Buchcover: Stephen King – Revival (2014)

Ein aufregender Trip durchs wahre Leben
mit einem Finale auf B-Picture-Niveau

Titel Revival
(Revival)
Autor Stephen King, USA 2014
aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
Verlag Heyne
Ausgabe E-Book, 541 Seiten
Genre Drama, Horror
Website stephenking.com
Inhalt

Der kleine Jamie spielt vor dem Haus mit seinen Plastiksoldaten, da schiebt sich ein dunkler Schatten über ihn, ein Schatten, den er sein Leben lang nicht loswerden wird. Er blickt auf und sieht Charles Jacobs über sich, den jungen Methodistenprediger, der in der neuenglischen Gemeinde gerade sein Amt antritt.

Im Nu gewinnt der charismatische Jacobs die Herzen der gottesfürchtigen Einwohner. Den Kindern haben es vor allem die elektrischen Spielereien angetan, mit denen er Bibelgeschichten veranschaulicht. Das alles endet, als ihn ein entsetzlicher Unfall vom Glauben abfallen lässt und er eine letzte Predigt hält, die in einer rasenden Gottverfluchung gipfelt.

Von der Gemeinde verstoßen, tingelt er fortan über die Jahrmärkte, wo er elektrische Experimente vorführt, die zunehmend spektakulärer werden. Und immer schrecklichere Folgen nach sich ziehen. Über die Jahre trifft Jamie, inzwischen drogenabhängiger Musiker, wiederholt auf Jacobs, der ihn jedes Mal tiefer in seine dämonische Welt zieht.

Als Jamie sich dessen klar wird, gibt es kein Zurück mehr. Das finale Experiment steht bevor

aus dem Klappentext

Was zu sagen wäre
Revival

Nichts an dem Buch hat mich angezogen. Nicht das Cover mit dem christlichen Kreuz und den Blitzen davor, das maximal an Billigproduktionen aus Hollywood mit Gespenstern gemahnt; nicht die Idee einer Geschichte über einen mittelbegabten Rhythmusgitarristen, der sein Leben an die Heroinspritze verpfändet. Auch der Klappentext, in dem sich ein dunkler Schatten über die Hauptfigur schiebt, langweilt mich. Aber es steht eben "Stephen King" oben drüber und ich kämpfe immer noch gegen mein Trauma durch die Lektüre von Uwe Tellkamps Der Turm an und da hat Kings vorheriger Roman Joyland als erste Maßnahme Wunder gewirkt: Ich lese wieder gerne! Warum also nicht gleich noch einen King-Roman?

Die Hauptfigur, Jamie, erzählt in der Ich-Form aus seinem langen Leben. Jamie ist jetzt in seinen 60ern und als die Erzählung einsetzt, 1962, als der Reverend in sein Leben tritt, ist er sechs Jahre alt. In schönen Tableaus erzählt er flüssig aus Kindheit, Jugend, erster Liebe und die Hinwendung zur Musik. Später wird aus Jamie ein Berufsmusiker. Ich habe zur Kunstform Musik keinen inneren Zugang. Von wenigen Rockbands in den 1970er Jahren abgesehen (Deep Purple, Genesis, Pink Floyd, Supertramp, BAP), bin ich über den Rediokonsum von Musik nie hinausgekommen. Im vorliegenden Buch zwingt mich der Erzähler, mich mit E-Dur oder A-Moll zu beschäftigen. Er erzählt aus seinen Anfängen in einer Schülerband, die sich im Blues versucht: „E. Dieser ganze Scheiß fängt mit E an.“ Sagt mir das was? Nein. Wirft mich das aus der Erzählung, fühle ich mich ausgeschlossen? Absolut nicht. Erzähler Jamie merkt selbst zu seinem Fachchinesisch hier und da an „wen's interessiert“; weil es nicht um die Musik geht, diese aber den Kosmos dieser Geschichte bildet. Im Raumschiff Enterprise kann ich auch nicht jeden Schalter erklären, der im Kommandopult eingebaut ist. Aber er sieht sehr handlungsentscheidend aus. Was dort der Schalter, ist hier das "E"; so erzählt, dass ich verstehe, dass man es als Rhythmusgitarrist auf einer Livebühne vor Publikum beherrschen und treffen muss, will man nicht ausgebuht werden, und ich also willig dem Drama eines Musikers folge, das sich da für alle Welt verständlich auffächert: „Am schlimmsten war jedoch der fast ununterbrochene Tinnitus. Hugh hatte immer angenommen, Taubheit würde Stille bedeuten. Dem war nicht so, jedenfalls nicht in seinem Fall. Hugh Yates hatte eine kontinuierlich kreischende Alarmanlage mitten im Schädel.“ Mich persönlich umschmeichelt die Erzählung, weil sie großteils an der Ostküste der USA in Maine spielt (wie bei King ja fast immer) und dort in Orten, durch die ich im Herbst vergangenen Jahres (2024) im Rahmen eines neunwöchigen Roadtrips gekommen bin.

Die Figur des … na ja, Schurken kann man schwer sagen, des Antagonisten spielt ein ehemaliger methodistischer Reverend, der eine Mischung ist aus jenem Geschäftsführer aus Stephen Kings "Needful Things", der für jeden Kunden die passende Ware im Schaufenster hatte, und Viktor Frankenstein, die sich auf dem "Friedhof der Kuscheltiere" treffen. Hier heißt er Charles Daniel Jacobs und zaubert mit Geheimer Elektrizität körperliche Gebrechen hinweg, die augenscheinlich keiner medizinischen Lehre folgt. Was freundlich klingt, hat bei Stephen King traditionell Nebenwirkungen. Geheilte streuen sich eines nachts pfundweise Salz in die Augen, gehen in den Garten und fressen Dreck. Andere werden katatonisch oder begehen, dem Wahnsinn verfallen, Suizid. Jamie, den der Reverend von seiner Drogensucht befreit, hat bis auf wiederkehrende Schlafstörungen, nach denen er sich mit einer Gabel in den Oberarm piksend nackt im Vorgarten aufwacht, keine Probleme.

In "Revival" erweitert King seinen Erzählkosmos aus "Joyland". Jamie erwähnt mehrfach, dass er hier gerade einen Bericht niederschreibe, auch bewegen sich die Figuren zeitweise wieder in amerikanischen Vergnügungsparks und "Joyland" wird als Handlungsort aus der Vergangenheit sogar in die vorliegende Geschichte eingebaut. Auch wieder springt die Erzählung auf der Zeitebene vor und zurück, erzählt chronologisch, greift aber manchmal vor und erzählt, wer auf dem Weg zwischen heutigem, alten Erzähler, und damaligem, jungen Erzähler, verstorben ist, oder andere Schicksale, die für den großen Erzählbogen keine Rolle spielen, aber für die Lebensstationen des Erzählers, Jamies Leben, das wir ja immerhin verfolgen, wichtig waren. Wieder wirkt es, als würde mir King/Jamie diese Geschichte am Lagerfeuer an der Küste des nördlichen Maine erzählen, während über uns die Sterne funkeln. Das hält mich sehr nah am Geschehen, so nah, dass mir in manchen Momenten, vor allem jenen aus Jamies Teenagerzeit, die Tränen rollen; heute, aus meiner erwachsenen, alt gewordenen Perspektive, mag das, was King da aufschreibt, auf den ersten Blick wie Altherrenkitsch klingen. Aber ich weiß: Damals als Teenager habe ich ähnlich simpel empfunden und fand das überhaupt nicht kitschig, meistens eher schmerzhaft.

King konserviert nach Joyland auch in "Revival" die Gefühlswallungen der ersten Liebe. Ohne dabei gefühlsduselig zu werden. Als Jamie nach 40 Jahren seine erste Liebe Astrid wieder sieht, gibt es kein Groschenroman-Ende, stattdessen erzählt King brachial die banale Realität: „Wäre dies eine Liebesgeschichte, so würde ich wahrscheinlich so etwas schreiben wie: »Zwar hatte sie sich im Lauf der Jahre zwangsläufig verändert, und auch die Krankheit hatte ihren Tribut gefordert, aber die ihr eigene Schönheit war ihr geblieben.« Am liebsten würde ich das jetzt tun, aber wenn ich jetzt zu lügen beginne, macht das alles, was ich bisher erzählt habe, wertlos.
Astrid war eine alte Schachtel im Rollstuhl; ihr Gesicht war eine bleiche, schlaffe Maske, aus der dunkle Augen teilnahmslos auf Nahrung starrten, an der sie offenkundig keinerlei Interesse hatte. Ihre Begleiterin hatte ihr ein großes gestricktes Ding – eine Art Schottenmütze – auf den Kopf gesetzt, aber dieses war zur Seite gerutscht und entblößte einen kahlen, mit weißen Stoppeln übersäten Schädel.

King selbst scheint hier sowas wie seinen persönlichen Schlüsselroman geschrieben zu haben. Nicht, dass wir uns mit der Suche nach Entsprechungen von Romanfiguren in Kings Leben mühen müssten. Aber Religion und Rockmusik sind zentrale Themen in seinem umfangreichen Œvre. In "Revival" lässt er seine Liebe zur Rockmusik auf seine Zweifel an religiöser Verzückung prallen: „Wenn wir zwei nicht wüssten, dass Gott ein profitables, selbst erhaltendes Konstrukt der Kirchen dieser Welt ist, könnte das Morgenlicht uns wohl fast wieder zu Gläubigen machen.“ Nachdem der Reverend Frau und Kind durch einen Unfall verloren hat, verliert auch seinen Glauben zu Gott und widmet sein Leben den dunklen Wissenschaften. Das spielt aber lange keine und dann eine Weile auch nur eine untergeordnete Rolle.

Ganz lange folgen wir der Entwicklung Jamies vom Kind zum erwachsenen Mann. Das ist nie langweilig. King lässt die Profanität des Alltags wie eine eben neu entdeckte Wahrheit aufscheinen. Und überall treffen wir auf dreidimensionale Charaktere, nie auf Abziehbilder. Selbst die Wirtin eines runtergekommenen Motels, der der Roman gerade mal zwei Seiten widmet, verdiente in einer Verfilmung wenigstens Scarlett Johansson als Besetzung.

Die Auflösung darüber, was es auf sich hat mit des Reverend Faszination für Elektrizität, und das große Finale laufen an mir vorbei. Auch hier formuliert King kurzweilig und beeindruckt mich mit seinen Schreckensbeschreibungen in klaren Bildern. Aber es bewegt sich auf B-Picture-Niveau, das ich hinnehme, weil der Roman ja zu einem Ende kommen muss. Alles vorher, das abwechslungsreiche Leben mit Höhen, Tiefen und faszinierenden Figuren finde ich aufregender.

Ich habe "Revival" zwischen dem 18. und 24. August 2025 gelesen.