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Plakatmotiv: Der Wolfsjunge (1970)

Packender Wissenschafts-Thriller

Titel Der Wolfsjunge
(L'enfant sauvage)
Drehbuch François Truffaut & Jean Gruault
nach dem Dokumentarbericht "Mémoire et rapport sur Victor l’Aveyron" des Arztes Jean Itard
Regie Francois Truffaut, Frankreich 1970
Darsteller

Jean-Pierre Cargol, François Truffaut, Françoise Seigner, Jean Dasté, Annie Miller, Claude Miller, Paul Villé, Nathan Miller, Mathieu Schiffman, Jean Gruault, Robert Cambourakis, Gitt Magrini, Jean-François Stévenin, Laura Truffaut, Eva Truffaut u.a.

Genre Drama
Filmlänge 83 Minuten
Deutschlandstart
8. April 1971
Inhalt

Südfrankreich um das Jahr 1800 herum: Entsetzt bemerkt eine Frau einen nackten Jungen, der sich im Wald wie ein Tier im Unterholz bewegt. Dorfbewohner ergreifen das Kind, das isoliert von menschlichen Kontakten unter Wölfen aufgewachsen ist.

Sie halten den Jungen in einer Scheune gefangen, wo er den Blicken und dem Gelächter der Dorfbewohner ausgesetzt ist. Als der junge Pariser Arzt Dr. Jean Itard von der Entdeckung erfährt, will er den Kleinen sofort untersuchen. Gemeinsam mit dem Leiter des Taubstummeninstituts Professor Philippe Pinel findet er heraus, dass der junge in jungen Jahren von seinen Eltern im Wald ausgesetzt worden sein muss, nachdem diese versuchten, ihm die Kehle durchzuschneiden.

Auch im Institut ist der Wolfsjunge, der Victor genannt wird, nicht von Feindseligkeiten und Zurschaustellung sicher …

Was zu sagen wäre

Der Film packt von der ersten Minute, die im Kinosessel wie ein Gruselfilm beginnt, in eine Art Realverfilmung von Mogle im Dschungelbuch übergeht und schließlich in der verfilmten Realität endet: ein nacktes, schmutziges Kind im Wald, das sich sehr schnell auf allen Vieren fortbewegt, mit dem Mund vom Boden frisst und aus Flüssen trinkt und in Bäumen schläft. Und dann wird dieser Junge von Hunden gejagt, nach langem Kampf nieder gerungen, in einer Scheine angebunden und zur Belustigung der Bewohner am Seil durchs Dorf getrieben.

Es mag aus Sicht zivilisierter Menschen ein Unding sein, dass ein etwa 11-jähriger Junge alleine nackt im Wald lebt. Aber ihn sich dann als Volksbelustigung an die Kette zu legen, zeugt auch nicht von einer irgendwie gearteten Zivilisation. Von der ersten Minute dieses nüchtern inszenierten Films an also sind die Sympathien der Zuschauer bei dem wilden Kind, dem Unrecht geschieht, offenbar zum zweiten Mal – zum ersten Mal, als man es im Wald aussetzte, ihm einer Narbe zufolge offenbar die Kehle aufschnitt. Und jetzt, als die Landbevölkerung den Jungen gewaltsam aus dem Wald holt.

Endlich greift die Wissenschaft ein. Der Junge, der nicht spricht und weder auf optische noch akustische Reize reagiert, wird an ein Gehörloseninstitut bei Paris gebracht, an dem Dr. Jean Itard forscht und unterrichtet. Er ist im weiteren Filmverlauf der neugierige Wissenschaftler, der glaubt, dass aus dem Jungen ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden kann. Sein Widerpart ist nach einigen Wochen Professor Pinel, der Leiter des Instituts, der stellvertretend auch für die Pariser High Society, der der Junge gegen Geld vorgeführt wird, wie eine Zirkusabnormalität, überzeugt ist, einen Irren vor sich zu haben, den man am besten in die Irrenanstalt nach Bicêtre überstellt. Das ist der Grundkonflikt des Films: Was bedeutet Bildung? Was ist Voraussetzung dafür, dass Bildung in einem menschlichen Wesen verfängt? Was ist überhaupt ein menschliches Wesen, wo fängt das per definitionem an?

François Truffaut verfilmt eine authentische Geschichte, die er natürlich dramaturgisch einkürzt und für seine erzählerischen Zwecke nutzt, aber diesen Wolfsjungen und jenen Dr. Itard hat es gegeben. Truffaut, der diesen Doktor selber spielt, zitiert aus dem Off wörtlich viele der Beobachtungen, die der echte Itard in der Zeit um 1800 aufgeschrieben hat. Damals fiel der Bildung noch eine andere Bedeutung zu. Der Witz an Truffauts Film ist, dass er in die Kinos kommt zu einer Zeit, als der Wert und die Qualität von Bildung wieder heftig umkämpft ist. Heute steigen Studenten auf die Barrikaden („Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren.“), davon angestachelt debattiert die breite Öffentlichkeit darüber, wie unser gesellschaftliches Miteinander geregelt sein sollte, über Werte und Ideale. Trotz des historischen Stoffes berührt Truffaut da also ein damals äußerst aktuelles Thema. Und das tut er bis heute. Ich habe den Film erstmals Ende der 70er Jahre in der Schule gesehen. Die Fragen zu Erziehung und Schule sowie sozialer Interaktion sind weiterhin virulent.

Inszeniert ist der Film in eleganten Schwatz- Weiß, mit vielen Grautönen. Truffaut favorisiert lange Einstellungen, was seinem Film etwas dokumentarisches gibt. Sich selbst als Itard inszeniert er nahezu emotionslos. Itard ist immer der Wissenschaftler auf der Suche nach Erkenntnis, der auch schriftlich festhält, wenn er scheitert – die Ausbildung, die er dem Jungen bietet, ist ja neu und einmalig. Die emotionale Wärme liefert seine Haushälterin Madame Guérin, die zwar, ganz den damaligen Gepflogenheiten entsprechend, auch kein Ausbund an Herzlichkeit ist, aber doch hier und da Herz und Gefühl für den Jungen, der unfreiwillig aus seiner in eine ihm offenbar unsympathische Welt entführt wurde, erkennen lässt. Dass die echte Madame Guérin zu jener Zeit einen Ehemann hatte, lässt Truffaut in seinem „nach wahren Begebenheiten“ erzählten Film außen vor. So, wie er viele andere historische Personen außen vor lässt. An dem Disput, wie mit dem Wilden zu verfahren sei, beteiligten sich allerlei Menschen uns den gehobenen Gesellschaftsschichten. Truffaut dampft das auf Professor Pinel und Doktor Itard ein. Und die Erziehung des Jungen in Itards Landsitz überlässt er dem Duo Itard und Guérin. Das kommt dem Drive des Films zugute.

Truffaut will keinen Dokumentarfilm drehen. Er hat bei diesem Spielfilm „nach wahren Begebenheiten“ durchaus ein autobiografisches Anliegen, bei dem es ihm um den Wert von Erziehung und Bildung geht. Seine eigene Kindheit war desolat, aufgewachsen maximal geduldet bei Verwandten und erst mit 15 Jahren aufgenommen als Quasi-Sohn von André Bazin, dem Herausgeber der Cahiers du cinéma, dem Truffaut später seinen ersten Film "Sie küssten und sie schlugen ihn" (1959) widmete. "Der Wolfsjunge" ist nun Jean-Pierre Léaud gewidmet, den Truffaut für "Sie küssten und sie schlugen ihn" entdeckte, und für Léaud sowas wie ein Ersatzvater wurde, der ihn förderte und zum Star machte. Eine Zeit lang wohnte Léaud auch bei Truffaut. Diese Mentoren-Beziehungen – Bazin/Truffaut und Truffaut/Léaud – spiegeln sich in der Beziehung Starts zu dem Wolfsjungen, den sie Victor nennen, wider. Das scheint François Truffaut wichtig zu sein, dass Fürsorge und Bildung elementare Grundlagen bilden für die menschliche Entwicklung.

Für die 80 Filmminuten hat er die Geschichte des Wolfsjungen Victor von Aveyron sehr komprimiert, erste Drehbuchentwürfe ließen einen Drei-Stunden-Film erahnen, aber Truffaut will die positiven Aspekte herausstellen, also überwiegen die Filmszenen mit Lernerfolgen jene, in denen der historische Junge jede Mitarbeit verweigerte und Dr. Itard an den Rand der Verzweiflung brachte. Also endet sein Film auch in der Hoffnung auf die zukünftige Entwicklung des ehemals Wilden zu einem wertvollen Mitglied der zivilisierten Gemeinschaft. Tatsächlich blieb es bei Itards Erfolgen. Danach kam nichts mehr. Itard selbst wurde 1821 Mitglied der Académie de Médicine. Durch seine pädagogische Arbeit mit Victor und aufgrund zahlreicher Abhandlungen zur Spracherziehung und Unterrichtung Gehörloser gilt er als ein Vorläufer der Gehörlosenpädagogik und der Geistigbehindertenpädagogik. Victor wurde bis zum Ende von Madame Guérin betreut und lebte ab seinem 18. Lebensjahr in einem Nebengebäude der Gehörlosenanstalt in Paris, wo er 1828 starb – ohne erkennbare Fortschritte.

Victor wird gespielt von einem Jungen aus Marseille, der sich in einem längeren Castingprozess durchsetzte. Truffaut entschied sich für Jean-Pierre Cargol, dem er bescheinigte, „ein schönes Zigeunerkind mit einem sehr animalischen Profil“ zu sein, das aufgrund seines dunklen Teints und seiner drahtigen Figur für die Rolle ideal sei. Widerwillig besetzte er sich selbst als Dr. Itard, was sich im Nachhinein als Glücksfall für den Film erweist. Während der Regisseur Truffaut dem unerfahrenen Zigeunerkind das Schauspiel nahe bringen muss, muss der er in der rolle des Arztes dem Wolfsjungen die Menschlichkeit nahe bringen. Für den Film ergänzt sich diese Unmittelbarkeit zwischen Regisseur und Titelfigur optimal.

"Der Wolfsjunge" ist ein fesselnder Film über die Kraft der Wissenschaft und die Macht des menschlichen Geistes – und er macht neugierig auf Geschichte. Solche Enfants sauvages gab es nämlich offensichtlich viele.

Wertung: 8 von 8 D-Mark
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