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Plakatmotiv: Simpel (2017)
Ein schönes Drama aus
einer allzu schönen Welt
Titel Simpel
Drehbuch Dirk Ahner + Markus Goller
nach dem Roman „Simple“ der französischen Autorin Marie-Aude Murail
Regie Markus Goller, Deutschland 2017
Darsteller David Kross, Frederick Lau, Emilia Schüle, Anneke Kim Sarnau, Axel Stein, Devid Striesow, David Berton, Annette Frier, Maxim Kovalevski, Oscar Ortega Sánchez, Ludger Pistor, Uwe Rohde, Tim Wilde u.a.
Genre Komödie, Drama
Filmlänge 113 Minuten
Deutschlandstart
9. November 2017
Inhalt

Die in Ostfriesland lebenden Ben und Barnabas sind Brüder und seit sie denken können ein Herz und eine Seele. Der 22-jährige Barnabas, von allen nur Simpel genannt, ist geistig auf dem Stand eines Dreijährigen, da er bei seiner Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen hat. Sein bester Freund ist, neben Ben, sein Hasen-Kuscheltier Monsieur Hasehase, das er überall mit hin nimmt. Zwar kann Simpel manchmal eine fürchterliche Nervensäge sein, aber ein Leben ohne ihn ist für Ben absolut unvorstellbar.

Als Julia, die Mutter der beiden, unerwartet stirbt, will man Simpel ins Heim stecken, doch sowohl Ben als auch Barnabas haben etwas dagegen und ergreifen die Flucht. Sie stehlen den Polizeitransporter des Dorfpolizisten Gruber und verbringen eine Nacht im Freien.

Sie begeben sich auf eine abenteuerliche Reise nach Hamburg, um dort Seemänner zu werden. Außerdem müssen sie ihren Vater David finden, den sie seit 15 Jahren nicht mehr gesehen haben. Der lebt allerdings mittlerweile mit seiner neuen Frau Clara zusammen und will eigentlich vom behinderten Sohn nichts wissen. Der Roadtrip von Ben und Barnabas eskaliert nach einem Streit mit dem Vater auf einem Hamburger Bahnsteig, und Ben verliert zum ersten Mal gegenüber seinem Bruder die Fassung, der wiederum davonläuft und in die nächste Bahn steigt.

Ben macht sich zusammen mit Aria und Enzo, die er mit Simpel auf dem Weg nach Hamburg kennengelernt hatte, auf die Suche …

Was zu sagen wäre

Hamburg ist eine wirklich sehr weltoffene Stadt. Wo immer Simpel auch landet, wenn sein Bruder Ben ihn mal wieder für zehn Minuten hingesetzt hat, damit er, Ben, was organisieren kann, gerät der geistig limitierte junge Mann an freundliche Menschen – liebe Nutten, freundliche Bettenverkäufer; nie an einen Straßendieb, der ihm seine wertvolle dicke Jacke klauen würde - oder seinen Hasen. Die Welt mag nicht immer einfach sein, aber der Mensch ist gut. Bis auf die Väter. Die sind in Markus Gollers Filmen selten gut (Alles ist Liebe – 2014; „Frau Ella“ – 2013; Eine ganz heiße Nummer – 2011; Friendship! – 2010). Hier sind sie es auch nicht.

Damit schwebt dieser herzensgute Film irgendwo zwischen „Rain Man“ und Forrest Gump. Es stellt sich die Frage, wer eigentlich der Beeinträchtigte ist – der Mensch, der nicht so ist wie die meisten anderen? Oder doch die angeblichen Normalos um ihn herum. Der Filmtitel ist schon treffend. Tatsächlich dreht sich im Film alles um seine Titelfigur Barnabas, den alle „Simpel“ nennen. Aber eigentlich geht es genau um alle anderen. Um Ben, der sich rührend um seinen Bruder kümmert und darüber kein eigenes Leben mehr hat, sodass irgendwann die Frage im Raum steht, was Ben denn eigentlich machen soll, wenn Barnabas mal nicht mehr seine Hauptbeschäftigung ist. Oder um Aria, die bildschöne Medizinstudentin, die vor ihrer Einsamkeit – keine Familie, keine Freunde – in die Obdachlosenhilfe flieht und in Simpel ihr nächstes großes Projekt erkennt. Oder um besagten Vater, der Ben und Barnabas vor rund 15 Jahren verlassen, neu geheiratet und neue Familie gegründet hat, der er zwar ausgiebig von Ben, nie aber vom behinderten zweiten Sohn erzählt hat.

Das ist schön erzähltes Kino mit Herz, Witz, Charme, Drama, Spannung – professionell erzählt. Der Film hat sofort alle Herzen – auch meins – auf seiner Seite. Aber mit der Inklusion macht er sich halt sehr leicht. Selbst, als Barnabas, wieder mal zwischengeparkt von Ben, beinahe ein ganzes Wohnhaus abfackelt, geht alles glimpflich aus, stellt niemand Forderungen, ist die Szene am Ende nur gut, damit Aria Ben mal ein paar klare Worte über den Umgang mit 24/7-Pflegebdürftigen ins Gesicht schleudern kann. Ja, das ist alles richtig, passt ineinander.

Und lässt komische Lücken. Nachdem Simpel auf seine sehr eigene Art die Geburtstagsfeier der zweiten Frau seines Vaters gecrasht hat, verschwindet der aus dem Film. Das ist dramaturgisch schlüssig – der Film heißt ja „Simpel“ und nicht „Der Vater, der sein behindertes Kind verleugnete und ein neues Leben begann“. Der unwillige Vater fällt im höchstmöglichen Peinlichkeitsmoment aus dem Film – Szenenapplaus. Aber geht es denn um Szenenapplaus? Devid Striesow, der diesen Arsch-Vater spielt, kann seiner Figur nur grobe Striche geben; für mehr ist kein Raum. Das macht die Figur beliebig, rückt das Drama an dieser Stelle in die Nähe des Vorabendprogramms.

Inklusionsthemen auf der Leinwand sind immer eine Gratwanderung, bei der die Zuschauer besonders hingucken, ob der Erzähler in die ausliegenden Fallen stolpert. Til Schweiger hat das in seinem Honig im Kopf (2014) auf die Til-Schweiger-Art gut gelöst. Markus Goller versucht es auch auf die Schweiger'sche Alles-wird-gut-Nummer, ist dabei gar nicht verkehrt, rutscht nur bisweilen im Schlick des Gut Gemeinten aus.

Wenn die Dramaturgie also mal hakt, haben wir aber großes Schauspielerkino: Das Bruderpaar ist fantastisch. Goller hat ein besonderes Talent, Schauspieler aufeinander einzunorden. Frederick Lau (Victoria – 2015) spielt den rührenden Kümmerer, der bis zur Schmerzgrenze der Selbstaufopferung und noch ein paar Kilometer weiter geht. Der 28-Jährige spielt Ben mit der Aura von 50 Jahren Lebenserfahrung. Und David Kross (Gefährten – 2011; „Knallhart“ – 2006)? Er hat den heikelsten Part. Zur Vorbereitung ging er einige Zeit in ein Behindertenheim, wo er die Menschen beobachtete und einstudierte, wie sich Simpel bewegen soll. Aus diesen Beobachtungen hat Kross eine erstaunliche Nummer gemacht. Manchmal sieht man ja hinter einer Rolle immer auch andere Rollen, die der Schauspieler schon gespielt hat, „Der Vorleser“ fiele einem bei Kross da ein. Aber Kross' Simpel lässt an niemanden denken, außer an Simpel.

Wertung: 5 von 8 €uro
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