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Plakatmotiv: The Rider (2017)

Der erste Cowboyfilm
des 21. Jahrhunderts

Titel The Rider
(The Rider)
Drehbuch Chloé Zhao
Regie Chloé Zhao, USA 2017
Darsteller

Brady Jandreau, Tim Jandreau, Lilly Jandreau, Cat Clifford, Terri Dawn Pourier, Lane Scott, Tanner Langdeau, James Calhoon, Derrick Janis u.a.

Genre Drama, Western
Filmlänge 104 Minuten
Deutschlandstart
21. Juni 2018
Inhalt

Der junge Brady Blackburn lebt mit seiner autistischen Schwester Lilly und seinem spielsüchtigen, aber liebevollen Vater in einem Reservat in South Dakota. Sein Leben hat er den Pferden gewidmet, die er nicht nur mit seiner einfühlsamen Art zu bändigen vermag, sondern sie gleichzeitig bei seinen Rodeo-Ritten zu höchster Aggression und Zügellosigkeit treibt. Auf der einen Seite steht also Bradys fast schon poetische Gabe, sich in die Gefühle, die Sprache der Pferde hineinzuversetzen, und auf der anderen Seite wird der sensible junge Mann von den Menschen in seiner Umgebung zu einem toughen Cowboy erzogen, der beim Rodeo-Reiten seine Männlichkeit beweisen soll.

Eines Tages wirft ihn sein Pferd bei einem Wettbewerb aus dem Sattel und fügt ihm schwere Kopfverletzungen zu. Die Ärzte raten ihm, sich langsam von diesem folgenreichen Sturz zu erholen und das Reiten vorerst, besser für immer, an den Nagel zu hängen. Der starrköpfige Brady kann nicht hinnehmen, dass er womöglich nie wieder auf einem Pferd sitzen wird. Zudem fühlt er sich von seinem Umfeld gedrängt, das Training trotz der anhaltenden Schwindelanfälle und Verkrampfungen seiner Hände wieder aufzunehmen. Brady ist hin- und hergerissen …

Was zu sagen wäre

Gott gibt jedem von uns einen Auftrag. Dem Pferd, dass es über die Prairie reitet. Dem Cowboy, dass er reitet.“ Vier Männer sitzen um ein Feuer draußen in der Prairie. Sie erzählen sich ihre schlimmsten Abwürfe beim Rodeo. „Ein Cowboy reitet durch den Schmerz“, sagt einer und buchstabiert damit das Thema dieses Films, der erst der zweite Langfilm der in Peking geborenen und in England und den USA ausgebildeten Chloé Zhao ist. Es ist der erste Cowboyfilm des 21. Jahrhunderts.

Die zierliche Chinesin hat sich ihre zweite Heimat genau angeschaut und dann mit den Vorbildern verglichen, die immer noch dauernd im Fernsehen laufen – die alten Western aus den 40er, 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die beiden Bilder haben kaum noch Gemeinsamkeiten. Die Cowboys in Chloé Zhaos Western sind Kerle, die mit dem Rodeozirkus leben, dem nahezu einzigen Habitat, in dem Cowboys und Pferde noch jene symbiotische Einheit bilden, wie es einst John Wayne, Jimmy Stewart und die anderen taten. „Das Problem bei Euch Jungs ist: Ihr mögt es nicht, wenn Euer Stolz verletzt wird“, sagt ein blondes 2017er Cowgirl in Jeansjacke zu Brady, der seit einem schweren Rodeounfall eine Stahlplatte im Kopf da hat, wo früher mal sein Schädelknochen war.

Darin liegt das Problem der Männer in der Prairie: sie haben nichts anderes als Pferde, Stolz und eben die Prairie. Aber um sie herum mehren sich die Männer, die nach schweren Reitunfällen am Stock gehen, ein Loch im Kopf haben, oder sind wie Lane. Den hat es am schlimmsten erwischt, Bradys besten Freund. Lane war einst der unbesiegbare, stolze Bullrider. Bis der Bulle ihn unter sich begrub. Heute sitzt er schwerst behindert, spastisch in einem Rollstuhl und kann sich nur noch mit Zeichensprache aus seinem zitternden linken Arm verständigen. Schwäche ist in der Welt der Männer in der Prairie nicht vorgesehen. Wenn früher bei einem großen Viehtreck einer wegen Suff ausfiel, konnte das die Dynamik des Trecks durcheinanderbringen; deshalb reißt sich der Cowboy traditionell am buchstäblichen Riemen.

Die Männer sind konservativ, leben andere Werte, als die verweichlichten Leute an der Küste in ihren Luxusappartements. Das heißt aber nicht, dass sie sich seit den Western der 1950er Jahre nicht entwickelt hätten. Sie sind immer noch Männer, die von vermeintlichen Weicheiern nichts halten, aber sie akzeptieren Schwächen; zu ihrem Cowboystolz gehört es, den Kaputten in ihren zerstörten Körpern beizustehen, damit diese sich wieder als Cowboy fühlen können. Plakatmotiv (US): The Rider (2017) Niemand wird zurückgelassen in der überschaubaren Gemeinde der Cowboys, in der jeder der nächste sein kann. Wenn Brady nicht an der Supermarktkasse sitzt, an der er den Lebensunterhalt verdienen muss, bis er glaubt, wieder auf ein Pferd steigen zu können, sitzt er neben seinem Best Buddy Lane und hilft dem, in einen Sattel zu steigen und imaginäre Pferde nach links oder rechts zu steuern. Das sind für sich schon herzzerreißende Szenen; dies aber umso mehr, weil sie sehr nah an der Realität entlang erzählt werden.

Chloé Zhao hat einen Spielfilm gedreht. Der sehr einem Dokudrama gleicht. Sie dreht mit Laienschauspielern; aber nicht mit Laien, die mit einer einer Hobbyheatergruppe durchs Land ziehen, sondern mit echten Rodeoreitern; das macht diesen Film, der auf dramatisch akzentuierende Musik verzichtet, im Kinosessel so magnetisch. Die Hauptfigur, Brady Jandreau, wird gespielt von Brady Blackburn, der seine eigene Geschichte spielt. Auch sein Vater, der sich immer wieder in Alkohol und Glücksspiel verliert, und seine geistig behinderte Schwester spielen im Film sich selber. Auch der schwerst behinderte Lane Scott, der im richtigen Leben auch Brady Blackburns bester Freund ist, spielt sich selbst – mit dem Unterschied, dass für sein Schicksal in Wirklichkeit kein Rodeo-Bulle verantwortlich ist, sondern ein schwerer Autounfall. Zhao hat Blackburn, einen Nachkommen der Lakota-Sioux, bei den Arbeiten an ihrem Debütfilm "Songs My Brother Taught Me" (2015) kennengelernt. Was muss diese Frau für einen klaren Blick haben, dass sie in diesem ehemaligen Rodeoreiter das vermarktbare Kinodrama erkannt hat, und was für ein Einfühlungsvermögen, dass diese Männer für sie in einem so schonungslos offenen Drama quasi sich selbst spielen? Und, ja: Brady Blackburn ist ein Laie vor der Kamera. Aber er ist auch ein mitreißendes Naturtalent vor der Kamera.

Brady bekommt seine Chance, wieder aufs Pferd zu steigen. Zhao lässt dem Mann mit der zusammengetackerten Kopfhaut viel Zeit, sich dem Pferd anzunähern. Brady hat im Film einen anderen Familiennamen, aber er hat immer noch sein originäres Händchen für Pferde und Zhao nutzt das Talent ihres Hauptdarstellers weidlich für Bilder von beeindruckender, ja fast intimer Nähe zwischen Cowboy und Pferd. Und wie es sich für einen großen Western – auch im 21. Jahrhundert – gehört, schickt sie beide zusammen auf einen befreienden Galopp über Stock und Stein raus in die Prairie, verfolgt von einer (be)gleitenden Kamera. Für solche Momente wurde das Kino erfunden.

Stur, wie 'n Esel. Du hörst auf nichts, was Dir irgendjemand sagt“, schimpft Bradys Vater, als Brady seine Sachen für das nächste Rodeo packt. Und Brady faucht zurück: „Ich habe immer auf alles gehört, auf jeden verdammten Scheiß von Dir. Wie war das gleich? Nimm's wie ein Cowboy. Zeig die Zähne. Sei ein Mann! Was wurde aus all dem, Dad?“ Am Ende ist der Film, wie so viele große Western der Historie, ein Vater-Sohn-Drama: „Ich werde nicht so enden wie Du!“, spuckt Brady, der Cowboy im 21. Jahrhundert, seinem Vater, dem Glücksspieler, hinterher, steigt in seinen Pickup und fährt in den letzten Akt dieses modernen amerikanischen Dramas.

Von außen sieht man klarer auf ein Land. Chloé Zhao, die vor 35 Jahren in Peking geboren wurde, hat den ersten echten amerikanischen Cowboyfilm des 21. Jahrhunderts gedreht.

Wertung: 6 von 8 €uro
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