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Plakatmotiv: Intrige (2019)

Roman Polanskis Kostümfilm hält
dem 21. Jahrhundert den Spiegel vor

Titel Intrige
(J'accuse)
Drehbuch Roman Polanski & Robert Harris
nach dem gleichnamigen Roman von Robert Harris
Regie Roman Polanski, Frankreich, Italien 2019
Darsteller

Jean Dujardin, Louis Garrel, Emmanuelle Seigner, Christophe Maratier, Pierre Poirot, Stéfan Godin, Grégory Gadebois, Eric Ruf, Wladimir Yordanoff, Didier Sandre, Yannik Landrein, Vincent Perez, Luca Barbareschi, Hervé Pierre Hervé Pierre, Mohammed Lakhdar-Hamina u.a.

Genre Drama
Filmlänge 132 Minuten
Deutschlandstart
6. Februar 2020
Inhalt

Am 5. Januar 1895 fällt das Urteil: Der junge jüdische Offizier Alfred Dreyfus (Louis Garrel) verliert wegen angeblicher Spionage seine Titel und muss seine Haftstrafe auf der Teufelsinsel im atlantischen Ozean antreten. Die Verbannung hierher wird als lebenslängliche Strafe ausgesprochen.

Colonel Georges Picquart ist bei Dreyfus' Prozess und der Degradierung als Zeuge dabei und steigt kurze Zeit später zum Geheimdienstchef auf. Nun steht er der Abteilung vor, die den verurteilten Hauptmann als Spion enttarnt haben will. Doch als Militärgeheimnisse weiterhin ihren Weg in deutsche Hände finden, beginnt Picquart daran zu zweifeln, dass Dreyfus tatsächlich schuldig ist. Von oben kommt die Anweisung, die Angelegenheit unter den Teppich zu kehren, doch Picquart kann die Sache nicht einfach so ruhen lassen. Damit bringt er sich selbst in größte Gefahr, denn es darf unter keinen Umständen der Eindruck entstehen, dass das Militär, der Geheimdienst und die Gerichte fehlbar seien …

Was zu sagen wäre

Seine Entehrung ist absolut. Hauptmann Dreyfus wird vor der gesamten Garnison, die auf dem Hof der Militärschule am Marsfeld angetreten ist, des Hochverrates für schuldig gesprochen, degradiert und dann aller seiner Ehrenzeichen beraubt, Tressen, Kordeln, goldener Knopf für goldener Knopf, am Ende steht er mit einem verschlissen erscheinenden Anzug da, als wäre er vor aller Welt nackt. Dann nimmt der Offizier Dreyfus' Säbel, zerbricht ihn über dem Knie und wirft ihn vor Dreyfus auf den Boden. Dessen Beteuerungen, er sei unschuldig, quittieren die zivilen Zuschauer hinterm Zaun mit höhnischen Gebrüll und Verräter-Verräter-Rufen. Tiefer geht nicht mehr. Danach wird er auf der Teufelsinsel ausgesetzt.

Die Geschichte spielt Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich, ist ein verschwenderisch ausgestattetes, elegant gefilmtes, sehr präzise inszeniertes Kostümdrama und ist natürlich historisch – die Dreyfus-Affaire, den großen Skandal hat es gegeben. Polanski zeichnet, quasi als Rahmen um die dramatischen Geschehnisse im Innern, ein Sittenbild der damaligen Zeit, zeigt anschaulich, wie man damals lebte, welche Konventionen für wen galten. Aber es ist kein Film der in der Vergangenheit abgeschlossen ist. Roman Polanski erzählt eine sehr heutige Geschichte ("Nach einer wahren Geschichte" – 2017; Venus im Pelz – 2013; Der Gott des Gemetzels – 2011; Der Ghostwriter – 2010; Die neun Pforten – 1999; Der Tod und das Mädchen – 1994; Bitter Moon – 1992; Frantic – 1988; Piraten – 1986; "Tess" – 1979; Der Mieter – 1976; Chinatown – 1974; Macbeth – 1971; Rosemaries Baby – 1968; Tanz der Vampire – 1967; Ekel – 1965).

Damals in Frankreich setzten Generäle, alte weiße Männer, ihre Wahrheiten buchstäblich männerbündlerisch durch. Der Jude stört. Der Jude soll weg. So einen will man nicht in der Armee. Dass da ein anderer weiter für die Deutschen spioniert, ist nicht so wichtig, Hauptsache, der Jude bleibt auf der Todesinsel und das Bild des französischen Militärs sauber. Die Offiziere müssen den Schein wahren. Das Innenleben dieser ehrbaren alten weißen Männer versinnbildlicht Polanski, als wir den Vorgänger von Colonel Georges Picquart, dem neuen Geheimdienstchef, kennenlernen. Der ist ein von Syphillis zerfressener Mann, der über die Verkommenheit der französischen Gesellschaft räsoniert, der froh ist, nicht mehr Geheimdienstchef eines Landes sein zu müssen, das moralisch vor die Hunde geht – für dessen angebliche Verkommenheit er selbst allerdings das beste Beispiel geben würde, wäre er als christlicher Mann nicht sakrosankt.

Ist das der berechnende Film eines Regisseurs, dem allerlei Vorwürfe sexueller Gewalt anhängen? Der hier mit seiner handwerklich künstlerischen Qualität Partei ergreift? Seine Perspektive in der Diskussion verankern möchte? Womöglich ist das so, ein Künstler reflektiert die Welt aus seiner individuellen Perspektive. Diskreditiert es das Werk eines Künstlers, dass der Künstler unter Verdacht steht? Nein! Es vertieft den Einblick in das Denken des Künstlers. Ich muss, was dem Regisseur vorgeworfen – und von diesem in Teilen auch gar nicht bestritten – wird, nicht mögen. Seinen subjektiven, filmischen Blick auf eine Gesellschaft, die Opfer braucht, kann ich unabhängig davon betrachten.

In diesem Film, der doch unter lauter ehrbaren Leuten der Gesellschaft spielt, ist es selten mal richtig hell. In den vollgestellten Büroräumen, den weiträumigen Palastfluchten sperren Vorhänge das Tageslicht aus, auch auf den Straßen von Paris scheint nie die Sonne. Mehrmals versucht Picquart, die Fenster in seinem Büro zu öffnen, Luft und Licht hereinzulassen. Aber das Fenster klemmt. Die Luft bleibt dick. Eine Szene, stellvertretend für die Geisteshaltung dieser Männerwelt.

Die Atmosphäre ist bedrückend, die Situation zunehmend beklemmend. Polanski setzt kaum Musik ein, lässt seine Kamera das Geschehen beobachten und uns erkennen, wie in Colonel Picquart die Zweifel wachsen. Kein bedrohlicher, jammernder oder fideler Score diktiert die Stimmung; der Film hat dokumentarischen Charakter. Er zeigt, wie sich das Gift des Hasses auf das Fremde ausbreitet, wie Populismus funktioniert. Als Emile Zola seine berühmte Anklage veröffentlicht – „Jaccuse …!“ – sind die Franzosen empört nicht etwa über ihr Militär, sondern über die „Verräter“, die das Militär, die Regierung in den Schmutz ziehen. Man hält zusammen gegen die Anderen, die von außen kommen und uns unsere Normalität nehmen wollen. Der passende Film also zu unserer gesellschaftspolitischen Situation.

Wertung: 7 von 8 €uro
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