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Plakatmotiv: Rocco und seine Brüder (1960)

Die filmische Studie über
den Zerfall einer Familie

 

Titel Rocco und seine Brüder
(Rocco e i suoi fratelli)
Drehbuch Luchino Visconti & Suso Cecchi D'Amico & Vasco Pratolini
nach Motiven des Buches "Il ponte della Ghisolfa" von Giovanni Testori
Regie Luchino Visconti, Italien, Frankreich 1960
Darsteller

Alain Delon, Renato Salvatori, Annie Girardot, Claudia Cardinale, Katina Paxinou, Alessandra Panaro, Spyros Fokas, Max Cartier, Corrado Pani, Rocco Vidolazzi, Claudia Mori, Adriana Asti, Enzo Fiermonte, Nino Castelnuovo, Rosario Borelli, Renato Terra, Roger Hanin, Paolo Stoppa u.a.

Genre Krimi, Drama
Filmlänge 179 Minuten
Deutschlandstart
14. April 1961
Inhalt

Italien in den 1950er Jahren: Rosaria Parondi reist nach dem Tod ihres Ehemannes mit ihren vier Söhnen Rocco, Simone, Ciro und Luca aus dem verarmten Süden des Landes nach Mailand, das wirtschaftlich prosperiert und daher viele arme Menschen vom Lande anzieht.

Vincenzo, der älteste der fünf Brüder, lebt schon seit einiger Zeit in Mailand und hat dort eine feste Anstellung als Bauarbeiter gefunden. Die jüngsten Brüder, Luca und Ciro, sind noch im Kindes- beziehungsweise Teenageralter, während die beiden anderen Brüder bereits die Schule abgeschlossen haben. Vincenzo feiert mit seiner Freundin Ginetta und deren Familie gerade die Verlobung, als seine Familie unerwartet eintrifft. Gleich am ersten Abend überwirft sich Rosaria mit der Familie Ginettas, da diese fürchtet, die Mutter wolle alle ihre Söhne auf ihre Kosten durchbringen, was Rosaria als Beleidigung empfindet. Die Familie Parondi muss in eine ärmliche Sozialwohnung ziehen.

Rosaria hofft, dass Vincenzo ihnen eine Arbeit verschaffen kann, was sich als schwierig erweist. Bald werden Simone und Rocco von Vincenzo in den Boxsport eingeführt, aber nur Simone, der Stärkere, wird von dem ehemaligen Boxer Morini „entdeckt“. Simone feiert bald erste kleinere Boxerfolge und verliebt sich in die Prostituierte Nadia, die allerdings keine dauerhafte Beziehung mit ihm eingehen will. Rocco tritt inzwischen seinen Militärdienst in einer anderen Stadt an und trifft dort 14 Monate später Nadia, die vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen wurde, in dem sie wegen Prostitution eine Strafe absitzen musste. Rocco kommt mit Nadia ins Gespräch, die er zuvor nur flüchtig kannte, und macht ihr Hoffnung, dass sie ihr altes Dasein aufgeben und etwas aus ihrem Leben machen könne. Als beide wieder in Mailand sind, gehen sie eine Liebesbeziehung ein.

Die Situation der Familie bessert sich langsam, und so können Vincenzo und Ginetta heiraten und die Parondis endlich aus der Sozialwohnung in eine bessere Wohnung umziehen. Ciro hat eine Schulausbildung erfolgreich abgeschlossen und findet eine bescheidene und von Simone verlachte, aber beständige Arbeit in einer Autofabrik. Simones eigene Karriere als Boxer ist inzwischen ins Stocken geraten, und er wird nach einer blamablen Niederlage von seinen Arbeitgebern entlassen. Cecchi, Vincenzos Boxtrainer, entdeckt unterdessen das Boxtalent Roccos und nimmt ihn unter seine Fittiche. Simone wird zum erbarmungslosen Rivalen Roccos, nicht nur weil dieser als Boxer Erfolg hat, sondern vor allem weil dieser Nadia liebt.

Darüber kommt es zu einem erbitterten Streit zwischen Simone und Rocco, der die Familie entzweit …

Was zu sagen wäre

Der Schnee bringt die Brüder zusammen. Sie hausen in Mailand immer noch in einem Kellerloch, als Schnee über die Stadt hereinbricht und den Brüdern jede Menge Arbeit im Schnee räumen besorgt. Es ist ein Anfang in der Fremde. Der Norden Italiens ist für die Familie aus dem Süden Italiens, aus der Basilikata, eine andere Welt. Wo sie herkommen, gibt es Orangen, Zitronen und vor allem Oliven. Aber kaum Arbeit. Arbeit gibt es im verregneten Mailand auch nur wenig – Jobs in der Wäscherei oder, mit Grundschulbildung, am Fließband in der Autoindustrie. Als Ungelernte bleiben als Geldquelle Diebstahl, Prostitution oder das Boxen.

Vor allem gibt es die Familie. Sie steht bei Luchino Visconti über allem anderen. Sein Film erzählt vom allmählichen Zerfall der italienischen Großfamilie im Italien der Nachkriegszeit. Im Norden wachsen Industrie und Jobs und mit ihnen die Städte – Rom, Florenz, Mailand – im Süden verlassen die Menschen ihre Heimat. Manche Familien zerreißen schon an dieser Stelle. Plakatmotiv: Rocco und seine Brüder (1960) Familie Parondi zieht, nachdem der Ehemann und Vater gestorben ist, gemeinsam in den Norden, Mutter Rosaria hält den Clan zusammen, kann aber die Verlockungen der neuen Welt nicht vor den Brüdern aussperren. Vor allem Simone lässt sich verleiten. Geblendet von der Glitzerwelt der Großstadt, lebt er über seine Verhältnisse und erliegt der Illusion von schnellem Reichtum. Sein Gegenstück ist Rocco. Während Vincenzo und Ciro sich in den Arbeitsmarkt integrieren, Vincenzo zusammen mit Ginetta – Claudia Cardinale am Start ihrer Filmkarriere (Cartouche, der Bandit – 1962; Der Leopard – 1963; Der rosarote Panther – 1963; Spiel mir das Lied vom Tod – 1968) – seine eigene Familie gründet und Ciro gerne mit Kollegen um die Häuser zieht und bald ein Mädchen kennenlernt, sucht Rocco, ohne Schulbildung, noch seinen Platz in der Welt und jobbt in einer Wäscherei, bis er was Besseres findet. Das findet er nicht und so meldet er sich zum Militärdienst und macht schließlich als Boxer Karriere; all dies aber ohne innere Überzeugung. Sein Ding ist alleine die Familie. Für sie tut er alles. Er zerstört sogar sein eigenes Leben für sie.

Ich sehe den Film 1993 zum ersten Mal, im Fernsehen, 33 Jahre nach seiner Weltpremiere im Kino. Die emotionale Wucht dieses Familiendramas, das soziale Gefälle zwischen Süd und Nord, wo sie sich über die Landsleute aus dem Süden mit den Lumpen am Körper lustig machen, übertragen sich heute noch so wie damals; mir allerdings fällt es schwer, die unbedingte Treue Roccos zu seinem älteren Bruder Simone nachzuvollziehen. Simone schnorrt ihn, der selber wenig hat, unverblümt an, hintergeht ihn und vergewaltigt vor Roccos Augen dessen Freundin Nadia, die vor zwei Jahren mal ein Verhältnis mit Simone hatte. Anschließend prügelt er Rocco windelweich. Aber Rocco bleibt in Treue fest zu ihm, verzeiht ihm alles und will auf keinen Fall einen Keil in die Familie treiben. Alain Delon (Nur die Sonne war Zeuge – 1960; Christine – 1958) spielt ihn als stoischen Mann, der mit Überzeugung, aber ohne Freude tut, was nötig ist, um die Familie über Wasser zu halten. Rocco lässt sich sogar darauf ein, zehn Jahre für einen Promoter zu boxen, um Simones immense Schulden zu bezahlen. Während Simone gleichzeitig nicht aufhört, seine Familie zu hintergehen.

Die engen italienischen Familienbande in diesem Film aus Jahr 1960 sind mir 1993 fremd und für mich eine akademische Säule im Drehbuch, die ich akzeptieren muss, wenn ich dem drei Stunden langen Film, der ohne diese Säule nicht funktionieren würde, folgen möchte. Plakatmotiv: Rocco und seine Brüder (1960) Anders der Aspekt, wie die moderne Arbeit die soziale Gemeinschaft verändert. Fasziniert schaue ich zu, wie eine Familie ganz unten – buchstäblich in einem Kellerloch – anfängt und sich langsam in die Gesellschaft einer fröhlichen Nachbarschaft hochwirtschaftet.

Visconti und sein Kameramann Giuseppe Rotunno filmen das Leben ungeschönt, ohne visuelle Schnörkel für die nach einem harten Arbeitstag ermatteten Kinozuschauer. Den mondänsten Auftritt bietet das Dach des Mailänder Doms mit dem Blick auf die Stadt, auf dem sich Rocco schweren Herzens von seiner Freundin Nadia trennt, die er zurück in die Arme Simones drängt, um diesen in die Gemeinschaft zurückzuholen. Sonst bewegen sich die Figuren zwischen grauen Betonblöcken, brackigen Vororttümpeln und düsteren Boxhallen. Die Stadtgesellschaft erleben wir als brüllende Masse während der Boxkämpfe.

Die Sehnsucht der Familie nach dem heimischen Süden bleibt den ganzen Film über präsent. Am Anfang träumen alle davon, eines Tages zurückzukehren, dann wird ihnen eine nach dem anderen nach und nach klar, dass ihnen die Zeit ihres Lebens davon läuft, dass auch im Süden das Leben nicht mehr ist, wie sie es kennen. Es ist ein ständiges Sehnen nach einer Zukunft, die nicht kommt, weder die Zukunft im Süden, die anders wird, noch die Zukunft im Norden, deren Welt sich mit oder ohne Rocco und seine Brüder weiterdreht. „Erinnerst Du Dich, Vincenzo“, fragt Rocco gegen Ende des Films in einer melancholischen Rede über den Zusammenhalt der Familie und die Sehnsucht nach der Heimat, „wenn bei uns ein Haus gebaut wurde? Wie der Baumeister den Stein geworfen hat auf den Schatten des ersten Menschen, der daran vorüber ging. (…) Weil immer ein Opfer nötig ist, wenn ein Haus fest stehen soll und sicher.

Die Familie aus der südlichen Basilikata bringt ihre Opfer, damit auch in der Fremde ihr Verbund fest und sicher steht – ein Mensch stirbt, einer geht ins Gefängnis. Aber in der modernen, verregneten Welt hilft selbst der Aberglaube aus dem heimeligen Süden nicht mehr. Die Familie zerfällt.

Wertung: 6 von 7 D-Mark
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