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Plakatmotiv: Spotlight (2015)

Das beste Kino-Ensemble 2015 spielt
in einem spannenden Retro-Drama

Titel Spotlight
(Spotlight)
Drehbuch Josh Singer & Tom McCarthy
dramaturgisch bearbeitet nach einer mit dem Pulitzer-Preis prämierten Recherche des Boston Globe
Regie Tom McCarthy, USA, Kanada 2015
Darsteller
Mark Ruffalo, Michael Keaton, Rachel McAdams, Liev Schreiber, John Slattery, Brian d'Arcy James, Stanley Tucci, Elena Wohl, Gene Amoroso, Doug Murray, Sharon McFarlane, Jamey Sheridan, Neal Huff, Billy Crudup, Robert B. Kennedy u.a.
Genre Biografie, Drama
Filmlänge 128 Minuten
Deutschlandstart
25. Februar 2016
Website spotlightthefilm.com
Inhalt

Das Jahr 2001: Der „Boston Globe“ bekommt einen neuen Chefredakteur: Marty Baron, ein engagierter Journalist. In einer Kolumne seines neuen Arbeitgebers liest er über den pädophilen Priester John Geoghan. Und er liest über Kardinal Bernard Law, den Erzbischof von Boston, der offenbar von Geoghans sexuellem Missbrauch von Kindern wusste, aber nichts dagegen tat. Baron drängt sein hauseigenes Spotlight Team dazu, die Sache weiter zu erforschen. Unter Leitung von Walter "Robby" Robinson geht das Investigativ-Team der Zeitung den Meldungen nach, recherchiert in Fällen, über die schon lange hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird.

Als Robby und seine Kollegen Michael Rezendes, Sacha Pfeiffer, Matt Carroll und Ben Bradlee jr. die ersten Opfer interviewen, decken sie Schicht um Schicht eines viel größeren Skandals auf: Seit Jahrzehnten wurden in der Erzdiözese Boston immer wieder Kinder von Priestern missbraucht – und die Taten von höchsten Würdenträgern gedeckt und vertuscht. Die Spuren führen direkt zum Kardinal – die Reporter stoßen auf eine Mauer des Schweigens. Die Opfer schweigen aus Angst, hochbezahlte Anwälte spielen auf Zeit.

Das Team beginnt an einem Bericht zu schreiben und plant die Ergebnisse der Recherchen im Frühjahr 2002 zu veröffentlichen. Kurz bevor der Bericht in den Druck gehen soll, gibt der Chef der Gruppe, Walter Robinson, zu, dass ihm im Jahr 1993 eine Liste von 20 pädophilen Priestern zugeschickt wurde, er die Sache damals jedoch nicht weiter verfolgt hatte …

Was zu sagen wäre

Ein neuer Sheriff ist in der Stadt. Und diese Stadt wirkt nur nach außen hin groß. Boston ist eine kleine Stadt, ein Dorf fast und der örtliche Viehbaron, der Mann, der die Macht hat, der klassische Gegenspieler, ist der Kardinal, der freilich kein Vieh vor sich her treibt, sondern seine Schäfchen – „Die Stadt erblüht, wenn ihre großen Institutionen eng zusammenarbeiten“ lächelt der dem neuen Sheriff bei dessen Antrittsbesuch zu. Dieser Sheriff ist der neue Chefredakteur des Boston Globe, der größten Zeitung am Ort. Er kennt in dieser – wie wir bald erfahren sollen – eng verschlungenen Stadt niemanden; das heißt: Er ist unabhängig – jüdisch und unverheiratet in einer erzkatholischen Stadt, und Baseball mag er auch nicht.

Als es noch keinen Bürgerjournalismus gab und Twitter das Geräusch eines Vogels war

Es braucht einen wie Baron, um die Scheiße zum fliegen zu bringen, und Liev Schreiber geht in dieser beharrlichen, bedächtigen Rolle mit einer trockenen Wucht auf, dass man glauben möchte, er habe sein halbes Schauspielerleben darauf gewartet, endlich – endlich – mal das ihm von den Hollywood-Studios zugedachte Rollenklischee des manischen Triebtäters durchbrechen zu können (Plötzlich Gigolo – 2013; Salt – 2010; X-Men Origins: Wolverine – 2009; Der Manchurian Kandidat – 2004; Der Anschlag – 2002; Hurricane – 1999; Phantoms – 1998; Scream – Schrei! – 1996).

Die Hilfssheriffs dieses Mannes sind denkbar ungeeignet für ihren Job – sie alle sind tief verwurzelt in der Stadt und haben die große Story über Jahre vor ihren Augen liegen gelassen – „im Lokalteil versteckt“. Der Chef des Rechercheteams spielt mit den richtigen Leuten Golf und war auf dem richtigen College. Sacha Pfeiffer, die kleine Blonde des Teams, geht jeden Sonntag mit ihrer Oma zum Gottesdienst – und die nimmt es ihrer Enkelin übel, dass sie ihre zwei weiteren Besuche unter der Woche schwänzt. Rachel McAdams spielt diese Sacha und sie ist eine der großen Ereignisse dieses Films, der insgesamt ein großes Ereignis vor allem für Journalisten im Kinosaal ist, die den Zeiten nachtrauern, als es noch kein Twitter, kein Facebook, keinen Bürgerjournalismus gab; als Reporter noch nicht täglich eine Story durchs World Wide Web jagen mussten, sondern wochenlang Zeit für die Recherche einer einzelnen Story hatten. Das war die besondere Leistung dieses unverheirateten jüdischen Sheriffs in der katholischen Diaspora – dass er seine Leute gezwungen hat, dass er seinen Herausgebern die Zeit abgetrotzt hat, die es braucht, das System zu demontieren, anstatt ein paar Missbrauchsfälle als Schlagzeile für die schnelle Mark am Bahnhofskiosk zu verhökern und dann wieder über die Red Sox zu schreiben.

Kleine Blonde als Fels in der Brandung

Rachel McAdams, durchaus eines der Glamourgirls Hollywoods (A Most Wanted Man – 2014; Alles eine Frage der Zeit – 2013; Passion – 2012; Für immer Liebe – 2012; Midnight in Paris – 2011; Morning Glory – 2010; Sherlock Holmes – 2009; State of Play – Stand der Dinge – 2009; Red Eye – 2005; "Wie ein einziger Tag" – 2004), spielt betont unglamourös. Sie ist die Zuhörerin im Team. Ihr erzählen die Opfer bereitwillig alles, weil diese Sacha Pfeiffer weinende Männer weinen lässt, während sie ihren Notizblock voll schreibt. Mit einem der (zwangs)pensionierten Priester kommt die Reporterin an dessen Tür zu dessen schmucken Häuschen ins Gespräch. Wieso denn ein schlechtes Gewissen, fragt er die Reporterin. Die Jungen hätten sich doch auch gar nicht gewehrt: „Das waren keine Vergewaltigungen. Ich kann das beurteilen“, sagt der Pensionär. „Ich wurde selbst als Kind vergewaltigt.“ Diese kleine Blonde erweist sich als die Geheimwaffe des Teams, Rachel McAdams als die Überraschung des Films. Eines Films, der aus der Zeit gefallen scheint.

Regisseur Tom McCarthy zeigt Interviews, Bibliotheksbesuche und Redaktionskonferenzen, lange Entscheidungsdialoge; er zeigt sie in einer lässigen Langsamkeit, als schrieben wir wieder das Jahr 1976, als Alan J. Pakula mit seinen Watergate-Enthüllern Die Unbestechlichen erfolgreich war, und schaltet sogar noch einen Gang runter. Sein Film ist kein durch filmische Mittel packender Thriller – er versucht gar nicht erst, durch modische Kamera-Sperenzchen und Hip-Hop-Schnitt Spannung zu erzeugen. Seine Helden sind Männer in ihren Vierzigern mit ausgebeulten Cordhosen und schlecht sitzenden Hemden. Von ihnen darf niemand, wie einst Robert Redford, in dunklen Tiefgaragen Tipps und Umschläge eines Unbekannten entgegennehmen; die Reporter des "Boston Globe" studieren für Jedermann einsehbare Bistumsstatistiken. Das ist ja die eigentliche Erschütterung, die dieser Film auslöst: zu erkennen, wie leicht es der Kirche gemacht wurde, den gigantischen Skandal zu vertuschen. Alle schwiegen. Freiwillig. Eines der Missbrauchsopfer, ein heute dicker, einsamer Mann erzählt, wie das war, als sein Pfarrer zum ersten Mal zu ihm nach Hause kam. Er sei sehr glücklich gewesen, so als wäre Gott zu Besuch. Und wenn Gott den Wunsch hegt, dass Du seinen Penis in den Mund steckst, dann tust Du das.

Das beste Schauspieler-Ensemble 2015

So eine Geschichte mit so einem Drehbuch und solchen Schauspielern braucht keinen künstlich erzeugten Thrill. Nur im Prolog leistet McCarthy sich sowas wie düsteren Thrill. Da erleben wir, ähnlich einem Film der Schwarzen Serie, wie Klerus und Staatsanwaltschaft und Presse verzweifelte Missbrauchsopfer, Jungs und deren Eltern, mundtot machen, in eine dunkle Limousine steigen und in die Nacht davon rauschen – die Kirche als Mafia. Nach diesem Prolog wird der Film sehr ruhig: McCarthy vertraut auf die Story, die er verfilmt, skizziert mit klug gesetzten Dialogen die geheimbündlerisch anmutende Enge der Stadt Boston und der katholischen Kirche – „53 Prozent unserer Leser sind Katholiken. Glauben Sie, die wollen eine solche Geschichte zu Weihnachten lesen?“ – und setzt auf das beste Schauspielensemble des US-Kinojahrs 2015. Michael Keaton, der im vergangenen Jahr als Birdman knapp am Oscar vorbei schrammte, spielt nach Schlagzeilen (1994) zum zweiten Mal einen zweifelnden Zeitungsmann-Charakter und erinnert Power-Kinogänger daran, dass er die Stadt besser rettet, wenn er kein Batman-Kostüm trägt (RoboCop – 2014; Jack Frost – 1998; Jackie Brown – 1997; Schlagzeilen – 1994; Viel Lärm um nichts – 1993; Batmans Rückkehr – 1992; Fremde Schatten – 1990; Batman – 1989; "Süchtig" – 1988; Beetlejuice – 1988; She's Having a Baby – 1988; "Gung Ho" – 1986; "Mr. Mom" – 1983). Nicht zu unterschätzen ist die Leistung von Brian d'Arcy James, der den schnauzbärtigen Aktenfresser des Spotlight-Teams spielt. Er fällt nicht auf – eben genau so, wie sich das für einen Menschen ziemt, der seine Erfolge durch das Stöbern in staubigen Akten feiert. Wunderbar unauffällig präsent.

Und damit stehen wir vor der großen Frage, warum Mark Ruffalo für einen Nebenrollen-Oscar nominiert worden ist (Die Unfassbaren – Now You See Me – 2013; Marvel's The Avengers – 2012; Shutter Island – 2010; "Zodiac – Die Spur des Killers" – 2007; Das Spiel der Macht – 2006). Er spielt eine Hauptrolle. Er ist das emotionale Zentrum des Teams und des Films. Er portraitiert einen Neandertaler. Reporter wie dieser Mike Rezendes sind zur bedrohten Spezies geraten. Sie wurden vom Hof gejagt, weil sie ihren Beruf mit Leidenschaft ausüben und mit ihrer ätzenden Beharrlichkeit alle Seiten gleichermaßen belästigen; seine Wohnung – eine klebrige Kaschemme, die Ehe, die irgendwo noch existiert, … existiert eigentlich nicht mehr, Freunde hat er nicht, kann er nicht haben – kommt es hart auf hart, müsste … würde er sie verraten. Ruffalo fällt in diesem Film die dankbare Aufgabe zu, zu kämpfen, zu verlieren, sich durchzusetzen, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen – und das spielt er sehr konsequent und glaubwürdig.

"Spotlight" zu gucken ist für jeden Journalisten eine schmerzhafte Freude. Kollegen auf der Leinwand bei etwas zuzusehen, das 98 Prozent von ihnen nicht mehr können – ausgiebig recherchieren, gegenchecken, sich Zeit zum Nachdenken geben – schürt die berufliche Melancholie. Da wird sowas wie das Vollkritzeln der Notizblöcke (Diktiergeräte gab es noch nicht) zum melodischen Ballett der Hände. „Spotlight“ feiert diese Entdeckung der Langsamkeit. Ein smart nacherzähltes Documentary Feature mit Sogwirkung und grandiosem Ensemble.

Wenn der schurkische Viehbaron am Ende in ein Luxusbüro nach Rom vertrieben ist, setzt sich der neue Sheriff nicht auf die Veranda und schaut schaukelnd in den Sonnernuntergang, sondern feuert 600 Artikel über die Machenschaften ab und deckt einen weltweiten Skandal auf.

Wertung: 6 von 8 €uro
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