Auf der Beerdigung ihres Vaters sehen sich die beiden Brüder Christian und Georg zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder. Während Georg als Tischler im Schwarzwälder Heimatort Löchingen blieb und den Vater bis zuletzt pflegte, ist Christian ein erfolgreicher und weitgereister Manager.
Christian und Georg sind sich zunächst fremd, finden jedoch bei Tischtennis und Alkohol wieder zueinander und beschließen spontan, mit ihren Mofas die Deutschlandreise nachzuholen, die sie als Fünfzehnjährige vorhatten. Der Plan sieht eine Reihe von Aufgaben vor: sich beim Griechen einmal durch die Speisekarte essen, eine Arschbombe vom Zehner machen, Sex haben, einen 20-m-Wheelie hangabwärts machen, eine schlafende Kuh umwerfen, ins Meer pinkeln.
Noch betrunken und im Beerdigungs-Anzug starten sie am Löchinger Dorfbrunnen. Auf Georgs alter Langbank-Zündapp und Christians zum Chopper umgebauter Puch Maxi S führt die Reise bis an die Ostsee, mit einem Umweg über Berlin, wo Christian seinen ihm bis dahin unbekannten Sohn Konrad trifft, ohne sich zu erkennen zu geben …
Man kann den Film ganz leicht kaputt reden: Die Mofas, die da in der Scheune 30 Jahre vor sich hin gerostet sind, springen nach dem dritten Antritt an? Die schwarzen Anzüge überstehen Regengüsse und Nächte im Wald ohne jede Spur davon? Georg, der Tischler, verschwindet eine Woche wortlos aus seinem Dorf, in dem jeder jeden kennt, das Tor zur Scheune offen, und niemand schickt die Polizei auf die Suche? Von diesen Kalibern gibt es noch einige. Kurz: Un-Re-A-Lis-Tisch!
Aber das ist so egal, wie Sack Reis/China.
Alfred Hitchcock hatte recht. In seinem legendären Gespräch mit Francois Truffaut sagt der Regisseur von Psycho, Die Vögel oder Das Fenster zum Hof sinngemäß: Scheiß auf die Logik, wenn sie Deinen Film stört. Hitchcock bezog das auf den Suspense seiner Filme, die teils hanebüchenen Wendungen folgten. Aber das kann man leicht auch auf alle anderen Stilmittel übertragen: Scheiß auf die Logik, wenn das Große Ganze stimmt. Okay, die Mofas springen an – wie schön, sonst würde es diesen wunderbar schwebenden Film nicht geben. Okay, die beiden sehen in ihren Beerdigungsanzügen dauernd aus wie die stylischen Men in Black nach Feierabend.
Aber habt ihr schon mal Men in Black auf Mofas gesehen, aus denen sie herausgewachsen sind? Genau genommen sind es zwei im Leben gestrandete Men in Black, die auch natürlich keine Aliens jagen – der Film spielt schließlich auf bundesdeutschen Landstraßen – sondern den Sinn ihres Lebens, der als physisches Ziel geradezu prosaisch daherkommt: Die Brüder wollen mit ihren alten Mofas aus der Gegend um Villingen-Schwenningen nach Timmendorfer Strand, um dort nach Bewältigung diverser Aufgaben, in die Ostsee zu pissen.
Der eine ist in der Globalisierung gestrandet, der andere in seinem Heimatdorf; der eine hat in Singapur Nachbarn, die er nie zu Gesicht bekommt („Meine Firma hatte mir da ein Appartement gebucht und weil ich immer gearbeitet habe, ist mir erst nach drei Monaten aufgefallen, dass es da einen Balkon gibt.“), der andere eine Nachbarin in seinem Dorf, die er seit 30 Jahren heimlich anhimmelt, aber nichts sagt, weil man das ja nicht macht. Sein Mofa hatte Georg sich gekauft, weil er davon träumte, Tanja zu fragen, ob sie mitfahren will. „Und warum hast Du's nicht gemacht?“ „Es war nie so die Gelegenheit dazu.“
Bjarne Mädel, im Fernsehen bekannt als ewiges Opfer des Abteilungsleiters Stromberg und als „Tatortreiniger“, spielt Georg, Sandra Hüller (Fack Ju Göhte 3 – 2017; 2016: Toni Erdmann – 2016) ist Tanja. Es ist nur eine kleine Rolle für Hülller, aber als Georg sie am Ende nach 30 Jahren endlich fragt, verwandelt sich ihr Gesicht in ein großes befreites Lächeln, bei dem im Kino die Sonne aufgeht. Regisseur Markus Goller (Simpel – 2017; Eine ganz heiße Nummer – 2011; Friendship! – 2010) hat seinen Film mit solchen tragenden Gastrollen gespickt – Franka Potente, deren Durchbruch mit Lola rennt auch schon 20 Jahre zurück liegt, deren Weg ins Hollywoodkino (Die Bourne Identität – 2002; Blow – 2001) ihr aber den Blick fürs heimische Kino nicht verblendet hat, hat einen Auftritt als Frau mit rätselhaften Sexfantasien. Alexandra Maria Lara spielt eine Weinfest-Bekanntschaft, die im Whirlpool endlich ihren Ehefrauen-Frust in die schwäbische Nacht heraus schreit. Jella Haase, die als strunzdoofe Chantal in den Fack Ju Göhte-Filmen in die Annalen des deutschen Films eingegangen ist, gibt eine bezaubernde Gastrolle als 21.-Jahrhundert-Hippie. Wotan Wilke Möhring … nunja, er wurde offenbar gebeten, zu spielen, was er am liebsten spielt (Steig. Nicht. Aus! – 2018; Alles ist Liebe – 2014; Who Am I – 2014; Männerherzen… und die ganz ganz große Liebe – 2011; Männerherzen – 2009): einen Proleten-Vater namens "Hantel". In diesem Fall ist "Hantel" ein ganz guter Tischtennisspieler, der unseren beiden Helden die Mofas abnimmt, die die für ihre Mission dringend brauchen.
Denn um diese Mission geht es ja immer noch: Die Helden Georg und Christian wollen mit ihren Mofas nach Timmendorfer Strand, unterwegs Sehnsüchte erfüllen – „Sex haben, beim Griechen die ganze Speisekarte durchfuttern, Sex haben“ – und weil es ein Road Movie ist, lautet die Mission auf der Meta-Ebene: das eigene Leben finden, Lebenslügen aufdecken, verpasste Chancen reparieren. Nachdem Christian gestanden hat, seit 15 Jahren „oder so“ einen Sohn zu haben, lässt Georg nicht mehr locker, bis beide Brüder auf ihrem Weg nach Timmendorfer Strand einen Umweg nehmen über Berlin, wo Christian Lisa, die Mutter seines Sohnes Konrad und Konrad selbst aufsuchen soll. Markus Goller und Drehbuchautor Oliver Ziegenbalg, die zusammen vor acht Jahren das Schweighöfer-Road-Movie Friendship gestemmt haben, sezieren die erodierende Gesellschaft des 21. Jahrhunderts und stellen fest: Egal, wie Du Dich entscheidest, Du endest in Einsamkeit. Weder der supererfolgreiche Finanzprofi Christian, noch der kreuzbrave Georg sind Teil einer wärmenden Gemeinschaft. Alle anderen, die Lebensmodelle austesten, die am Mainstream vorbeigehen – Potente, Lara, Möhring, Haase – sind das sehr wohl.
Ist das also grandioser Kitsch, wenn wir da zwei Männern zusehen, wie sie in ihrem eigenen Leben ankommen? Nein! Es ist magisches Kino, das sogar den uralten Vater-Traum, mit dem eigenen Sohn herzlich kumpelhaft Fußball spielen zu können, zeigen kann, ohne sofort schal auszusehen. Das Genre des Road-Movie erzählt, während die Protagonisten in grandiosen Totalen, schwärmerischen Landschaften und – wie hier – im Schneckentempo auf ihren Mofas über endlose Landstraßen rollen, immer von deren Reise in ihre wahre Bestimmung. Road Movies sind Schauspielerfilme. Goller und Ziegenbalg haben sich die Kunst von Bjarne Mädel und Lars Eidinger gesichert.
Beider Spiel, ihr Verhältnis zueinander, ihr Spaß aneinander, ihr Verständnis füreinander, ihr Sinn für Timing lassen den Film über alle Untiefen wie logische Schwächen (s.o.) oder Kitschgefahr hinweg schweben – wie derselbe Regisseur eine sehr ähnliche Dramaturgie versemmelt, zeigt Gollers Komödie Friendship!, in der 2010 Mathias Schweighöfer versuchte, einen aufrichtigen Charakter mit menschlicher Tiefe zu spielen. Ganz anders ist es in „25 km/h“ eine Lust, den beiden Männern zuzuschauen. Eine so große Lust, dass ich mich am Ende frage, wie es wohl ausgesehen hätte, wenn Eidinger und Mädel ihre Rollen getauscht hätten, wenn also Eidinger den im Dorf gebliebenen, Mädel den weltgewandten Geldprofi gespielt hätte.
In einer besseren Welt, in der wir alle nicht leben, wäre das die spannendere Konstellation gewesen, weil beide über den Horizont ihrer Rollenerwartung hätten springen müssen – Bjarne Mädel als fließend englisch parlierender Investment-Hai? Das möchte ich mal sehen.
Als im Dorf gebliebener Georg aber ist Mädel halt perfekt, und wenn er sich mit dem globalisierten Lars Eidinger, den deutsche Filmemacher gerne für große bedeutungsschwangere Rollen besetzen („Abgeschnitten“ – 2018; „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“ – 2018; „Werk ohne Autor“ – 2018; „Babylon Berlin“ – TV-2017; „Alle Anderen“ – 2009) und der hier aber wunderbar locker, leichtfüßig und bruderliebend Anschluss sucht, ein ums andere Mal die Enttäuschungen und verpatzten Lebensentwürfe um die Ohren haut, ist das die Große Emotion. Auch das gehört zum Kinogeschäft mit den Illusionen: Bjarne Mädel kann wahrscheinlich auch glaubhaft die Rolle eines bröckelnd-arroganten Investors spielen. Aber sehen wollen wir ihn in Variationen herzlicher Bjarne-Mädel-Figuren. Deshalb besetzen Produzenten ihn dort. Bewundernswert ist dann, wie er der leidlich immer gleichen Figur immer neue Facetten abgewinnt; mit der schluffigen Figur des Berthold „Ernie“ Heisterkamp aus „Stromberg“ hat Mädels Georg gleichzeitig viel und ganz wenig zu tun.
„25 km/h“ gehört zu den Entdeckungen des Kinojahres 2018. Und – Gerechtigkeit soll sein: Es mag zwar manches nur so gerade eben halb stimmen in diesem Film, aber dass die beiden Brüder in Nordrhein-Westfalen ohne Helm Mofa fahren, führt sehr realistisch zu einer der lustigsten Szenen des Films.
Ein großer Heimatfilm.
Die Dreharbeiten fanden an 37 Tagen vom 1. August bis 20. September 2017 in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Berlin und Brandenburg statt.
Christian fährt eine mit hohem Lenker und Rückenlehne zum Chopper umgebaute Puch Maxi S, Georg eine Zündapp ZD 25 TS, das Vorgängermodell der ZD 50 TS. Trotz ihres Moped-ähnlichen Aussehens ohne Durchstieg handelt es sich ebenfalls um ein auf 25 km/h Höchstgeschwindigkeit beschränktes Mofa. Markus Goller besaß nach eigenen Angaben früher seinerseits solch ein Mofa mit Langbank, die es ihm ermöglichen sollte ein Mädchen mitzunehmen.
Von beiden Modellen stand bei den Dreharbeiten neben jeweils zwei bis drei Benzinern auch eine Variante mit Elektroantrieb zur Verfügung. Dieser leisere Antrieb erleichterte Tonaufnahmen der Dialoge, und bei den nächtlichen Dreharbeiten in engen Altstadtgassen wurden Störungen der Anwohner vermieden.