Buchcover: John Irving – Das Hotel New Hampshire (1981)

Ein Roman über einen Hoteltraum
entpuppt sich als der perfekte Schmöker

Titel Das Hotel New Hampshire
(The Hotel New Hampshire)
Autor John Irving, USA 1981
aus dem Amerikanischen von Hans Herrmann
Verlag Diogenes
Ausgabe Taschenbuch, 597 Seiten
Genre Drama
Website john.irving.com
Inhalt

Die amerikanische Ostküste 1939. Mary Bates und Winslow Berry haben gerade die Highschool hinter sich und jobben im Hotel Arbuthnot-by-the-Sea. Sie sind begeistert von der Geschäftigkeit des Hotels und der Weltläufigkeit der Gäste.

Da ist der weitgereiste jüdische Schausteller Freud mit seinem Tanzbären Earl, der nur einer der vielen faszinierended Besucher ist. Und auch der kultivierte Hotelbesitzer Arbuthnot macht in seinem tadellosen weißen Jacket großen Eindruck auf die Jugendlichen vom Land.

In ihrer jugendlichen Unbekümmertheit beschließen sie, ein eigenes Hotel zu eröffnen. Freud, der nach Österreich zurückkehrt, überlässt den beiden Träumern seinen Tanzbär als Glücksbringer. Doch es kommt anders als geplant. Immer wieder stehen die beiden neuen Hindernissen gegenüber. Selbst ein Versuch, in Österreich als Hoteliers Fuß zu fassen, steht unter keinem guten Stern.

Schließlich kommen sie doch noch zu Geld und Wohlstand, allerdings auf ganz anderen Wegen …

aus dem Klappentext …

Was zu sagen wäre
Das Hotel New Hampshire

Träume sind Schäume, heißt es. Und man solle nicht mit seinem Kopf im Wolkenkuckucksheim hängen, sondern den Tatsachen auf der Erde ins Auge sehen, irgendwann müsse man den Ernst des Lebens als ständigen Begleiter akzeptieren. Heißt es.

John Irving macht uns auf 597 nicht anders als wunderbar zu bezeichnenden Seiten deutlich, dass das Quatsch ist; veröffentlicht hat er sein Buch 1981. Hier sind die Träume eines Mannes alles, was er hat. Und damit macht er seine ganze Familie glücklich. Na ja, stopp: Was man halt so unter "glücklich" versteht. Es geht nicht immer bergauf im Leben der Familie Berry, nur weil Vater Träume hat. Es werden Familienmitglieder ums Leben kommen, die Leser müssen mit schlechten Geschäften, Mobbing, Gruppenvergewaltigung und sogar einem Bombenanschlag umgehen. Aber die Berrys halten ihren Kopf doch immer über Wasser; selbst als zwei von ihnen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen, ist es der ausgestopfte Familienhund Kummer, der wegen anhaltender Flatulenzen hatte eingeschläfert werden müssen, der den Rettungsmannschaften an der Wasseroberfläche treibend, den Weg weist. Vater Winslow sagt „Wir Menschen sind doch bemerkenswert – wie wir lernen, mit allem zu leben. Wenn wir nicht durch das, was wir verlieren und vermissen, was wir wollen und nicht haben können, stark werden könnten, dann können wir nie stark genug werden, oder? Was sonst macht uns stark?

Das Leben erwächst aus Träumen

Vaters Träume machen sie stark, die manchmal als sowas wie der Gegner von außen fungieren, der die Familie enger zusammenbringt: „Der Traum ist die verkleidete Erfüllung eines unterdrückten, verdrängten Wunsches.“. Winslow träumte von Harvard. Und als er sich Harvard zusammengespart hatte und eingeschrieben war, träumte er davon, schnell mit dem Studium fertig zu werden, um mit seiner Frau Mary, mit der er schon drei Kinder hatte, weitere zu zeugen und eine richtig große Familie zu werden. und als das erfüllt war und nun jeder Cent wichtig war, träumte er davon, mit seiner Familie zusammen seine Lehrtätigkeit hinter sich zu lassen, und ein altes Schulgebäude in ein Hotel umzubauen. „Du nützt jede Gelegenheit, die Dir in der Welt geboten wird“, lässt der österreichische Schausteller und Bärenführer Freud Winslow eingangs schwören, „selbst, wenn Du zuviel Möglichkeiten hast. Eines Tages ist es nämlich aus mit den Gelegenheiten, verstanden?“ Und so geschieht es dann. Es ist ein Wunder dieser Familiengeschichte, die von der jüngsten Tochter Lilly immer wieder auch als „Märchen“ bezeichnet wird, dass es keine langen Diskussionen unter den Ehepartnern über die Machbarkeit der Pläne gibt. Das liegt vielleicht daran, dass wir das Jahr 1940 schreiben. Oder auch daran, dass Mary einst in einer wilden Nacht mit Bären, hässlichen Deutschen und einem Schwerverletzten dem lebensklugen Schausteller aus Wien das Versprechen abgab, ihrem künftigen Mann immer alles zu verzeihen.

Nüchtern betrachtet ist es aus wirtschaftlicher Sicht ein Wunder, dass die Familie durchgehalten hat. Das neu eingerichtete "Hotel New Hampshire" hat selten Gäste, die Bar lediglich ein paar Stammgäste aus der Stadt. Erzähler des Ganzen ist John, das dritte von fünf Kindern – Frank, Franny, John, Lilly und Egg. Und John ist noch keine 10 Jahre alt, als er von dem ersten Hotel erzählt; da sind die Erlebnisse an der Schule und die Zwistigkeiten mit den Geschwistern wichtiger als materielle Überlegungen. Und als wir es uns gerade behaglich eingerichtet haben mit dieser lebendigen Familie Berry und ihren kleinen und noch kleineren Piesackereien, wird Franny, die Johns beste Freundin und sowas wie die Anführerin erst der Geschwister, später der ganzen Familie ist, von drei Footballspielern in der Halloweennacht vergewaltigt.

Ein großer Erzählbogen, der bis in die Wiener Erlebnisse des Autors ausgreift

Es unterstreicht die erzählerische Qualität, diese Szene einzuleiten mit fröhlichen Teenagerscherzen, die die Schlinge des Grauens unmerklich enger ziehen, bis die Behaglichkeit im Sofa brutaler Kälte gewichen ist, um sich dann nachvollziehbar und glaubwürdig aufzulösen in einer Art, dass uns die Familie endgültig ans Herz wächst. Dieses große Erleben und Verarbeiten und viele kleine Erlebnisse werden sich im Laufe des Buche in Verhaltensweisen der einzelnen Charaktere wiederfinden. John Irving (Die wilde Geschichte vom Wassertrinker, "Garp und wie er die Welt sah", "Das Hotel New Hampshire", "Gottes Werk und Teufels Beitrag", "Owen Meany", "Zirkuskind", Witwe für ein Jahr, Die vierte Hand, "In einer Person", "Der letzte Sessellift") reiht nicht Episode an Episode, er malt den großen Bogen, der mit der letzten Seite nur zu Ende ist, weil der neue Bogen schon begonnen hat, von dem alle Figuren hoffen, dass jetzt nicht mehr Kummer und Unheil oben schwimmen.

Ihr zweites Hotel New Hampshire errichten die Berrys im Nachkriegs-Wien, auf das sie maximal schlecht vorbereitet sind, nachdem Frank, der Älteste, sie mit seinem literarischen Wissen nur über das Wien in der Wende zum 19. Jahrhundert beballert hat. Irving zitiert in diesem Buch seine Erlebnisse als Student in Wien, welches sich als Zentrum der KuK-Monarchie verortet. In Irvings Wien zwölf Jahre nach Kriegsende steht allein die Oper als Monument. Der Rest erscheint als Mahnmal für Juden zwischen Ruinen im Wiederaufbau; gleich nebenan gibt es die Straße der billigen Huren, in denen auch das zweite Hotel New Hampshire steht. Irvings Wien dreht sich um die Oper als Synonym einer seligen Walzer-Gesellschaft. 

Hollywood macht aus diesem Roman vier Film-Produkte

Er schreibt mit einzigartig nonchalantem Stil, nie gehässig, immer mit Sympathie für seine Figuren und einem freundlichen Blick auf die Weltgeschichte: „Die größte Gefahr [im Italien des Zweiten Weltkrieges] war, dass man betrunken jemanden erschoss, dass man erschossen wurde von einem Betrunkenen oder, dass man betrunken in die Latrine stürzte – was einem Oberst, den mein Vater kannte, tatsächlich passierte; bevor der Oberst aus seiner Lage befreit wurde, hatten ihm mehrere Leute auf den Kopf geschissen. Die einzige andere Gefahr bestand darin, dass man sich bei einer italienischen Hure eine Geschlechtskrankheit holte. Und das mein Vater weder soff noch hurte, kam er unbeschadet durch den Zweiten Weltkrieg.

In der Geschichte wird die jüngste Tochter, Lilly, zur Chronistin der Familie. Ihr Roman "Wachstumsversuche" entpuppt sich als Bestseller. Als dann Hollywood sich die Rechte sichert, wird aus den Wiener Jahren (dem zweiten Hotel New Hampshire) ein Kinofilm, aus dem ersten Drittel der Geschichte (das erste Hotel New Hampshire) eine Fernsehserie mit Potenzial auf Fortsetzungen über die weiteren Hotels New Hampshires. So reichhaltig ist der Kosmos, den John Irving zwischen zwei Buchdeckeln entfaltet: „Es ist einfach so in dieser Welt: Wenn Du Dir endlich mal bemerkenswert vorkommst, ist immer einer da, der sich nicht erinnert, Dich überhaupt je kennengelernt zu haben.

Rassismus, Liebe, Homophobie, Versöhnung, Vergewaltigung – Die ganze Bandbreite des Lebens

"Das Hotel New Hampshire", von dem es am Ende drei geben wird, weil Vater nie aufhört zu träumen, genau genommen, hat er nie angefangen, im Hier und Jetzt zu sein, bleibt immer ein bisschen der juvenile Kindskopf, der die richtige Frau an seiner Seite hat, mit der zusammen er fünf Kinder zu Prachtexemplaren von Menschen herangebildet hat, indem er ihnen ihre Freiheiten ließ, was Mutter ihm immer, wie versprochen, verzieh, ist eine gefühlvolle Familiengeschichte; oder, wie die Wiener Anarchisten sagen: „Amerikaner stürzen sich mit dem gleichen übertriebenen Eifer auf die Familie, mit dem sie sich auf ungesundes Essen stürzen. Die sind einfach besessen von der Idee der Familie.“ Dieses Buch er- und umfasst das Leben in seiner ganzen Fülle – absurd, komisch, melancholisch, es geht um Liebe, Hass und Grausamkeiten unter Schülern, Homosexualität und Rassismus sind ebenso  Thema wie Antisemitismus und sexuelle Gewalt, wir erleben Huren in ihrem Alltag sowie Anarchisten bei ihrem scheinbar sinnlosen Pamphlete schreiben und Anarchisten, deren Pamphlete sich als brandgefährlich erweisen. Und ein paar literarische Größen spielen auch eine Rolle. Der Roman erzählt vom großen amerikanischen Traum und seinem Scheitern und von Menschen, die trotz allem auf das Träumen nicht verzichten wollen.

Die Lektüre war eigentlich geplant als weiteres Exemplar meiner Reiseliteratur im März/April 2002 auf den Philippinen. Es spricht für die hohe Qualität meines damaligen Urlaubs, dass ich nicht dazu gekommen bin. Nun, 23 Jahre später habe ich mir "Das Hotel New Hampshire" wieder aus meinem Bücherstapel gezogen und das Buch zwischen dem 21. und 23. Oktober 2025 regelrecht verschlungen.

Die Verfilmung mit Jodie Foster ist okay, es kommt zwar Irvings irrsinnige Erzählwut rüber, die wahre Tiefe des Buches aber, Herz und Seele, die tränenrührenden Szenen erfasst er nicht!