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Plakatmotiv: Barry Lyndon (1975)

Ein Film von gnadenlos
ästhetischer Konsequenz

Titel Barry Lyndon
(Barry Lyndon)
Drehbuch Stanley Kubrick
nach dem Roman "Die Memoiren des Junkers Barry Lyndon" (1844) von William Makepeace Thackeray
Regie Stanley Kubrick, UK, USA 1975
Darsteller

Ryan O'Neal, Marisa Berenson, Patrick Magee, Hardy Krüger, Steven Berkoff, Gay Hamilton, Marie Kean, Diana Körner, Murray Melvin, Frank Middlemass, André Morell, Arthur O'Sullivan, Godfrey Quigley, Leonard Rossiter, Philip Stone u.a.

Genre Abenteuer, Historie
Filmlänge 185 Minuten
Deutschlandstart
17. September 1976
Inhalt

Der irische Adelige Redmond Barry muss Mitte den 18. Jahrhunderts seine Heimat verlassen, weil er sich auf eine Auseinandersetzung mit dem Falschen eingelassen hat.

Der junge Abenteurer gelangt in Diensten der englischen Armee schließlich nach Preußen. Politik und damit die kriegerischen Aktivitäten der Staaten interessieren Barry aber nicht, er möchte gerne in der Gesellschaft aufsteigen. Die Chance dazu erhält er auf indirektem Wege ausgerechnet durch die Preußen. Denn nachdem Barry in die Gefangenschaft des Feindes geraten ist, schickt ihn Hauptmann Potzdorf an den preußischen Hof, um einen irischen Kartenspieler auszuhorchen, den die Preußen für einen gegnerischen Spion halten.

Plakatmotiv (UK): Barry Lyndon (1975)Die beiden Landsleute verstehen sich aber bestens, verlassen Preußen und bilden eine erfolgreiche Falschspielergemeinschaft. Auf ihrem Weg durch die gehobene Gesellschaft lernt Barry die englische Adelige Lady Lyndon kennen, die er heiratet. Aber sein Glück ist bedroht, denn seine Frau hat einen Sohn aus erster Ehe, der Barry die Adelsposition streitig machen könnte …

Was zu sagen wäre

Du kannst einen Mann aus der Gosse holen. Aber niemals die Gosse aus dem Mann. Stanley Kubrick entführt uns in seinem Film ins 18. Jahrhundert, die Schauplätze sind Irland, England, Preußen und verschiedene europäische Höfe. Es ist das Jahrhundert der Aufklärung. Der Film endet im Jahr 1789, als in Frankreich die Revolution beginnt.

Im Jahrhundert der Aufklärung ist diese nicht einfach plötzlich da. Sie muss sich durchsetzen, gegen die Beharrungskraft des Etablierten. Der in dieser Geschichte dafür notwendige Agent Provocateur ist Redmond Barry, später Barry Lyndon, der erste Anti-Held der Literaturgeschichte. In der Romanvorlage von William Makepeace Thackeray ist Lyndon der Ich-Erzähler, ein nicht durchweg sympathischer Mensch, der auch schon mal einräumt, dass nicht alles stimmen muss, was er erzählt; manches stamme vom Hören-Sagen. Im Film übernimmt ein anonymer Off-Erzähler den Part – im Ton distanziert, in der Wortwahl ironisch, in der Dramaturgie das Kommende schon beim Szeneneinstieg verratend. Heißt: Redmond Barry kann sein Schicksal nicht beeinflussen, es ist immer schon geschrieben. Er bleibt Spielball seiner Gesellschaft, ein künstlicher Spannungsaufbau ist überflüssig, deshalb verrät der Off-Sprecher gleich, was passieren wird.

In der Bildkomposition übersetzt Kubrick diese Spielball-Tragik in strengen Bildaufbau, in dem jedes Detail sitzt. Der Film spielt im Zeitalter der Landschaftsgärten, als die Menschen versuchten,, die Natur zu kontrollieren. Auch ihre eigene Natur versuchten sie durch komplexe Verhaltensmuster zu kontrollieren, die als herrschende "Etikette" bezeichnet wurde. Das wirkt hochwohlgeboren, edel, human; kaschiert aber doch nur die wahre Natur des Menschen, die offenbar eher raubtierhaft ist. Mit Zoomobjektiven, die langsam Bilder offenbaren, die den großen Malern der Zeit nachempfunden sind, baut Kubrick Kulturlandschaften, die die unterschwellige Barbarei der Charaktere verbergen. Die Kulturlandschaften sind das thematische Äquivalent zum Schloss der Generäle in Kubricks Wege zum Ruhm.

Drei Stunden lang folgen wir Redmond Barry auf seinem Weg durch diese Kulturlandschaften bei seinem Versuch, in der streng hierarchischen Gesellschaft aufzusteigen und ahnen doch, dass er es nicht schaffen wird. Der Mensch, hilflos ausgesetzt dem Lauf der Dinge – ein wiederkehrendes Motiv in Kubricks Filmen. Zentrale Ereignisse in Barry Leben gipfeln stets in Duellen, jenen streng reglementierten Choreografien des Tötens. Sein Vater stirbt in einem Duell, als er noch jung ist. Er führt sein erstes Pistolenduell mit seinem Nebenbuhler um Cousine Nora, in die Redmond verliebt ist, die jedoch einen besser gestellten Captain ehelichen will. Die nächsten Duelle führt er an den europäischen Höfen, wo er gemeinsam mit dem Chevalier die Oberschicht um ihr Geld erleichtert, das bei Fälligkeit per Duell mit dem Degen eingezogen wird. Hat sich anfangs der junge Redmond noch für seine Ehre duelliert, duelliert sich der älter gewordene Redmond um Geld. Seinen gesellschaftlichen Aufstieg bezahlt er mit dem Abstieg seiner Moral. Weil das Geld aus den Spielerlösen nicht für seinen luxuriösen Lebenswandel reicht, umwirbt und heiratet er die reiche Witwe Lady Lyndon.

Redmond wechselt im lauf des Films vom naiv verliebten Bub zum Betrüger zum Räuber zum Erbschleicher, bleibt dabei aber immer menschlich nachvollziehbar. Ryan O’ Neal (Paper Moon – 1973; Is' was, Doc? – 1972; "Love Story" – 1970) spielt nüchtern, vermittelt mit wenigen Blicken seine Freude über den sozialen Aufstieg, seinen Narzissmus. Ähnlich präsent ist Marisa Berenson, die die Schönheit ihrer Lady Lyndon schweigsam, melancholisch-introvertiert interpretiert.

Videocover (Fr.): Barry Lyndon (1975)Die beiden, O'Neil und Berenson, haben ihre schönste Szene in einer Kutsche, nachdem Redmond Barry der entscheidende Schritt gelungen ist. Er hat Lady Lyndon geheiratet und in dieser Szene nun wird gleich deutlich, wie egal ihm die schöne Lady eigentlich ist. Da sitzt Barry, nun in den Adelsstand erhoben, rauchend neben seiner frisch angetrauten Frau, die der Qualm belästigt. Anstatt die Pfeife zu löschen, bläst er ihr blasiert den Qualm seiner Pfeife ins Gesicht. Und sie? Erträgt es stoisch. Und warum sollte Barry sich einer Etikette anpassen, die längst hohl ist? Von der auch er weiß, dass sie ihm nicht wird helfen können? Er wird der Aufsteiger, der Außenseiter bleiben in dieser englischen Klassengesellschaft.

Auch in diesem Film erzählt Kubrick von gesellschaftlicher Konvention, der sich das Individuum unterordnen muss: Redmond ist kein böser zynischer Mensch. Die Umstände wandeln ihn. Anfangs ist er ehrlich, naiv verliebt. Doch als diese Liebe verraten wird, verweigert er sich weiterer Liebe und nützt die Gefühle der anderen aus. Wirklich lieben tut er nur seinen Sohn Brian. Als der nach einem Reitunfall stirbt, kehrt Barry als gebrochener Mann zu seinem zynischen Leben zurück. Kubrick erzählt das ohne viel Dialog, ohne Erklärung. Die Entwicklung der Figur, die das Schöne genießen und das Unausweichliche verdrängen will, erklärt sich, ähnlich wie schon in Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum (150 Minuten Film, 40 Minuten Wortanteil), über die Bilder.

Für das schicksalshafte Unausweichliche steht Lord Bullingdon, Barrys Stiefsohn, dem das Erbe zufallen würde, sollte Lady Lyndon vor der Zeit sterben; Barry stünde dann mittellos da. Bullingdon ist Barrys Nemesis, hat seinen gesellschaftlichen Ausschluss provoziert. Er personifiziert das letzte Aufbäumen der alten Ordnung, der alten Hierarchie. Das Pistolenduell, das Barry und Bullingdon schließlich ausfechten, ist zwingende Folge der Entwicklung beider Männer. Kubrick erzählt dieses Duell in einem sechsminütigen, furiosen Spannungsbogen.

Der Film spielt am Vorabend der Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit-Revolution der Franzosen. Er endet nicht zufällig mit den Worten „nun sind alle gleich“. Bis dahin zeigt der Film das Gegenteil von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, den Schlagworten des historischen Ereignisses. Im Epilog heißt es: „Die hier gezeigten Personen lebten und stritten sich zur Zeit König Georg III.: Gut oder schlecht, schön oder hässlich, arm oder reich – jetzt sind sie alle gleich.“ Das ist ein sarkastischer Schulterklopfer für all die vermeintlichen Helden, die für eine Größere Sache „im Feld“ geblieben sind, für all die um ihren sozialen Aufstieg kämpfenden: Am Ende haben sie gewonnen, im Tod. Aber nicht im Leben. Da gewinnt der Adel, der Industriemagnat, der Militärführer, der Mann am Abzug, der, der über das Geld verfügt. Aber nicht der Plebs. Der Tod erst ist der blinde Gleichmacher. Er relativiert all das erzählte Streben, Handeln und Leiden und erklärt es für nutzlos.

Kubricks Film ist ein Ereignis, ein Meilenstein des Kinos, weil er sich allen Erwartungen – kommerziellen wie künstlerischen – souverän widersetzt. Nachdem er mit seinen drei zurückliegenden Filmen jeweils Filmgeschichte beeinflusst hat – Dr. Seltsam legte die pathetische Überhöhung des Krieges und der Krieger bloß, 2001 brachte das  Science-Fiction-Genre aus dem Kinder- ins Wohnzimmer zu den Erwachsenen und Uhrwerk Orange brach brachial über die Nach-68er-Flower-Power-Generation herein – nutzt er seinen durch diese Erfolge gewonnenen Spielraum und folgt konsequent seiner Stilidee.

"Barry Lyndon" ist wahrscheinlich der schönste Film aller Zeiten – also: der am schönsten bebilderte, fotografierte Film aller Zeiten. Rigoros verstößt Kubrick gegen die Inszenierungskonventionen Hollywoods. Die New York Times staunt, dass „dieser Film überhaupt finanziert wurde und ins Kino kommt, ist ebenso verblüffend“ wie die Form des Films. John Alcott an der Kamera hat fantastische Bilder kreiert, so schön, dass ich mir vorzustellen versuche, wie er sich gefreut hat, als Kubrick mit diesem Projekt an ihn herantrat. Kubrick widersetzt sich allem, was in – und von – Hollywood gerade so erwartet wird: Rasanz, Overkill, Sex. Kubrick liefert klar komponierte Bilder, die wir Gemälde wirken, kein Spektakel. In einem Aufsatz für das Magazin "Sight & Sound" schrieb der Regisseur schon 1960: „Ich glaube, dass der für einen Film perfekte Roman kein handlungsreicher Roman ist, sondern einer, der vom Innenleben seiner Figuren handelt. Er gibt dem Bearbeiter genau vor, was eine Figur an jedem Punkt der Geschichte denkt oder fühlt.“ Kubrick verbietet sich jedes ChiChi, das zum Kostümfilm dazugehört, erzählt lieber mit strengem Blick von Redmond Barry, der an den strengen sittlichen Codes einer Klasse scheitert, in die er nicht hineingeboren wurde.

Wertung: 8 von 8 D-Mark
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