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Plakatmotiv: Der Elefantenmensch (1980)

Nicht das "Monster" ist unmenschlich,
sondern die Gesellschaft um es herum

Titel Der Elefantenmensch
(The Elephant Man)
Drehbuch David Lynch & Christopher De Vore & Eric Bergren
nach "The Elephant Man" und weiteren Werken von Sir Frederick Treves und Ashley Montagu über den realen Joseph Merrick
Regie David Lynch, USA, UK 1980
Darsteller

Anthony Hopkins, John Hurt, Anne Bancroft, John Gielgud, Wendy Hiller, Freddie Jones, Michael Elphick, Hannah Gordon, Helen Ryan, John Standing, Dexter Fletcher, Lesley Dunlop, Phoebe Nicholls, Pat Gorman, Claire Davenport, Orla Pederson, Patsy Smart, Frederick Treves u.a.

Genre Biografie, Drama
Filmlänge 124 Minuten
Deutschlandstart
13. Februar 1981
Inhalt

London 1881: John Merrick ist der "Elefantenmensch", übersäht von aufgetriebenen, mosaikartig verteilten, wie tumorartigen Vergrößerungen einzelner Gliedmaßen und Wucherungen an allen Körperpartien. Kopf und Oberkörper sind stark deformiert, sein rechter Arm vollkommen entstellt und unbrauchbar.

Unter der lieblosen und ausbeuterischen Obhut des Jahrmarktbetreibers Bytes lebt er unter menschenunwürdigen Verhältnissen und muss tagtäglich vor Menschen auftreten, die seine Entstellung begaffen. Bis zu dem Tag, an dem der britische Chirurg Frederick Treves ihn entdeckt und mit nach London nimmt. Dort möchte er ihm helfen und ein Zuhause in einem Hospital geben.

Nach anfänglichem Zögern der Hospitalleitung wird dem Wunsch Treves stattgegeben, als bemerkt wird, dass Merrick eine hochintelligente und sensible Person ist. Doch auch in der scheinbar sicheren Umgebung des Krankenhauses ist Merrick nicht vor seiner Vergangenheit und den Grausamkeiten der Menschen sicher …

Was zu sagen wäre

Manchmal braucht man bloß zu gucken um zu sehen. Als der britische Chirurg Frederick Treves zum ersten Mal John Merrick sieht, kullern ihm Tränen die Wange hinunter. Warum, das wissen wir im Kinosessel nicht. Wir sehen nicht, was Treves sieht, nur dass er John Merrick sieht, der auf Jahrmärkten als "Der Elefantenmensch" ausgestellt wird. Es ist keine neue Erkenntnis, dass ein Regisseur, um die Dramaturgie anzuziehen, seine Hauptattraktion nicht gleich zum Beginn zeigen sollte. Steven Spielberg hat das mit seinem Weißen Hai so gemacht. David Lynch macht das nun mit seinem Titelhelden auch so; einer Figur, die vor aller Welt ausgestellt wurde und auf dem Filmplakat mit einer großen Mütze und einer Art Sack über dem Kopf abgebildet ist.

Dabei hat Lynch gar nicht vor, aus dramaturgischen Gründen seine "Attraktion" nur häppchenweise zu präsentieren, <Nachtrag2003>es soll nicht mal seine Idee gewesen sein. John Hurt erzählt im Making of der Blu-Ray zu dem Film, Lynch habe Merrick in der Szene ganz zeigen wollen, er, Hurt, habe ihm das ausgeredet: „Ich war in Sachen Bildgestaltung auf der Leinwand sicher nicht besser als Lynch, denn ich glaube, niemand ist besser als er. Er ist in dieser Hinsicht der größte Regisseur der Welt, wenn er sein Bestes gibt. Aber in Sachen Drama irrt er manchmal, und ich spürte, dass er es dort tat.“ Hurt setzte sich durch. Merrick ist anfangs nur mit Sack über dem Kopf oder im Schatten zu sehen.</Nachtrag2003> Dass wir Merrick mit Treves' Augen und dessen Reaktion sehen, zeigt uns, wie die Menschen auf diesen Mann reagieren, was sie fühlen. In dieser Szene zeigt sich der Zauber des Kinos, das doch von Bildern und vom Sehen lebt, das ja seine Ursprünge genau auf jenen Jahrmärkten hat, auf denen John Merrick zur Schau gestellt worden war – aber eben bei seiner Hauptattraktion gar kein Bild braucht, weil die Vorstellungskraft reicht.

"Der Elefantenmensch" ist ein Film über die Unsichtbaren, die nicht Genormten, die die Gesellschaft in Sanatorien, Sonderschulen oder Sozialeinrichtungen unterbringt, wo sie den eng getakteten, harten Alltag der Genormten nicht stören. Gezeigt werden diese Menschen – früher – auf Jahrmärkten, heute im Kino, wo sie in den tollsten Verkleidungen herumgereicht werden. Der kleinwüchsige Kenny Baker zum Beispiel, dessen Gesicht die Welt nicht kennt, ist als R2-D2, der Androide in Tonnenform, weltberühmt geworden. Im "Elefantenmensch", wo er eine der Jahrmarktsattraktionen ist, darf Baker sein Gesicht groß in die Kamera halten. Es ist eine kleine Nebenrolle, die John Merrick an entscheidender Stelle sehr weiterhilft: „Luck, my friend, luck. Who needs it more than we?

David Lynch erzählt die Krankengeschichte seines Titelhelden anhand wissenschaftlicher Abhandlungen über ihn. Die Grundlagen bildeten "The Elephant Man: A Study in Human Dignity" von Ashley Montagu sowie "The Elephant Man and other Reminiscences", die Aufzeichnungen Sir Frederick Treves’, den im Film Anthony Hopkins spielt (Die Brücke von Arnheim – 1977; Achtzehn Stunden bis zur Ewigkeit – 1974). Inwieweit er biografische Fakten beachtet hat, ist unklar. Er macht aus der Geschichte ein Melodram mit großer Gefühligkeit. Plakatmotiv: Der Elefantenmensch (1980)Die Sehnsucht nach Sentiment treibt den Mann, der die Zuschauer in seinem Spielfilmdebüt Eraserhead (1977) mit harten Szenen und Brutalität schockte, in ein Finale, das vor Süßigkeit klebt. Und damit ist das Finale eine gute Ergänzung, ja Entsprechung des vorher gesehenen. Denn beides fordert den Zuschauer heraus, Stellung zu beziehen; zurücklehnen und sich berieseln lassen geht nicht in Lynchs Kino. Dauernd wird John Merreick ausgestellt, auf die ein oder andere Weise zur Schau gestellt zum Wohle und Gedeih des Ausstellers, selten zu Merricks Wohl – aber eben nicht nie zu Merricks Wohl. Klar, Bytes, den Schinder auf dem Jahrmarkt erkennen wir bald als das wahre Monster in dieser Geschichte. Oder ist es doch der Nachtarbeiter im Krankenhaus, der sich unter seinesgleichen in den schmuddeligen Pubs mit dem Elefantenmenschen brüstet und eine Art Zoo-Attraktion aus ihm macht, auch als der längst in die feine Londoner Gesellschaft aufgestiegen ist. Und was ist mit eben dieser? Der freundliche Arzt, Frederick Treves, wird von seinem wissenschaftlichen Eifer getrieben und als er erkennt, dass sich hinter dem vermeintlich Schwachsinnigen ein wahrer, sensibler, intelligenter Mensch verbirgt – also seinesgleichen – will er ihm helfen, aber dafür benötigt er Zimmer und Geld des Krankenhauses, an dem er nur angestellt ist; also stellt auch Treves ihn aus, wird dadurch prominent und wohlhabend, und so stellt auch das Krankenhaus, das ihm ohne finanzielle Unterstützung nicht helfen kann, ihn aus und also ist bald die Londoner Gesellschaft von diesem furchtbar aussehenden Mann angefixt, will ihn sehen und mit ihm Tee getrunken haben; so wie man halt die neueste Handtasche, den neuen Vierzylinder haben will, weil man dazugehören will. Alles ehrenwerte Menschen so wir vor der Leinwand, die wir das Spektakel aus der vermeintlichen Distanz betrachten und feststellen: Hingucken tun wir auch! Macht das Kino, machen die Produzenten auf dem Rücken eines Malträtierten letztlich mit uns nur ihren Schnitt? Ganz so weit sicher nicht. Dass es sich auf der Leinwand um ganz viel Make up handelt, ist klar. Aber auf der Autobahn bei dem schweren Unfall auf der Gegenfahrbahn nicht hinzugucken, fällt schon verdammt schwer. Lynch, der sein Drama in kontrastreichem Schwarz Weiß erzählt, in dem die müffelnden Nebengassen des viktorianischen London noch mehr stinken, mutet uns neben guten Schauspielern und der fabelhaften Ausstattung eine Menge zu; nämlich, die Motive unseres Handelns zu hinterfragen, festzustellen, dass Hilfe selten ohne moralische Brüche zu leisten ist.

In diese Kerbe schlägt auch der kitschig anmutende Höhepunkt und das sentimentale Finale. Im Kinosessel erfüllt es die Sehnsucht. Das Grande Finale, ist, nach dem wir zwei Stunden mit dem Leinwand-John-Merrick gelitten haben, gerade recht. Aber auch das entlarvt unser Belohnungssystem an: Wir haben uns mit dem Schicksal des armen Menschen beschäftigt, jetzt wollen wir auch mit Erdbeerkuchen belohnt werden. Wie das Leben des historisch verbürgten John Merrick verlaufen ist, sagt der Film uns nicht. Wenn sein Schicksal uns wirklich interessiert, werden wir in Bibliotheken danach suchen. Eingerahmt ist der Film mit einer eigenartigen Traumsequenz, die aussieht, als hätte Lynch eigentlich da weiter machen wollen, wo er mit Eraserhead, in dem es auch um derangierte Menschen in deformierten Körpern geht, aufgehört hat. Wir sehen eine schimmernde, durchsichtige Frau, die von Elefanten angegriffen wird – später im Film heißt es, John Merrick sei im Mutterleib durch diesen Angriff so deformiert worden. Im Schlussbild schwebt diese Frau, Johns Mutter, durchs All und ruft ihn zu sich. Und alles wird gut? Diese Klammer liegt wie ein Fremdkörper um diesen Film, die in keiner Szene zueinander finden. Die Mutter, die Gebärende, spielt im Film, anders als in Eraserhead, keine große Rolle. Die eigentliche Klammer ist die gesellschaftliche Menschwerdung des John Merrick, den wir zu Beginn, ohne seiner ansichtig zu werden, als "Elefantenmensch" vorgestellt bekommen und der am Ende in einem stinkenden Pissoir vor einer Meute Hasserfüllter verzweifelt schreit „Ich bin kein Tier! Ich bin ein menschliches Wesen! Ich bin ein Mensch!!“ Nach zwei Filmstunden hat es die gequälte Kreatur geschafft, sich im Kreise der Menschen zu behaupten. Und die Gesellschaft erhebt sich und applaudiert.

Wertung: 7 von 9 D-Mark
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