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Plakatmotiv: Blue Velvet (1986)

Coming of Age als Fiebertraum mit
lauter Metaphern vor lauer Storyline

Titel Blue Velvet
(Blue Velvet)
Drehbuch David Lynch
Regie David Lynch, USA 1986
Darsteller

Isabella Rossellini, Kyle MacLachlan, Dennis Hopper, Laura Dern, Hope Lange, Dean Stockwell, George Dickerson, Priscilla Pointer, Frances Bay, Jack Harvey, Ken Stovitz, Brad Dourif, Jack Nance, J. Michael Hunter, Dick Green, Fred Pickler, Philip Markert, Leonard Watkins u.a.

Genre Krimi, Drama
Filmlänge 120 Minuten
Deutschlandstart
12. Februar 1987
Inhalt

Weil sein Vater eine Wirbelkörperfraktur erlitten hat, lässt sich der junge Jeffrey Beaumont für einige Wochen vom College beurlauben und kehrt in seinen Heimatort zurück, die friedliche Kleinstadt Lumberton. Auf dem Rückweg vom Krankenhaus, wo Jeffrey seinen Vater besuchte, findet der Student auf einer Wiese ein abgeschnittenes menschliches Ohr. Er übergibt es bei der örtlichen Polizei an Detective John Williams. Der möchte ihm wegen der noch laufenden Ermittlungen nichts über den Stand der Erkenntnisse verraten und bittet ihn, über die Angelegenheit zu schweigen. Jeffrey beschließt daraufhin aus jugendlicher Neugier, dem Fall auf eigene Faust nachzugehen.

Auf der Suche nach einem vermeintlichen Verbrecher dringt er heimlich in die Wohnung der erotischen Nachtclub-Sängerin Dorothy ein. Entsetzt wird er Zeuge einer Vergewaltigung und findet heraus, dass sie von dem perversen Lüstling erpresst wird, der ihren Mann und ihr Kind als Geiseln genommen hat.

Zusammen mit Sandy, der Tochter des Sheriffs, die ihn mit Tipps versorgt, gerät Jeffrey in einen Teufelskreis von Perversionen, in den auch die örtliche Polizei und eine Rauschgiftbande verstrickt ist.

Als Jeffrey entdeckt wird, ist es zu spät um auszusteigen. Aus seinem Detektivspiel wird ein Kampf um Leben und Tod …

Was zu sagen wäre

Wenn in einem David-Lynch-Film fremdartige Klänge dominieren und die Kamera per Makro-Objektiv in ein Objekt "hineinfährt", kann man die gewöhnlichen Reflexe im Kinosessel wieder einpacken, denn es wird anders. Dabei fängt es so einfach an, obwohl auch das schon wieder kompliziert ist, denn im Vorspann heißt es ja „Ein David Lynch Film“. Die sind nie einfach (Dune – Der Wüstenplanet – 1984; Der Elefantenmensch – 1980; Eraserhead – 1977). Der Himmel ist blau, der Lattenzaun weiß, die Rosen rot, der Vater bricht mit kaputtem Rücken zusammen, der ton schwillt an und die Kamera taucht in eine Grasnarbe, wo sie von Insekten erwartet werden. Und das im grünen Gras liegende, abgeschnittene Ohr wird von Ameisen verarbeitet und hat schon Schimmel angesetzt.

Die herzige Tochter des Inspectors hat fluffig blonde Haare, trägt rosafarbene Strickjacken und heißt Sandy. Jeffrey, die eigentliche Hauptfigur der Geschichte, kann sich nicht entscheiden, ob er sich in sie verlieben soll. David Lynch zeigt uns die klassischen Elemente einer Kleinstadt in einem Coming-of-Age-Drama. Meistens spielen die an der High School. Hier geht nur Sandy noch zur Schule, wo sie, quasi in einem visuellen Nebensatz gezeigt, standesgemäß mit dem Quarterback liiert ist. Eigentlich ist sie eine Nachbarin von Jeffries Familie, aber sie kennen sich nicht – was in einer kleinen Stadt wie der eingangs beschriebenen höchst ungewöhnlich ist. Ebenso ungewöhnlich wie das große siebenstöckige Wohnhaus, in dem der Fahrstuhl kaputt ist, oder der große Klinkerbau, in dem sich die Polizeiwache der idyllischen Kleinstadt befindet, oder das weitläufige Industriegebiet. Schon in der Geografie des Schauplatzes lässt David Lynch seine metaphorischen Dämonen los.

Auch der Haushaltswarenladen "Beaumont" ist so eine Irritation in der kleinen Stadt. Jeffrey, ein Collegejunge, der nur vertretungshalber in der Stadt ist, weil sein Vater sich beim Rasenspritzen den Rücken kaputt gemacht hat und jetzt Hilfe in seinem Haushaltswarengeschäft braucht; man sollte meinen, man kennt sich in einem so kleinen Ort. Aber niemand kennt Jeffrey, den Sohn des Haushaltswarenhändlers. Plakatmotiv: Blue Velvet (1986)Die kleine Stadt, "Lumberton" heißt sie – „Hier weiß man noch, wie viel Holz vor der Hütte ist“ –, ist ein Un-Ort zwischen Traum und Wirklichkeit, in dem der Collegestudent wie selbstverständlich den Inspector bei polizeilichen Ermittlungen begleitet und am Tatort auch selber Fragen stellt. Und der aus einem Impuls heraus – und weil er Tipps von der hübschen Sandy bekommt, die so viel über die Arbeit ihres Polizistenvaters weiß – der Spur des abgetrennten Ohres folgt. Und damit auf die schwarze Seite des Spiegels gerät.

Man kann "Blue Velvet" als einfache Crimestory gucken, die von verqueren Typen bevölkert wird und ein paar dramaturgische Längen hat; dazu einen fantastisch teuflischen Dennis Hopper als Gangsterboss Frank (Das Osterman-Weekend – 1983; Rumble Fish – 1983; Apocalypse Now – 1979; Der amerikanische Freund – 1977; Easy Rider – 1969; Hängt ihn höher – 1968; Der Unbeugsame – 1967; Die vier Söhne der Katie Elder – 1965; Giganten – 1956; … denn sie wissen nicht, was sie tun – 1955). Hoppers Gangsterboss Frank schmeißt mit unflätigen Schimpfwörtern um sich, holt sich seinen Kick aus einer Sauerstoffflasche, aus der er regelmäßig inhaliert und gibt binnen 30 Filmsekunden die ganze Bandbreite von quengelndem Teenager bis grausamem Vergewaltiger. Guckt man den Film so – als einfache Crimestory –, hat man kaum Freude daran und geht mit einem Schulterzucken nach Hause. Versucht man indes, der unausgesprochenen Intention Lynchs zu folgen und jedes Bild und jede Szene auf ihre Bedeutung hin abzuklopfen, hat man lange zu tun.

Den ersten Auftritt Franks erleben wir zusammen mit Jeffrey versteckt im Kleiderschrank. Dort werden wir durch die Lamellentüren Zeuge einer Vergewaltigung. Die Szene macht uns zu wehrlosen Voyeuren, führt uns die Mechanik des Kinos vor Augen, wie das schon Alfred Hitchcock in Das Fenster zum Hof (1954) getan hat: Wir können nichts tun! Gleichzeitig tobt sich Frank bei der Vergewaltigung als Wesen zwischen Mamakind und Gewaltherrscher aus, während im Schrank der junge Mann steht, der angereist ist, um seinen (siechen) Vater zu ersetzen und der im Finale den bösen Vergewaltiger erschießt. Wenn ich noch die steile These in den Raum stelle, dass Dorothy, als sie Jeffrey zum Sex (mehr oder weniger) nötigt, eigentlich ihren kleinen, entführten Sohn (statt Jeffrey) meint, kommen alle Elemente zusammen, die uns über die Ödipusthematik nachdenken lassen: Sohn tötet Vater um die Mutter zu ehelichen. Mit der Storyline des Films hat das nichts zu tun, aber Lynch legt Wert auf die Signale in seinen Bildern und Szenen. Filmwissenschaftler haben sich mit der Farbdramaturgie des Films befasst, die schon im Titel "Blue Velvet" anklingt. Sie kommen zu dem Schluss, dass das "Blue" die Farbe der Nacht mit ihren Geheimnissen ist, von der Jeffrey anfangs nichts ahnt, und das "Velvet" (Samt) als Metapher für Geld und Reichtum stehe. Wenn Jeffrey im Bild ist, ist kein Blau im Bild, selbst der Himmel ist dann blass. Später wird er von Dorothy im Bademantel aus blauem Samt verführt, also mit der Nacht vertraut gemacht, entjungfert. Anders kann man die These aufstellen und argumentativ im Film dauernd belegen, dass David Lynch ein Sexist ist, der unter dem Vorwand künstlerischen Ausdrucks Frauen erniedrigen möchte.

Wie gesagt: Man hat lange zu tun, wenn man jede Einstellung in jeder Szene hinterfragt. Aber es sind immer Einstellungen und Szenen, die nur für sich stehen, nicht für den ganzen Film. Kein Bild steht für den Fortgang der Geschichte, die im Ganzen auch denkbar banal ist, um nicht zu sagen egal. Was aber ist ein Film ohne Geschichte? Für mich gehört eine in Bildern erzählte Geschichte zum Vergnügen unbedingt dazu, gerne clever, gerne doppelbödig, gerne das Hirn beanspruchend. Bilder und Szenen, die nur für sich stehen und statt eine Story voranzutreiben, jedesmal nur rufen Was bin ich?, sind auch interessant. Aber für mich kein Kino. Der Filmkritiker Claudius Seidl hat mein Dilemma mit diesem Film in der "Süddeutschen Zeitung" sehr gut nachempfunden. Er schreibt, Lynch pumpe seine Symbole mit Bedeutung auf, bis sie platzen. „Die Splitter treffen direkt ins Auge des Zuschauers. Lynch bläst zum Sturm auf die gewohnten Kinozeichen und überrennt dabei all unsere Abwehrstellungen.“ Der Regisseur fungiere nicht als heimlicher Verbündeter, sondern als erklärter Gegner des Zuschauers.

"Blue Velvet" ist wie ein Fiebertraum, in dem nichts zusammenpasst und dennoch zusammenspielt, in dem man losgeht, aber nie ankommt, in dem am Ende eine Wanderdrossel (in der deutschen Fassung seltsamerweise ein Rotkehlchen) sitzt, die den Auslöser des Fiebers verschlingt und den Albtraum beendet. Abspann.

Wertung: 4 von 10 D-Mark
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