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Plakatmotiv: Poor Things (2023)

Eine bildstarke Emanzipationsgeschichte
zwischen bunter Fantasy und Gothic Horror

Titel Poor Things
(Poor Things)
Drehbuch Tony McNamara
nach dem gleichnamigen Roman von Alasdair Gray
Regie Giorgos Lanthimos, Irland, UK, USA, Ungarn 2023
Darsteller

Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Vicki Pepperdine, Jack Barton, Charlie Hiscock, Attila Dobai, Emma Hindle, Anders Olof Grundberg, Attila Kecskeméthy, Jucimar Barbosa, Carminho, Angela Paula Stander, Gustavo Gomes, Kate Handford, Owen Good, Zen Joshua Poisson u.a.

Genre Komödie, Drama
Filmlänge 141 Minuten
Deutschlandstart
18. Januar 2024
Inhalt

Im viktorianischen London ertränkt sich die schwangere Victoria Blessington, indem sie von der Tower Bridge in die Themse springt. Ihr Leichnam gerät in die Hände des brillianten und exzentrischen Arztes Godwin Baxter, der die Unbekannte zu retten versucht.

Baxter hat in der Vergangenheit bereits erfolgreich chirurgisch zahlreiche Tierarten miteinander gekreuzt. Jetzt ersetzt er Victorias Gehirn durch das ihres ungeborenen Kindes. Tatsächlich steht die Tote mit Hilfe einer Elektroschockbehandlung auf und wird fortan von ihrem Retter "Bella" genannt. Bella hat das geistige Alter eines Kleinkinds und verhält sich unberechenbar. Unter Führung des brillanten Wissenschaftlers begibt sich Bella auf eine Reise zu sich selbst, immer auf der Suche nach der Lebenserfahrung, die ihr bisher fehlt.

Sie trifft dabei unter anderem auf Duncan Wedderburn, einen Anwalt, der ihr die Welt jenseits der Wissenschaft zeigt und mit ihr ein wildes Abenteuer über mehrere Kontinente hinweg erlebt. Aber auch Baxters Student Max McCandless Leben ändern sich plötzlich, als er auf Bella trifft und von ihr regelrecht mit- und aus seinem behüteten Leben herausgerissen wird.

Bella entdeckt Stück für Stück ihre Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit und Befreiung und kann sich so auch ihrer eigenen Zwänge entledigen, Vorurteile hinter sich lassen und sich immer mehr ausleben …

Was zu sagen wäre

Was als erstes für diesen Ich bin nicht Frankenstein-Film einnimmt, ist, dass die Kreatur nicht aus vielen verschiedenen Körperteilen zusammengebaut werden musste. Mich hat schon beim Original Frankenstein-Film immer die Frage umgetrieben, warum der arme Kerl aus verschiedenen Körperteilen zusammengesetzt werden muss, wenn doch das Leben als solches ausschließlich mit dem Gehirn und dem Herz zusammenhängt – aber sicher nicht mit Handgelenken, Unterschenkeln oder anderen Teilen der menschlichen Anatomie, die der arme, damals von Boris Karloff gespielten Figur angenäht werden mussten.

Bei Giorgos Lanthimos reicht es – bei sachgemäßer Handhabung – das Gehirn auszutauschen. Emma Stone soll weiter aussehen wie Emma Stone.

Dass hier gar nicht die Frankenstein-Story variiert werden soll, wird einem erst später klar: Der Film verfolgt nicht das Schicksal des an seiner Wissenschaft zugrunde gehenden Arztes, er verfolgt das Leben der … Kreatur, das neue Leben. Da bekommt eine hochschwangere Frau nach ihrem Suizid das Gehirn ihres gerade noch lebenden Babys eingepflanzt, werden also Mutter und Kind eins. Während wir im Kinosessel dazu noch unsere Gedanken sortieren, verwöhnt uns der Film mit visuellen Großartigkeiten.

Giorgos Lanthimos setzt ausgiebig extreme Optiken ein – Weitwinkel, Fischauge; immer wieder sind die Bilder so verzerrt, dass man im Kinosessel zweimal hingucken muss, um sich zu orientieren. Den Einstieg in seine Fantasy-Geschichte zeigt er uns in Schwarz-Weiß. Wir lernen die entstellten Charaktere – der väterliche, aber von seinem Vater extrem malträtierte Godwin Baxter, und die erwachsen wirkende Bella mit dem Gehirn eines Kleinkindes – kennen, deren Werden in den Rückblenden in Farbe präsentiert wird. Als der Film seine Komfortzone verlässt, Bella also in die Welt entlässt, wechselt er ganz auf den Farbfilm – bis auf die Zwischentitel, die bleiben schwarz-weiß. Wann immer also Lanthimos uns die Entstehung seiner Charaktere erzählen will, schaltet er auf das farblose Bild, um dann, wenn er seinen Figuren in der real world folgt, in knallbunte Farbexplosionen auszuarten.

Bella und ihr zwischenzeitlicher Lover Duncan Wedderburn reisen nicht durch reale Welten, in Paris steht natürlich auch der Eiffelturm und in Lissabon die Ponte 25 de Abril, aber es schwebt auch eine romantische Seilbahn über der Stadt. In dieser bunten, unwirklichen Kulisse probiert Bella ihr Leben aus – wie das alle Lebewesen irgendwann, nachdem sie die Kindesbeine abgestreift haben, tun. Und bringt das eingespielte Leben der etablierten Männer ganz schön durcheinander. Diesen Duncan spielt Mark Ruffalo als schmierigen Aufschneider (The Adam Project – 2022; Vergiftete Wahrheit – 2019; Avengers: Endgame – 2019; Avengers: Infinity War – 2018; Thor: Tag der Entscheidung – 2017; Spotlight – 2015; Avengers: Age of Ultron – 2015; Can a Song Save Your Life? – 2013; Plakatmotiv: Poor Things (2023) Die Unfassbaren – Now You See Me – 2013; The Avengers – 2012; Shutter Island – 2010; Das Spiel der Macht – 2006; Collateral – 2004; Die letzte Festung – 2001; Zähl auf mich – 2000; Wer mit dem Teufel reitet – 1999), der sich seinen zu teuren Lebensstil mit feinen Klamotten in den Casinos erspielt.

Bella hat den Körper einer jungen – erwachsenen – Frau, aber das Gehirn eines Kindes, das schnell dazu lernt. Emma Stone (Cruella – 2021; "Zombieland 2: Doppelt hält besser" – 2019; "Battle of the Sexes – Gegen jede Regel" – 2017; La La Land – 2016; Irrational Man – 2015; Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) – 2014; Magic in the Moonlight – 2014; The Amazing Spider-Man 2: Rise of Electro – 2014; Gangster Squad – 2013; The Amazing Spider-Man – 2012; The Help – 2011; Crazy, Stupid, Love – 2011; Freunde mit gewissen Vorzügen – 2011; Einfach zu haben – 2010; Zombieland – 2009) macht diese Kreatur mit großer Sensibilität zu einem glaubwürdigen Charakter, manchmal sind es nur kurze Blicke, eine zuckende Augenbraue, die die Verwirrtheit des Mädchens deutlich machen. Aber sie nimmt sich, was sie haben möchte, wirft die eingespielten gesellschaftlichen Rituale durcheinander und wird so Ende des 20. Jahrhunderts zur ersten Sufragette der Weltgeschichte.

Lanthimos macht aus dem Frankenstein-Thema eine fantastische Emanzipationsgeschichte in Form eines Bildungsromans. Wir erleben Bella und ihren Lover, Duncan Wedderburn, bei heißen Sex-Clinches, die Bella „Hopsen“ nennt, und Bella dabei, wie sie sich zunehmend von – erst – Duncan, dann von vielen weiteren Männern emanzipiert. Bella, die junge, attraktive Frau mit dem anfänglichen Babygehirn wühlt mit ihrem nicht gesellschaftsfähigen Verhalten die europäische Society, die ausschließlich aus geil sabbernden Männern besteht, um. Dennoch ist sie die einzig Rationale mit menschlicher Regung in einem Reigen von eingebildeten Reichen, versnobten Adeligen oder juristisch versierten Playboys. Sie liest Bücher und ist ihrem Teenagernaturell bald entwachsen. Eines Tages ist sie dann soweit, wissen zu wollen, warum sie eine Narbe am Bauch hat – an der Stelle, an der Godwin Baxter den Kaiserschnitt angesetzt hatte, um das Baby aus dem Körper der toten Mutter zu holen.

Hier nimmt der Film die nächste irre Wendung, die Lanthimos in surrealen Kulissen zwischen Steampunk und Gothic Horror ansiedelt, es ist eine Fantasie in einer Fantasywelt, in der man sich schwer satt sehen kann. Im Haus des von seinem Vater zu wissenschaftlichen Zwecken malträtierten Arztes laufen Hunde mit Gänsekopf, Enten mit Schweinekopf, Ziegen mit Entenkopf und später auch ein General mit dem Gehirn einer Ziege umher. Zwischen ihnen sorgt eine gute alte Hausdame für Ordnung im Haushalt. Konsequent in der inneren Logik treibt Lanthimos seine Männerfantasie auf die Spitze, wo sie schließlich platzt und die lüsterne Kindfrau als menschliches Wesen mit Integrität, Mitgefühl und einem gesunden Empfinden für angemessene Rache etabliert.

Wertung: 7 von 8 €uro
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