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Plakatmotiv: Jenseits der Stille (1996)

Anrührend und spannend.
Ein klangvolles Erlebnis.

Titel Jenseits der Stille
Drehbuch Caroline Link & Beth Serlin
Regie Caroline Link, Deutschland 1996
Darsteller

Sylvie Testud, Tatjana Trieb, Howie Seago, Emmanuelle Laborit, Sibylle Canonica, Matthias Habich, Alexandra Bolz, Hansa Czypionka, Doris Schade, Horst Sachtleben, Hubert Mulzer, Birge Schade, Stephan Kampwirth, Lea Mekhméche, Laurel Severin u.a.

Genre Drama
Filmlänge 109 Minuten
Deutschlandstart
19. Dezember 1996
Inhalt

Lara wächst bei ihren gehörlosen Eltern in einer kleinen Stadt in Süddeutschland auf. Lara selbst hört normal und beherrscht die Gebärdensprache, weswegen sie schon in jungen Jahren in vielen Lebenslagen für ihre Eltern übersetzt. So begleitet sie sie zum Beispiel zu Kreditverhandlungen auf die Bank und dolmetscht dort wie auch beim Elternsprechtag in der Schule – allerdings nicht immer ganz wahrheitsgemäß.

Zu Weihnachten bekommt Lara von ihrer Tante Clarissa, die eine begeisterte Musikerin ist, eine Klarinette geschenkt. Lara entdeckt die Welt der Musik, in die ihr ihre Eltern nicht folgen können. Während der folgenden Jahre entwickelt sich Lara zu einer talentierten Klarinettistin.

Als die mittlerweile 18-jährige Lara auch noch auf einem Konservatorium im fernen Berlin studieren will, scheint die Familie auseinanderzubrechen …

Was zu sagen wäre

In jedem Leben gibt es die Zeit, in der sich Eltern und Kinder nicht verstehen. Die Eltern sehen das Kind und ihre Welterklärer-Rolle, während die Kinder erwachsen werden und die Welt auf ihre Art erkunden. Wird im Kino so eine Geschichte erzählt, nennt man das eine Coming-of-Age-Geschichte, eine Erwachsenwerd-Geschichte. Caroline Link findet für das Unverständnis zwischen Alt und Jung eine bezaubernd einfache Übersetzung für die Leinwand: Mutter Kai und Vater Martin können nicht hören.

Zwar können sie sich mit Lara, ihrer hörenden Tochter, per Zeichensprache verständigen. Aber als Lara ihre Liebe zur Musik und zur Klarinette entwickelt, bleiben die Eltern außen vor. Sie zeigen nicht das geringste Verständnis, weil sie gar nicht wissen, was Musik ist. Der Film macht das deutlich, als Lara ihrem Vater beschreiben soll, wie Schnee klingt. In Gebärdensprache erklärt sie ihm ein Geräusch namens „knirsch, knirsch", was im Kinosessel jeder Hörende sofort übersetzt. Aber Martin hat in seiner geräuschlosen Welt keine Entsprechung für knirsch. Erst, als sie ihrem Vater erklärt, mit dem Schnee senke sich eine Stille über die Szenerie, versteht der Vater. Aber Musik ist das Gegenteil von still. Was will die Tochter da? Und schließlich brauchen die Eltern Lara um sich, schließlich ist sie daheim die einzige, die ans Telefon gehen kann. Es kommt der Moment, an dem Lara mit der Familie, ihrer Vergangenheit brechen – „Ich halt's hier nicht mehr aus. Ich halte die Stille nicht mehr aus in diesem Haus!“ – und ihre Flügel aufklappen muss.

Der Reigen der Dramatis Personae wir erweitert um Martins schwer reiche Eltern, die ihren Sohn lieben, aber nicht so ganz einverstanden scheinen mit seinem Lebenswandel – Martin ist knapp bei Kasse, wie er und Kai ihren Lebensunterhalt verdienen, bleibt im Ungefähren; irgendwas Handwerkliches offenbar. Außerdem ist da Clarissa, Martins hörende Schwester und talentierte Klarinettistin, die mit einem charmanten und offenbar erfolgreichen Schriftsteller verheiratet ist. In Rückblenden wird deutlich, das die Kindheit der Hörenden und des Nicht-Hörenden in einem strengen, fordernden Elternhaus zu Konkurrenz und Neid geführt hat; und als also Clarissa Lara nach Berlin holt, brechen bei Martin alte Wunden wieder auf, wölbt sich über das Coming-of-Age-Drama noch eine alte, unverarbeitete Familiengeschichte.

Das ist klassischer deutscher Kinodramen-Stoff: schwerblütig mit Hindernissen. Aber Caroline Link, die mit "Jenseits der Stille" ihr Regiedebüt auf der Leinwand präsentiert – die Absolventin der Münchner Filmhochschule hat seit 1990 einige TV-Seriendrehbücher geschrieben und einen Fernsehfilm gedreht – lässt das schwere Drama ganz leicht aussehen.

Für den Film über eine traurige junge Frau, die der Klarinette verfallen ist, steuert Komponist Niki Reiser einen schwebende Instrumentalscore bei, mal melancholisch, mal überschwappend, sehr selten aufdringlich; er eröffnet der Klarinette auf der Leinwand eine Welt, in die wir gerne eintauchen. Zusammen mit einem sehr überzeugenden Cast, bei dem es zu der nur im Kino möglichen Situation kommt, dass eine 25-jährige Schauspielerin (die gehörlose Emmanuelle Laborit) die Mutter einer 18-Jährigen spielt, die von einer 25-jährigen Schauspielerin gespielt wird (die auch noch einige Monate älter ist, als ihre "Mutter") – der Kreis in Frage kommender, gehörloser Schauspieler scheint klein zu sein. Die Französin Sylvie Testud (25) spielt die 18-jährige Lara, blaue Augen, blonde Haare, aber immer umwölkt von einer Melancholie, die jeden Sonnenschein in ihrem Gesicht löscht. Wie sie sich schwer tut, ihr Elternhaus für ihren Traum zu verlassen, und wie sie in Berlin zwischen Jazzkneipen und jungen Männern langsam aufblüht, spielt sie in der zweiten Filmhälfte (davor wird Lara von der 11-jährigen Tatjana Trieb verkörpert, die auch auf dem Filmplakat abgebildet ist) mit großer Überzeugung. Es ist schade, dass ihre deutsche Synchronstimme das Temperament im Spiel Sylvie Testuds nur zu 80 Prozent überträgt. Das irritiert ein paar Mal, kann das mitreißende Drama aber nicht nachhaltig beschädigen.

"Jenseits der Stille" war 1998 für den Oscar für den besten fremdsprachigen Film nominiert. Ausgezeichnet wurde in dieser Kategorie der Film "Karakter" aus den Niederlanden.

Wertung: 11 von 11 D-Mark
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