Ein Bahnhof in New York City: Davey Gordon führt ein Selbstgespräch und fragt sich, wie er in diese Schwierigkeiten geraten sein könnte. Dann erinnert er sich einige Tage zurück.
Davey Gordon ist ein erfolgloser Boxer, der den Großteil seiner Karriere bereits hinter sich hat. Gerade hat er einen Kampf verloren und sein Onkel in Seattle ruft ihn an und fordert ihn auf, einige Zeit bei ihm und seiner Tante zu verbringen. Davey lebt in einem bescheidenen Apartment in New York. Gegenüber lebt die schöne Gloria, die in einem schäbigen Tanzclub als Tänzerin arbeitet. Der Club gehört Vincent, einem in die Jahre gekommenen Gangster. Dieser begehrt und bedrängt Gloria, die ihn zurückweist. Vincent kann die Zurückweisung nicht ertragen.
Als Gloria und Davey sich ineinander verlieben, beschließt sie zu kündigen und die Stadt zu verlassen. Vincent lässt Daveys Manager ermorden – ein Irrtum, da eigentlich Davey hätte sterben müssen. Anschließend lässt Vincent Gloria entführen. Bei dem Versuch, sie zu befreien, liefert sich Davey ein tödliches Duell mit Vincent in einer Fabrik für Schaufensterpuppen …
Der Mensch ist kaum mehr als ein Spielball des Schicksals. Das macht schon der Titelvorspann deutlich. Da ist der Mensch nur ein kleines Wesen in einer gigantischen Architektur. Während er sich in der unteren Bildhälfte kauert, füllt die kolossale Bahnhofsarchitektur alles aus. Dann beginnt der Off-Sprecher „Es ist einfach verrückt, wie man manchmal in eine Geschichte rein schlittern kann und dabei nicht mal in der Lage ist, darüber vernünftig nachzudenken. (…) Es begann vor drei Tagen.“
Diese Bildsprache durchzieht den ganzen Film. Meist ist viel los in jedem Bild, im Vordergrund wie im Hintergrund. Aber wird es bedeutsam, verdunkelt sich der Hintergrund, tritt eine Person, eine Sache allein in den Fokus. Das kulminiert mit Aufnahmen am Times Square, wo die Charaktere nicht mehr durch Schatten isoliert werden, sondern … durch die Realität. Die Hauptfiguren an diesem mit Menschen gefüllten Originalschauplatz verschwinden in der Bildfülle. Gleichzeitig ist diese Inszenierung der Wendepunkt in der Geschichte. Aus dem Kammerspiel mit Licht und Schatten wird eine universelle Liebesgeschichte mit Nebenbuhlern und anderen Kerlen – ganz wie im richtigen Leben also (zum Beispiel jenem richtigen Leben am Times Square).
Der Film springt zu Beginn zwischen den Minuten vor einem Kampf unseres Boxers und der weiblichen Hauptperson, von der wir bislang nur wissen, dass sie eine Nachbarin ist. Aber zwischen deren beiden Welten montiert Kubrick Bilder vom nächtlichen Times Square, von Nikolauspuppen, von Grillwürstchen, von mechanischem Spielzeug, das in einem Bassin paddelt, von Plakaten, die einen Tanzpartner für den Abend versprechen. Übersetzt: Sowohl der Boxer als auch die Tänzerin sind lediglich Puppen, eine Verschiebemasse, die Wünsche nach Unterhaltung befriedigt, aber kein eigenes Leben führen soll.
Und so erleben wir unsere Protagonisten … zwar in Großaufnahmen, die signalisieren: Wir sind die Story! Aber gleichzeitig passiv, anderen Kräften ausgesetzt … der Boxer der Macht des johlenden Publikums, die Tänzerin der Gewalt der Männer, insbesondere ihres Managers. Wenn sie sich schließlich ins Zentrum des Films gespielt haben, macht das klar: Was ab jetzt passieren wird, ist existenziell für diese beiden Figuren, aber absolut unerheblich für den allgemeinen Lauf der Dinge in aller Welt. Das ist perfide, sarkastisch, großartig in Szene gesetzt.
Der Thrill kulminiert schließlich in einer Versteckspiel-Story zwischen Schaufensterpuppen (wieder Menschen als eine unter vielen).
Die Kinofilme von Stanley Kubrick
Stanley Kubrick (* 26. Juli 1928 in New York; † 7. März 1999 im Childwickbury Manor bei London) war ein US-amerikanischer Regisseur, Produzent und Drehbuchautor. Seine Filme werden vor allem für ihre tiefe intellektuelle Symbolik und ihre technische Perfektion gelobt. Kubrick versuchte, das Medium selbst zu erforschen, indem er jedes Genre analytisch zerlegte, um seine Bestandteile zu etwas Neuem zusammenzusetzen. Der Regisseur war aber auch berüchtigt dafür, jede Szene bis ins kleinste Detail zu perfektionieren und dabei die Schauspieler bis an ihre psychischen und physischen Grenzen zu führen.
Authentizität, Kälte, Ehrlichkeit, Realität, Traum, Triebe sind die wohl wichtigsten Schlagwörter im Zusammenhang mit Kubricks Werken. Filmschaffende und -kritiker zählen ihn zu den bedeutendsten Filmemachern aller Zeiten.
- Fear and Desire (1953)
- Der Tiger von New York (1955)
- Die Rechnung ging nicht auf (1956)
- Wege zum Ruhm (1957)
- Spartacus (1960)
- Lolita (1962)
- Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben (1964)
- 2001: Odyssee im Weltraum (1968)
- Uhrwerk Orange (1971)
- Barry Lyndon (1975)
- Shining (1980)
- Full Metal Jacket (1987)
- Eyes Wide Shut (1999)