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Plakatmotiv: Nomadland (2020)

Zutiefst menschliches Panorama
einer modernen US-Gesellschaft

Titel Nomadland
(Nomadland)
Drehbuch Chloé Zhao
nach dem gleichnamigen Sachbuchs von Jessica Bruder
Regie Chloé Zhao, USA, D. 2020
Darsteller

Frances McDormand, David Strathairn, Linda May, Charlene Swankie, Bob Wells, Derek Endres, Peter Spears, Gay DeForest, Patricia Grier, Angela Reyes, Carl R. Hughes, Douglas G. Soul, Ryan Aquino, Teresa Buchanan, Karie Lynn McDermott Wilder, Brandy Wilber, Makenzie Etcheverry, Annette Webb, Rachel Bannon u.a.

Genre Drama
Filmlänge 107 Minuten
Deutschlandstart
1. Juli 2021
Inhalt

Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der Bergbaustadt Empire in der Nähe der Black Rock Desert in Nevada, durch den sie selbst alles verloren hat, packt die 60-jährige Fern ihr Hab und Gut in ihren weißen Van und macht sich, ohne eine bestimmte Richtung oder ein bestimmtes Ziel im Auge zu haben, auf den Weg, um als moderne Nomadin im Westen der USA ein Leben außerhalb der konventionellen Gesellschaft zu erkunden.

Sie verzichtet während ihrer Reise auf materiellen Komfort, nimmt jegliche Arbeit an, die sie unterwegs angeboten bekommt, von der Reinigung von Toiletten im Badlands National Park über die Arbeit in einer Restaurantküche in South Dakota bis hin zum Verpacken von Waren in einem Amazon-Fulfillment-Center in den Wochen vor Weihnachten, und nabelt sich von Freunden und Familienmitgliedern ab. Doch Fern ist auf ihrer Reise alles andere als allein zwischen all den anderen Menschen, die auch in ihren Wohnmobilen leben. Immer wieder macht sie die Bekanntschaft von Menschen, die aus ähnlichen Gründen unterwegs sind wie sie und ihre Häuser, ihre Arbeit oder einen geliebten Menschen verloren haben

Was zu sagen wäre

Am Ende verlässt Fern das schon lange verlassene, eingestaubte Haus, in dem sie bis zu dessen Tod mit ihrem Mann gelebt hatte. Sie war nochmal vorbeigekommen, um zu gucken, wie es da heute aussieht, wo einst die Stadt Empire eine fröhliche Gemeinde war, deren größter Arbeitgeber eine Gipsmine war, die 2011 für immer zu machte. Die meisten Menschen zogen damals weg. Heute ist Empire eine moderne Geisterstadt. Und nun verlässt Fern das leere Haus in der leeren Stadt ein letztes Mal, die Kamera beobachtet sie von innen und das Bild erinnert an einen großen Einsamen der Filmgeschichte, den von John Wayne gespielten Ethan Edwards, der am Ende von John Fords Der schwarze Falke (1956) das Haus seiner Schwester verlässt, die Kamera steht im Türrahmen und er geht seiner Wege Richtung Ferne. Alleine, ohne die zivilisierende Obhut einer Familie um sich. Plakatmotiv (IMAX): Nomadland (2020) Auch Fern geht endgültig. Zweimal ist sie während des Films zu Gast in Familien, zweimal verlässt sie die Häuser im Morgengrauen.

Chloé Zhaos Film ist ein Drifter, so wie die Menschen, denen er folgt. Es gibt kein Ziel, kein großes Finale nach Drama und Katharsis. Nach dem Tod ihres Mannes hat Fern die Sachen gepackt, die ihr wichtig sind und ist losgefahren in eine Welt, die der Film zwischen Dokument und Fiktion ansiedelt. Fern ist eine fiktive Figur, gespielt von der wieder wunderbaren Frances McDormand (Three Billboards Outside Ebbing, Missouri – 2017; Hail, Caesar! – 2016; Moonrise Kingdom – 2012; Transformers 3: Die dunkle Seite des Mondes – 2011; The Man Who Wasn't There – 2001; Almost Famous – Fast berühmt – 2000; Die Wonder Boys – 2000; Zwielicht – 1996; Fargo: Blutiger Schnee – 1996; Rangoon – 1995; Short Cuts – 1993; Miller's Crossing – 1990; Darkman – 1990; Mississippi Burning – 1988).

So wie Zhaos vorheriger Film The Rider (2017) baut auch dieser hier zwar auf einer Spielhandlung auf, ist also ein Spielfilm mit inszenierten Szenen und inszenierten Personen – ein semifiktionales und dokumentarisch anmutendes Roadmovie. Es tauchen Lagerfeuer in Nomadencamps auf und Menschen, die sich selbst spielen, aber in fiktionalisierten Rollen und Fern (und damit dem Zuschauer) ihre Träume erzählen und das Leben auf der Landstraße, in der Prairie, am Lagerfeuer erklären. Denn es gibt diese Lagerfeuer. Es gibt diese Nomaden, die meisten qualifiziert genug, rasch wieder in ein Leben mit Job, Haus und Baseballverein einzusteigen. Aber sie wollen nicht mehr. Sie möchten so leben. Meistens jedenfalls.

Diese USA, die sich aus den Pionierarbeiten des 19. Jahrhunderts entwickelt haben, aus der Arbeit der Cowboys, die John Wayne so oft gespielt hat, sind nicht ihre USA. Hier ist der Film mehr Dokumentation als Fiktion. Chloé Zhao hat eine Beinahe-Liebesgeschichte eingebaut, die dem Film Struktur gibt, einen roten Faden, der der Orientierung dient, die die Geschichte selbst gar nicht braucht; die aber David Strathairn mal wieder Gelegenheit bietet, zu zeigen, wie er mit wenig spielerischem Klimbim große Wirkung erzielt (Godzilla II: King of the Monsters – 2019; Best Exotic Marigold Hotel 2 – 2015; Godzilla – 2014; Lincoln – 2012; Das Bourne Vermächtnis – 2012; Das Bourne Ultimatum – 2007; Simon Birch – 1998; L.A. Confidential – 1997; Am wilden Fluss – 1994; Die Firma – 1993; Sneakers – Die Lautlosen – 1992; Eine Klasse für sich – 1992).

Nach Jahrzehnten der Industrialisierung, in denen Wirtschaft und Wohlstand wuchsen, an Ost und Westküste gigantische Städte mit glitzernden Türmen entstanden und das Land befriedet wurde, kehren die Menschen in den USA, die nicht in den Glitzerpalästen leben, wieder zurück an den Anfang, zu den Cowboys, den Pionieren, den Siedlern ohne Land. Plakatmotiv: Nomadland (2020) Der Wohlstand hat diese Menschen überholt und im Stich gelassen, Städte sterben, weil der größte Arbeitgeber dicht macht, die Postleitzahl wird gelöscht, die Menschen, die dort leben, müssen sehen, wo sie bleiben. Und das tun sie. Es gibt tausende wie Fern. Sie ziehen, wie einst die Siedler in ihren Kutschen, mit ihren Vans oder Wohnmobilen durchs Land, aber ohne den Kompass von damals: Der Weg geht nicht mehr nach Westen. Er geht zum nächsten Job, wenn das Geld knapp wird – in Tankstellen, Hamburgerbratereien oder im Paketeversandlager –  und abends suchen sie einen Platz am Lagerfeuer.

Das sind große Lagerfeuer mit vielen Menschen. „Ich bin nicht obdachlos“, sagt Fern. „Ich bin Hauslos.“ (not homeless. Houseless!) Die Menschen schätzen die Weite der Prairie, die Freiheit, gehen zu können, wohin sie wollen. Damit verkörpert Fern sowas, wie den uramerikanischen Geist: die Freiheit, den Mythos vom Unterwegssein, vom On the Road. Es gibt eine lange, ungeschnittene Sequenz, in der Fern im Abendrot durch das Trailercamp spaziert, hier grüßt, da gegrüßt wird und irgendwann, als man das Gefühl hat, dass dieses Camp die ganze Welt umfasst, am Ziel ankommt. Cloé Zhao folgt ihr da einfach mit der Kamera und gestaltet mit dieser Sequenz einen der Magic Moments 2020.

Der Freiheitsbegriff, der in den Glitzerpalästen und Regierungsgebäuden zu Thanksgiving, Weihnachten und am Unabhängigkeitstag besungen wird, ist ein korrumpierter Begriff, gekapert von den Wall-Street-Leuten, die sich in den Nullerjahren die Freiheit nahmen, die Welt in eine Wirtschaft- und Finanzkrise zu stürzen, die viele der Geisterstädte, wie Empire eine ist, erst hervorgebracht hat, die viele der Menschen erst zu den Nomaden gemacht hat, die wir im Film sehen. Das war keine Freiheit für alle.

Die Freiheit der Menschen an den großen Lagerfeuern ist die, zu gehen, wann und wohin sie wollen. Sie sind meistens alleine, aber nie einsam. Sie kennen die Treffpunkte, wo sie Güter tauschen, einen gemütlichen Schnack halten oder einfach nur ein freundliches Hallo tauschen können. Welche Freiheit die bessere ist, bewertet der Film nicht. Ob Fern glücklicher ist als der Familienmensch mit Job und den Raten fürs Haus, soll im Kinosaal jeder für sich beantworten.

Frances McDormand spielt Fern. Man kann auch sagen Frances McDormand ist Fern. Sie macht sich die Rolle ganz zu eigen, gleitet mit ihrem Van und sehnsüchtigem Blick durch ihr Heimatland, einerseits sehr bei sich und mit sich zufrieden, aber immer auch auf der Suche nach Inhalt, nach Sinn. Sie ist eine Suchende. Wie es Ethan Edwards einer war.

Wertung: 7 von 8 €uro
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