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Plakatmotiv: CODA (2021)

Ein klug erzählter Film
aus einer unerhörten Welt

Titel CODA
(CODA)
Drehbuch Siân Heder
nach dem Drehbuch "Verstehen Sie die Béliers?" von Victoria Bedos & Stanislas Carré de Malberg
Regie Siân Heder, Frankreich, Kanada, USA 2021
Darsteller

Emilia Jones, Marlee Matlin, Troy Kotsur, Daniel Durant, John Fiore, Lonnie Farmer, Kevin Chapman, Amy Forsyth, Courtland Jones, Molly Beth Thomas, Ferdia Walsh-Peelo, Ayana Brown, Jason Pugatch, Kyana Fanene, Anilee List, Eugenio Derbez, Stone Martin, Maeve Chapman u.a.

Genre Komödie, Drama
Filmlänge 111 Minuten
Deutschlandstart
13. August 2021 (Streaming)
Inhalt

Die siebzehnjährige Ruby ist mit einer Stimme gesegnet, die ihre Eltern nicht hören können. Sie ist das einzige hörende Mitglied einer gehörlosen Familie – ein CODA, Child of Deaf Adults. Ihr Leben dreht sich darum, als Dolmetscherin für ihre Eltern Jackie und Frank zu fungieren und jeden Tag vor der Schule mit ihrem Vater und ihrem älteren Bruder Leo auf dem angeschlagenen Fischerboot der Familie zu arbeiten.

Doch als Ruby dem Chorclub ihrer Highschool beitritt, entdeckt sie ihr Talent für den Gesang und fühlt sich zu ihrem Duettpartner Miles hingezogen. Von ihrem enthusiastischen Chorleiter Bernardo ermutigt, sich an einer renommierten Musikschule zu bewerben, ist Ruby hin- und hergerissen zwischen den Verpflichtungen gegenüber ihrer Familie und dem Verfolgen ihrer eigenen Träume …

Was zu sagen wäre

Das klingt ein bisschen, wie Caroline Links Jenseits der Stille von 1996, nur dass hier nicht eine Tochter gehörloser Eltern Klarinette spielt und aufs Konservatorium nach Berlin will, sondern singt und auf ein Stipendium am Musik-College in Boston hofft. Tatsächlich handelt es sich hier um die Neuverfilmung eines französischen Films von 2014, "Verstehen Sie die Béliers?".

"CODA" (Child of Deaf Adults) ist ein Coming-of-Age-Film, der den ganz klassischen Mustern folgt. Ruby, die 17-jährige Hauptfigur ist zum ersten Mal und sehr heimlich in einen Jungen verliebt, der aber immer mit den Mädchen rumhängt, die sich über Ruby lustig machen, weil die aus einer Fischerfamilie kommt und jeden Morgen vor der Schule schon auf Vaters Fischkutter arbeiten muss. Sie ist die klassische Außenseiterin. Ihre Eltern verstehen sie im wörtlichen Sinne nicht – sie sind gehörlos. Und sie sind auf Ruby angewiesen, die ihren Eltern den lieben langen Tag die Welt der Hörenden und Sprechenden übersetzt. Ohne Ruby wären sie aufgeschmissen, was wiederum ihren älteren Bruder Leo nervt, der sich vorkommt, wie das fünfte Rad am Wagen, „obwohl ich der ältere Bruder bin“. Und Ruby fühlt sich genauso, weil sie bei Bruder und Eltern als Gehörlose eine Art Inner Circle vermutet, dem sie als Hörende nicht angehört.

Das Mädchen muss also lernen, sich in der Welt durchzusetzen, an sich zu glauben, seine Träume zu leben und so weiter. Das ist das Grundgerüst des Genres Coming of Age. In diesem Film hat sie eine Gabe, eine wunderschöne Stimme, die ein enthusiasmierter Lehrer entdeckt und fördern will. Und ihre Eltern können damit gar nichts anfangen, ahnen nicht einmal, dass ihre Tochter so wunderbar singen kann. Und das ist natürlich auch weit weg von der gerade ohnehin schwierigen Lage der Fischer von Gloucester in Massachusetts, wo die Geschichte spielt. Hier prallen die Interessen der körperlich hart arbeitenden Frauen und Männer auf die feingliedrige Kunst des Gesangs, die hier wirklich keiner versteht, auch nicht die Hörenden. Ja, nicht einmal Ruby. Es gibt eine wunderbare Szene, da fragt der Musiklehrer Ruby, was sie denn fühle, wenn sie singe. Und Ruby findet keine Worte und erklärt es ihrem Lehrer schließlich zögerlich in Gebärdensprache – sie ist halt in einem schweigenden Haushalt aufgewachsen, in dem gestikuliert wird. In der Schule wurde sie anfangs ausgelacht, weil ihr Sprechen sich komisch angehört habe, erzählt sie. Und das, was sie nun über das Gefühl des Singens gestikuliert, können auch wir ohne Untertitel übersetzen. Es muss ein schwebendes, glückliches Gefühl sein. Und die Szene, die es ja in ganz vielen Coming-of-Age-Filmen gibt – „Was fühlst Du, wenn Du …“ – geht in ihrer unerwarteten Unmittelbarkeit ans Herz.

Noch einmal wird dem Zuschauer vermittelt, wie das ist, in einem Saal voller Menschen zu sitzen und nicht hören zu können. Als Ruby ihren ersten großen Auftritt an ihrer Schule hat, sie endlich dieses Duett mit ihrem Partner Miles, in den sie sich verliebt hat, während sie den Song hundert Mal gemeinsam geprobt haben, singt, dreht die Regie einfach den Ton weg. Und wir sitzen genauso ahnungslos da, wie Rubys Eltern im Auditorium. Aber nach und nach erkennen wir, dass ihr Gesang betörend sein muss, die Menschen im Saal sind ergriffen, hier wippt jemand mit, dort schwelgt einer mit geschlossenen Augen, vor uns weint jemand. Siân Heder, die selber in Gloucester aufwuchs, schafft mit minimalen Tricks, ihre Zuschauer mit auf eine Reise zu nehmen, die durch das Herz einer 17-Jährigen in die Welt der Gehörlosen führt und auch in die Gesellschaft dieser Region. Der Streit zwischen Fischern und Fischereiindustrie, den der Film zeigt, ist authentisch; dramaturgisch geschärft natürlich, aber wir haben bald eine 3D-Vorstellung von der Welt, in der die Hauptfiguren leben – auch ohne 3D-Brille.

Ich habe den Film am Tag nach der Oscar-Show gesehen, auf der "CODA" als Bester Film ausgezeichnet worden ist. Diese Auszeichnung überrascht. Sie legt den Film in ein Regal neben Beste Filme wie Parasite (2020), Million Dollar Baby (2005), Schindlers Liste (1994), Erbarmungslos (1993), Das Schweigen der Lämmer (1992), Die durch die Hölle gehen (1979), Der Clou (1974), Der Pate (1973), Das Appartement (1961), Die Brücke am Kwai (1958), Alles über Eva (1951) oder Das verlorene Wochenende (1946). Das lenkt die Erwartungen, die man jetzt an den Film hat, ab von dem, was er ist: ein klug erzählter, zu Herzen gehender Familienfilm mit einem noch unverbrauchten Gesicht in der Hauptrolle. Die Auszeichnung für so einen Herz-Film mag in den Wochen, in denen Wladimir Putin mit seinen Panzern über die Ukraine hergefallen ist, verständlich sein, aber er verschwimmt im Strom der Filme, die beständig kommen und gehen. An die Ohrfeige, die Will Smith Chris Rock auf offener Oscar-Bühne gegeben hat, wird man sich noch lange erinnern und dann vielleicht die Frage hinterherschicken: Welcher Film hat noch den Best Picture Oscar bekommen in dem Jahr?

Wertung: 7 von 8 €uro
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