Die britischen Royals treffen sich an Weihnachten 1991 auf dem weitläufigen Schloss Sandringham House im ländlichen Norfolk. Lady Diana graut es vor dem mehrtägigen Familienfest, dessen strenges Protokoll von Major Alistar Gregory überwacht wird.
Alles ist auf Ihre Majestät Königin Elisabeth II. ausgerichtet – von den Fototerminen bis hin zu der Sitzordnung bei Tisch. "Lady Di" gelingt es jedoch kaum mehr, die Rolle als medial allgegenwärtige Prinzessin von Wales, künftige Monarchin, zweifache Mutter und vorbildliche Ehefrau zu erfüllen. Sie weiß um die Untreue ihres Ehemanns Prince Charles, und ekelt sich, eine Perlenkette zu tragen, von der es auch eine Ausfertigung für seine Geliebte gibt.
Mit Eigenwilligkeiten und Streichen verstößt Diana gegen das Protokoll. Als die Kammerzofe Maggie, ihre einzige Vertraute, nicht mehr für sie da ist, beginnt sie zu verzweifeln. Heimlich bricht sie nachts zu einem Ort ihrer Kindheit auf. Immer stärker spürt Diana den Wunsch, dem goldenen Käfig zu entfliehen …
Ein Horrorfilm. Die Protagonistin irrt durch unendliche Palastfluchten. Ihr auf den Fersen die unglückliche Anne Boleyn, eine der Ehefrauen Heinrichs des Achten, die dieser hinrichten ließ, weil er sich in eine andere verguckt hatte. Auch die Protagonistin hat eine Nebenbuhlerin, eine, der ihr königlicher Gatte zu Weihnachten dieselbe Perlenkette schenkt, wie ihr. Sicher, heute wird abgelegten Ehefrauen nicht mehr der Kopf abgeschlagen. Heute treibt man sie in den Wahnsinn.
Der Film heißt "Spencer" und er erzählt vom Leiden der Lady Diana Spencer in den letzten Tagen ihrer behauptet glücklichen Ehe mit Charles Windsor, dem Thronfolger. Man sollte das im Kino nicht mit einem Dokumentarfilm verwechseln. Pablo Larraín nimmt sich alle cineastischen Freiheiten, um ganz nah bei seiner Protagonistin zu bleiben, in der ersten Stunde ist die Kamera eng bei ihr, schwebt um sie herum, die königliche Familie taucht da, ganz am Rande, nur als wortlose Staffage mit hängenden Mundwinkeln und strengen Augen auf. Und auch im Rest des Films haben Charles, die Queen und andere erwachsene Royals nur wenige Sätze im Drehbuch stehen; lediglich William und Harry, den beiden jungen Söhnen Dianas, gesteht der Film die Fähigkeit zum echten Dialog zu.
Sprechen tun die anderen, der Chefkoch, der Mitleid für die Lady empfindet, die Kammerzofe, die eine enge Freundin geworden ist und deshalb aus ihrer Nähe entfernt wird, der strenge Zeremonienmeister, der darauf pocht, dass das erhabene Bild der Royal Family ohne Kratzer bleibt, egal, welche Wunden das unter der Oberfläche verursacht. Diana darf in diesem Umfeld nicht Diana sein, junge Frau und liebende Mutter. Sie hat ein Symbol für rund 65 Millionen Briten zu sein, künftige Königin und, ganz wichtig, Mutter des Thronfolgers.
Der Film lässt viele Leerstellen. Wir erfahren nicht, woher Diana kommt, Pablo Larraín setzt voraus, dass wir die Yellow Press und das spätere Schicksal der Lady in einem Straßentunnel von Paris genau kennen. Wir erfahren auch nicht en Détail, wie die königliche Familie die gelernte Kindergärtnerin ausgrenzt. Wir steigen ein mit der abwehrenden Reaktion Dianas auf den Goldenen Käfig, für den Larraín schöne Bilder findet – mehrfach inszeniert er seine Titelheldin in prachtvollen Sälen, verziert mit großen Portraits in Öl – besonders groß dabei jener Ehefrauenköpfer Heinrich VIII. – und Stuckornamenten, aber ohne jede Möblierung; also in verschwenderischen Räumen ohne Zweck.
Die ersten 20 Minuten des Films gehören mit zum Besten, was wir im Kinojahr 2021 zu sehen bekommen haben (bei uns startet der Film Mitte Januar 2022, in der englischsprachigen Welt ist er seit Herbst 2021 zu sehen). Da erleben wir Diana im offenen Porsche Cabriolet durch die fahle englische Landschaft irren auf der Suche nach dem Weg nach Sandringham, zwischendurch fragt sie, aufgebrezelt im Chanel-Kostüm, auch mal sprachlose, bäuerliche Gäste einer Raststätte nach dem Weg. Als Gegengewicht zu dieser Irrfahrt in die royale Isolation inszeniert Larraín einen straff organisierten, olivgrünen Zug aus Lkw, der sich dem Landsitz nähert. Er bringt die vorbereiteten, gekühlten Rohstoffe für die zahlreichen weihnachtlichen Menüs, derer wir im Kinosessel jeweils kurz ansichtig werden dürfen, bevor Diana jeweils von ihrem Platz aufsteht, um sich in der Toilette zu übergeben – es sind erkennbar die letzten Tage der bulimischen Diana als Princess of Wales, der künftigen Königin – ob selbstgewählter Abschied oder vertrieben, diese Entscheidung überlässt der Film dann uns im Kinosessel. Und während Diana immer noch durch die ostenglische Landschaft irrt, rollen nacheinander royale Rolls Royces vors Haus, denen, ordentlich nach adligem Stand sortiert, der Inner Circle der Family entsteigt. Nur eben Diana nicht – die kommt später, was in diesen Kreisen als Respektlosigkeit der Queen gegenüber vermerkt wird. Aber das sind immer nur kurze Filmmomente. Hauptsächlich bleibt die Kamera bei Diana. In diesem Film, der ihren Familiennamen im Titel trägt, ist allein sie die Hauptfigur, nicht Ehemann und Thronfolger Charles und schon gar nicht die Queen, die in ihrer einzigen längeren Dialogsequenz ihrer Schwiegertochter erklärt: „Sie schießen ein ganze Menge Fotos von Dir, nicht wahr? Das einzige Porträt, das wirklich zählt, ist jenes, was sie für die 10-Pfund-Note verwenden. Wenn dies geschieht, meine Liebe, verstehst Du, dass wir nur Mittel zum Zweck sind.“ Die Titelheldin ist umgeben von einem Haufen Zynikern, unter denen die Queen die abgebrühteste ist.
Als Diana Spencer, Princess of Wales, brilliert Kristen Stewart (3 Engel für Charlie – 2019; "Jean Seberg – Against All Enemies" – 2019; Café Society – 2016; Snow White and the Huntsman – 2012; "Twilight – Biss zum Morgengrauen" – 2008; Jumper – 2008; Inside Hollywood – 2008; Das gelbe Segel – 2008; Into the Wild – 2007; Zathura – Ein Abenteuer im Weltraum – 2005; Panic Room – 2002). Trotz der gelungenen Diana-Perücke sieht sie in keiner Nahaufnahme aus, wie eine bemühte Kopie jener Diana, die ich im Fernsehen damals kennenlernte. Aber sie sieht eben auch nicht aus, wie Kristen Stewart in Verkleidung. Da steht ein eigenständiger Charakter vor der Kamera, den ich im Kinosessel neu entdecken darf. Es ist ähnlich, wie in der Netflix-Serie "The Crown": Das Stück da auf der Leinwand ist frei erfunden, frei interpretiert anhand der in zahllosen Boulevardtexten veröffentlichten Leidensgeschichte der Diana Spencer. Kristen Stewart füllt diese Interpretation mit Leben.