IMDB

Plakatmotiv: Jahrhundertfrauen (2016)

Wunderbares Zwei-Generationen-Porträt
das von den Schauspielern getragen wird

Titel Jahrhundertfrauen
(20th Century Women)
Drehbuch Mike Mills
Regie Mike Mills, USA 2016
Darsteller

Annette Bening, Elle Fanning, Greta Gerwig, Billy Crudup, Lucas Jade Zumann, Alison Elliott, Thea Gill, Vitaly Andrew LeBeau, Olivia Hone, Waleed Zuaiter, Curran Walters, Darrell Britt-Gibson, Alia Shawkat, Nathalie Love, Cameron Protzman u.a.

Genre Drama, Komödie
Filmlänge 119 Minuten
Deutschlandstart
18. Mai 2017
Inhalt

Santa Barbara, Ende der 70er-Jahre: Mutter Dorothea Fields lebt an der Westküste von Kaliforniens sonnenverwöhntem Süden. Kopfzerbrechen bereitet der energischen und selbstbewussten Frau Mitte 50 vor allem ihr heranwachsender Sohn Jamie, der indes versucht herauszufinden, was einen wirklichen Mann ausmacht.

In ihrer Not wendet sich Dorothea an zwei andere Frauen, die junge Fotografin Abbie und die 17-jährige beste Freundin ihres Sohnes, Julie. Gemeinsam starten sie den Versuch, ihm allerlei Ratschläge mit auf den Weg zu geben und zu ergründen, was es heißt, tatsächlich ein Mann in jener Zeit zu sein.

Anfangs noch in der Hoffnung, Erkenntnisse zu finden, weiß Jamie schon bald nicht mehr, an welches Weltbild er eigentlich glauben soll …

Was zu sagen wäre

Was für eine Vorstellung: Meine Mutter stellt mir als 15-jährigem Bub die zwei Jahre ältere Elle Fanning sowie Greta Gerwig zur Seite, damit die mir beibringen, was man als Mann wissen muss. „Die Geschichte macht es den Männern nicht leicht“, sagt Mutter Dorothea Julie und Abbie. "Sie können nicht mehr sein, was sie waren, haben aber auch noch nicht raus, wohin es gehen soll.“ Dorothea ist verzweifelt. Ihr pubertierender Sohn droht, glaubt sie, ihr zu entgleiten. Sie versteht ihn nicht. Als sie ihn fragt, warum er eine gefährliche Mutprobe mitgemacht habe, bei der er fast gestorben wäre, blafft er sie an: „Wieso rauchst Du Dich zu Tode?“ „Häy!“ „Und wieso ist es für Dich okay, traurig und allein zu sein?“ Da ist die Mutter sprachlos.

Natürlich hat man als 15-Jähriger noch kaum eine Vorstellung von den Reizen Elle Fannings (The Neon Demon – 2016; Trumbo – 2015; Maleficent – Die dunkle Fee – 2014; Ginger & Rosa – 2012; Wir kaufen einen Zoo – 2011; Super 8 – 2011; Der seltsame Fall des Benjamin Button – 2008; Déjà Vu – Wettlauf gegen die Zeit – 2006) und Greta Gerwigs, man weiß nur: Es gibt was da draußen, das irgendwie mystisch sein muss.
Normalerweise übernimmt die Erklärung des Mystischen für einen Jungen in einer Erziehung der Vater. Den es hier nicht gibt. Aber klar: warum nicht Frauen. Der 15-jährige Bub ist ein knuffiger Junge, der sich tatsächlich für feministische Literatur begeistert und mit seinem Faible für Punkmusik ganz nach dem freigeistigen Geschmack seiner Mutter kommt. Seine nur zwei Jahre ältere und beste Freundin, Julie, wirkt zehn Jahre reifer. Elle Fanning spielt sie elegant zwischen Kumpel und zu Schwermut neigender Suchenden. Und Abbie, also: Greta Gerwig ("Frances Ha" – 2012; Lola gegen den Rest der Welt – 2012; To Rome with Love – 2012; Freundschaft Plus – 2011), die 10 Jahre älter ist und also für pubertierende Erlebnisse ausfällt, kann allgemeingültig Erkenntnisse über den weiblichen Orgasmus beitragen, die einer Mutter eher verwehrt bleiben.
Bald sind seine Kenntnisse über die weibliche Komplexität und klitorale Stimulation so facettenreich, dass er sich mit einem gleichaltrigen Aufschneider prügelt, der mit seinen Sexerlebnissen prahlt – „Und was war der Grund für die Prügelei?“ „Klitorisstimulierung.“ Denn auch die Frauen, hat Jamie schnell raus, sind keine eindeutig zu klassifizierende Wesen. Kaum hat der 15-jährige verstanden, dass man bei Frauen, wenn man mit ihnen „Sex hat“, auf den vaginalen Orgasmus achten sollte, da erfährt er, dass seine beste Freundin, die schon mit mehreren Männern geschlafen hat, nicht einmal einen Orgasmus gehabt hat. Das heißt: Da scheint es noch etwas anderes zu geben, das Frauen dazu bringt, mit einem Mann zu schlafen. Mills gelingt das Kunststück, diesen Mikrokosmos einer zusammengewürfelten Familie elegant, unauffällig in historische Großwetterlage jener Zeit einzuweben, Die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche, die vor der Tür stehen, streut der Film als Strom aus Fernsehnachrichten hier, Radiomoderationen dort oder in der Musik ein. 1979 ist der Vietnamkrieg vorbei, auch das Jahrzehnt der Hippies. Nixon ist zurückgetreten, Carter ein glückloser Präsident. Die Amerikaner werden in einem Jahr Ronald Reagan zu ihrem Präsidenten wählen. Das Jahrzehnt des Anything Goes steht vor der Tür. Eine Ahnung davon liegt im Sommer 1979 schon in der Luft. Punk ist in den besseren Häusern Kaliforniens angekommen und der Jazz, zu dem Dorothea tanzte, als sie in Julies Alter war, eine Erinnerung in der Juke Box. Der Film treibt Dorotheas Kindheit in der Zeit der Großen Depression und die neuen feministischen Lebensentwürfe ineinander. Dorothea ist der nächste große Auftritt von Annette Bening (Ginger & Rosa – 2012; Ruby Sparks – Meine fabelhafte Freundin – 2012; Open Range – 2003; Good Vibrations – Sex vom anderen Stern – 2000; American Beauty – 1999; Jenseits der Träume – 1999; Ausnahmezustand – 1998; Mars Attacks! – 1996; Hallo, Mr. President – 1995; Bugsy – 1991; In Sachen Henry – 1991; Schuldig bei Verdacht – 1991). Ihre stotternde Sprachlosigkeit, wenn ihr Sohn sie ein ums andere Mal überrumpelt, ist wunderbar gespielt. Sie vereint all die Krämpfe und Kämpfe, die sich in einem Leben so ansammeln und den Charakter formen – Sarkasmus, Stolz, Ironie, Ruppigkeit, Mutterliebe, Freigeist. Dorothea ist eine Frau, die zu bewundern und manchmal schwer zu ertragen ist.

Aus dem Off begleiten die Hauptfiguren das Geschehen, das keiner klassischen Dramaturgie folgt. Das Geschehen ist die innere Entwicklung des Jungen und der Kampf der Mutter um ihn. Und das erzählen die Protagonisten bis in die Nuller-Jahre des 21. Jahrhunderts als Zukunftsvorhersage hinein. So reicht diese Geschichte der "20th Century Women" tatsächlich von den frühen 1920er Jahren bis ins 21. Jahrhundert. Angefüllt mit lauter präzise gezeichneten Charakteren.

Wertung: 8 von 8 €uro
IMDB