreativen Differenzen" geschasst worden war. Der kreative Spielraum für Regisseure ist bei Produkten für die Marvel-Fabrik mittlerweile so gering, dass Regisseure kaum mehr sind als Erfüllungsgehilfen des Produzenten, die kaum noch eigene Ideen – ursprünglich mal das spezielle Rüstzeug von Regisseuren – umsetzen können. Kevin Feige wollte den Horrortouch der Comicvorlage verstärkt sehen, ohne die Altersfreigabe "PG 13" (ab 13 Jahre in Begleitung der Eltern) zu gefährden. Den Gefallen hat Sam Raimi ihm getan, ohne sich dabei zu verbiegen.
Wanda Maximoff läuft über Strecken mit Blut überströmtem Gesicht durch die Green-Screen-Kulisse. Stephen Strange, der Titelheld, schlüpft im letzten Ausweg, weil er die mächtige Scarlet Witch anders nicht stoppen kann, als Traumwandler in den toten und halb verwesten Körper eines Doctor Strange aus einem Paralleluniversum und bestreitet das Finale also als Walking Dead. Und als er einer weiteren Inkarnation seiner Selbst, einer dunklen, entgegentritt, bekämpfen sich die beiden mit Noten vom Notenblatt, die geschleudert zur tödlichen Waffe werden – die schönste Szene im Film, unterlegt mit den passenden Klängen von Bach, Beethoven und dann wieder Danny Elfman, der den Score komponiert hat und keine Pausen findet. Grob gesagt unterteilt sich der Film in bunte SFX-Explosionen und langatmige Erklärszenen, die zu kaum etwas nütze sind, den Fans aber verkaufsförderndes Debattenpotenzial auf Social Media liefern, weil "Gaststars" auftauchen, hier zum Beispiel „der intelligenteste Mann der Erde", Reed Richards, Kopf der Fantastic Four – Marvel-Sprech: "Marvels First Family" –, die in naher Zukunft und im vierten Anlauf dann endlich keine lächerlichen Kinofiguren mehr abgeben, sondern dem MCU einen ordentlich Boost verpassen sollen. Damit die Zielgruppe, die in der Reihe vor mir mit sich selbst und ihren Smartphones beschäftigt ist, nicht glauben muss, eine Tonstörung zu erleben, donnert Danny Elfman seinen Score auch über diese Erklärszenen mit Gaststars; ähnlich wie bei Steven-Spielberg-Filmen im vergangenen Jahrhundert, die sein Hauskomponist John Williams bisweilen in Musicals verwandelte, kann auch Danny Elfman sein kompositorisches Wasser nicht halten – unablässig dröhnt der Score, damit wir wissen, was wir zu fühlen haben.
Dabei fühlen wir schon länger nichts mehr im Marvel-Kino. Wir sehen ein paar beeindruckende Bilder und lassen den Rest über uns ergehen.